Editorial zu diesem Schwerpunkt
Außer Spesen nichts gewesen?
Der Deutsche Bundestag unternimmt einen neuen Anlauf, DDR-Unrecht zu bereinigen. Gelingt es endlich die Opfer zu befried(ig)en?
Rehabilitierung, Entschädigung und Restitution sollen Diktatur-Unrecht beseitigen. Vor allem sollen sie aber den Betroffenen Genugtuung verschaffen, ihre Integrität wiederherstellen, Erlittenes, soweit das geht, korrigieren oder zumindest entschädigen. So wollte es schon das 1990 erste freigewählte Parlament der DDR (Artikel Hacker). Interessant ist der Vergleich, wie unsere östlichen Nachbarn, hier Tschechien, (K. Pinerová) diese Fragen regelten.
Was aber, wenn diese Botschaft trotz dreijahrzehntelanger Bemühung bei den Betroffenen nicht wirklich ankommt? Trotz über 20 Milliarden Euro, die seit der Vereinigung in die Aufarbeitung des DDR-Unrechts geflossen sind, sind die Betroffenen großenteils unzufrieden. Das hat die erste gesamtdeutsche Repräsenativumfrage gezeigt, die die Europa-Universität Viadrina im Rahmen eines Forschungsprojektes 2022/3 ergeben. (C. Booß, J. Weberling)
Die Umfrage zeigt, oft sind es weniger die Gesetze und Entschädigungssummen an sich, die Missfallen erregen, sondern das komplizierte, oft mehrstufige und für viele undurchsichtige und wenige wertschätzende Verfahren. Wer z.B. für einen Freiheitsentzug rehabilitiert werden will, muss zum Gericht gehen. Wer eine Entschädigung haben will, muss bei einer Behörde einen neuen Antrag stellen. Obwohl Bundesrecht, benannte jedes Bundesland dafür eigene Ämter. Sie entscheiden bis heute nach unterschiedlichen Kriterien. Wer mit einer Ablehnung unzufrieden ist, Widerspruch einlegt oder gar klagt, muss sich auf jahrelange Wartezeiten einstellen. Ganz schlimm wird es, wenn Gutachter einzuschalten sind. Die sind rar und nicht immer kompetent und wohlwollend. Dieser Hürdenlauf kann im schlimmsten Fall retraumatisierend wirken. Wie die hintereinander geschalteten Verfahren aussehen, beschreibt in einem juristischen Vortrag aus einem Forschungsprojekt an der Europa-Universität Viadrina Natalie Kowalczyk.
Rehabilitierung und Entschädigung, im gegenwärtigen Sprachgebrauch auch Transitional Justice, das Recht des Übergangs, sollen eigentlich nach Krieg oder Diktatur auch den Rechtsfrieden in einer Gesellschaft herstellen. Doch davon scheint man in der Bundesrepublik immer noch entfernt. Die Debatten um die Opferentschädigung gleichen manchmal eher der Rhetorik von Verteilungskämpfen der Gewerkschaft. Da wird der mangelnde Inflationsausgleich angeprangert; kritisiert, dass diese Gruppe mehr bekommen hätte als die andere; neue Gruppen fordern ihr Recht. Diese zerfaserte Diskussion hat zwei Ursachen. Zum einen wird selten auf das schon Erreichte verwiesen und über das gesellschaftliche Ziel, die Rechtsbefriedung nachgedacht. Zum anderen liegt es an den vielen offenen Baustellen und Umwegen vor allem in der Umsetzungspraxis. Diverse Länderumfragen haben immerhin gezeigt, dass die Opferentschädigung hilft zu verhindern, dass solche Menschen unter die Armutsgrenze fallen. (J. Bertels)
Einige Mängel hat die Bundes-Opferbeauftragte aufgelistet und an das Ohr des Bundestages getragen. Dieser regte eine Novellierung der Rehabilitierungsgesetze an. Der erste Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums liegt vor. (Referentenentwurf) Doch gibt es schon zahlreiche Kritiken, Anregungen, Änderungswünsche insbesondere von Opferverbänden (Stellungnahmen), aber auch von Abgeordneten aus dem Deutschen Bundestag. (Stellungnahmen).
Zu klären war und ist, warum nach so langer Zeit überhaupt eine Gesetzesüberarbeitung nötig ist und ob sie in die richtige Richtung weist. (J. Beleites)
Einen Missstand, mit Skandalpotential macht H-und-G.info erstmals öffentlich: Bund und Länder haben in gemeinsamen Sitzungen seit 1994 darüber gesprochen, wie sie die Gesetze anwenden wollen. Manche Verwaltungen handeln entsprechend, doch die Protokolle dieser Gespräche wurden bisher nie veröffentlicht. Zum Nachteil der Betroffenen, wie wir finden. Daher haben wir die Protokolle online gestellt. (Geheimprotokolle)
Um die Mühen der Praxis besser verstehen zu können, hat H-und-G.info Experten, Praktiker und Betroffene gebeten, über ihr Wissen zu schreiben.
Schwierig zu ermitteln und zu belegen sind bis heute psychische und gesundheitliche Folgen. Wirklich belastbare Daten gibt es in der Forschung bisher nicht. Untersuchungen zeigen aber, dass man ein breiteres Spektrum von Spätfolgen beachten sollte, als bisher angenommen. (J. Frommer, K. Schindler)
Da das Recht kompliziert ist und Recht zu bekommen umso mehr, ist es für die Betroffenen wichtig, entsprechende Beratungsstellen anlaufen zu können. Allein das war in den vergangenen 30 Jahren für viele ein Problem. Dabei entstand die erste Beratungsstelle schon unmittelbar nach der Besetzung der Stasi-Dienststellen Ende 1989 in Suhl. (M. Montag) Mit der Schaffung von Landesbeauftragten wurden viele Beratungsangebote verstetigt. (demnächst Artikel Rachowski). Sehr schwierig war es lange in Brandenburg, wo mangels eines Landesbeauftragten, den Opfern ein Orientierungsangebot fehlte. (demnächst Artikel Rüdiger/Kruczek). Obwohl rund die Hälfte der SED-Opfer heute im „Westen“, der Altbundesrepublik wohnt, ist dort die Beratungsinfrastruktur eher unterentwickelt. Wir fragten vor Wochen drei Kommunen in drei Bundesländern, wie DDR-Opfer sich beraten lassen könnten. Wohl symptomatisch: Eine konkrete Antwort bekamen wir trotz mehrfacher Mahnung von keiner Kommune. (Regensburg, Hannover, Koblenz). Regensburg verwies immerhin auf ein Landesamt, was Monate später mit einem knappen Text auf antwortete. Die bayerische Einrichtung eines Fallmanagements zur Unterstützung von Antragstellern scheint allerdings eine sehr sinnvolle Einrichtung.
Schwierig gestaltete sich auch das Verhältnis zwischen den Rehabilitierungs- und Entschädigungsbehörden in den Ländern und den Experten bei den Landesbeauftragten. Oft und lange war es ein Nicht-Verhältnis. Erst langsam haben Verwaltung und Betroffenenexperten einander angenähert, wie das Beispiel Brandenburgs zeigt. Dort wurde beispielsweise eine sinnvolle Regelung zur Auswahl von Gutachtern gefunden. (Brandenburg)
Die Repressionsmethode „Zersetzung“, wurde erstmals in den Rehabilitierungsgesetzen von 2019 explizit erwähnt, und im Prinzip eine Einmalzahlung von 1500,- gewährt. Experten waren schon bei der Einführung skeptisch. (J. Planer-Friedrich). Widerspruch hat der Fall Dombrowski hervorgerufen, nachdem die Entschädigung von Zersetzung abgelehnt wurde, weil der Betroffene im "Westen" lebte. (Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft)
Für die Betroffenen, die aus den Grenzgebieten vertrieben wurden, ist jetzt jenseits der Vermögensentschädigung eine ähnliche Einmalzahlung wie bei der Zersetzung vorgeschlagen worden. Die Betroffenen haben jahrzehntelang darum gekämpft, dass endlich anerkannt wird, dass es sich hier um eine politische Schikane und keine „normale“ Enteignung handelte. Auf Grund der eigenen Erfahrung sind sie der Meinung, dass der jetzige Vorschlag dem dreifachen Unrecht (Aussiedlung, Ansiedlung, Diskriminierung) nicht ausreichend gerecht. (I. Bennewitz)
Umstritten ist auch die Frage, wie mit staatlichem Doping umgegangen werden soll, seit die alte Dopinghilfe-Regelung schon ausgelaufen ist. Dass die Betroffenen, insbesondere seinerzeitige Minderjährige, nicht über die schädlichen gesundheitlichen Folgen hinreichend aufgeklärt wurden, ist unstrittig. Sind sie deswegen aber schon Opfer politischer Verfolgung? Die Rechtsauffassungen (M. Frölich) sind so konträr wie die politischen Auffassungen. Auch das Thema Zwangsadoption ist immer wieder gut für Medienschlagzeilen. Wissenschaftler warnen jedoch vor schrillen Tönen. Sie sprechen vorsichtiger vom politisch motivierten Kindesentzug. (demnächst Artikel Wiethoff) Spät wurde erkannt, dass auch die Heimkinder, speziell die in Einrichtungen, die der Umerziehung von nicht konformen Jugendlichen dienten, in die Fragen der Rehabilitierung und Entschädigung einbezogen werden müssen. Neben den „klassischen“ Entschädigungsregeln wurden inzwischen auch in allen ostdeutschen Bundesländern Härtefallfonds eingerichtet, um helfen zu können, wo es geboten erscheint, wo die Regeln der Entschädigungsgesetze aber nicht greifen. (demnächst Artikel).
Vergessen wird oft, dass auch die Wiedereinsetzung in Vermögensverhältnisse zu den Bemühungen gehört, Unrecht möglichst zu korrigieren. Eines der kompliziertesten Felder war und ist der Ausgleich für die Bauern, die in LPGn kollektiviert wurden. Erstmals ist des dem Forschungsprojekt an der Europauniversität Viadrina gelungen, ausreichend Akten zum Thema zusammenzutragen, um sich ein Bild machen zu können. (demnächst Artikel Hengst/Hamann)
Eine private Form der Entschädigung wird seit Jahren für die „Sklavenarbeit“ gefordert, die politische Gefangene leisten mussten und von deren Billigstlöhnen Westfirmen profitierten. Er zeichnen sich langsam Fortschritte ab. (demnächst Artikel Keup)
Wie immer greifen wir auch unter der Rubrik „Kontroverse“ (Wahlen in den neuen Bundesländern) aktuelle Themen auf und rezensieren Neuerscheinungen, die von Interesse sein könnten.
Christian Booß und Martin Böttger