Absprache hinter den Kulissen

Erstmals veröffentlicht H-und-G.info die Protokolle des Bundes-Justiz-Ministeriums (BMJ) zu den Rehabilitierungsgesetzen

Protokolle der Bund-Länder-Treffen von 1994–2021, chronologisch und nach Stichworten

Zusammengestellt von Niklas Schnellbacher, Text von Christian Booß

Erstmals veröffentlichen wir hier in H-und-G.info die Protokolle aus den Gesprächen, in denen sich das Bundesjustizministerium (BMJ) mit den Bundesländern über die Rehabilitierung und Entschädigung von DDR Opfern verständigt hat. Bisher waren sie intern, also faktisch geheim. Viele Opfer und ihre Vertreter wissen nicht einmal, dass es sie gibt. Das wollen wir ändern. Denn viele rätseln darüber, warum Landesbehörden in manchen Fällen so entscheiden und nicht anders. Diese Protokolle geben in manchen Fällen Auskunft darüber. Beispielsweise heißt es da: „Allein wegen der Zwangsaussiedlung könne die Einmalleistung [für Zersetzung..] nicht beansprucht werden.“[1] Was in Berlin besprochen wurde, übernehmen manche Landesangestellte bei Einzelentscheidungen.

Eigentlich ist es ein Skandal, dass derartige Entscheidungshilfen bisher nicht öffentlich gemacht wurden. Denn die Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetze sind teilweise sehr abstrakt formuliert, manchmal schwer verständlich und an sich kaum geeignet, MitarbeiterInnen in den Verwaltungen und Betroffenen eine wirkliche Orientierung zu geben, wie im konkreten Einzelfall zu entscheiden ist. Konkret: Steht dem Betroffenen Geld zu oder nicht?

Ungewöhnlich genug, hat die Bundesregierung auch 35 Jahre, nachdem das SED-Regime von seinen Bürgern hinweg gefegt wurde, es unterlassen Verwaltungsvorschriften für die Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetze zu erlassen. Solche Verwaltungsvorschriften sollen den Verwaltungen einfache Handreichungen geben, damit jeder besser versteht, wie und was der Gesetzgeber gemeint hat. Aber derartige Verwaltungsvorschriften fehlen. Das hat einen einfachen Grund. Da für die Gesetze der Bund, die Umsetzung die Länder zuständig sind, ist die Abstimmung einer Vorschrift schwierig. Dieser Aufwand wurde bisher gescheut, zum Nachteil der Betroffenen. Offenbar wurde die Aufgabe, die nach 30 Jahren immer noch keinen Abschluss gefunden hat, unterschätzt. Eines der daraus erwachsenen Probleme: Die Entscheidungen weichen in den Bundesländern oft voneinander ab. Warum, wer, wie entscheidet ist intransparent. Die Repräsentativumfrage der Europa-Universität Viadrina hat 2022/23 gezeigt, dass gerade diese Intransparenz für Unzufriedenheit unter den Opfern der SED-Diktatur sorgt.

Nun war es schon den Juristen im Bundesjustizministerium (BMJ) in den 1990er Jahren aufgefallen, dass Gesetze ohne Anwendungsvorschrift dazu führen, dass die Entscheidungen der einzelnen Länder sehr weit auseinandergingen. Das war unbefriedigend. Um gegenzusteuern lädt das BMJ seit 1994 in unregelmäßigen Abständen die Experten der Länder zum Fachgespräch nach Berlin. Besonders häufig in den 1990er Jahren, bis 2021 insgesamt 25 mal. Bei diesen Gesprächen wird gefachsimpelt, wie die Gesetze umzusetzen sind. Dass es manchmal nicht nur um juristische Fragen geht, sondern auch um Kostenbegrenzung, hat ein Insider der 1990er Jahre bestätigt.

Die Protokolle zeigen. Manches blieb kontrovers, aber in vielen Fällen einigten sich Bund und Land, wie der Gesetzgeber dies oder jenes gemeint haben könnte, welche Fallgruppe einen Entschädigungsanspruch hat und welche nicht. Deutlich wird das beim Anspruch auf Entschädigung für Zersetzungsopfer, die seit 2019 explizit vom Bundestag in das Verwaltungsrehabilitierungsrecht aufgenommen worden ist. So, wie viele Opfer das gefordert hatten. Doch Manche von ihnen dürften sich wundern, dass ihr Begehen abgelehnt wurde. Denn die Bund-Länder-Gruppe hat mehrere Fallgruppen mehr oder minder ausgeschlossen: „Bei Maßnahmen durch einen Betrieb, die nicht hoheitlich gesteuert worden sind, fehlt es an der Hoheitlichkeit der Maßnahmen.“ Zweifel an der Zersetzung gibt es laut Absprache auch „bei Maßnahmen gegen Ausreiseantragsteller. Bei diesen Maßnahmen sei es darum gegangen, die Menschen von der Antragstellung abzuhalten. Bei der Zersetzung muss es aber um „mehr’ gehen, indem die Persönlichkeit angegriffen wurde.“

Um einem Missverständnis vorzubeugen. Die Länder müssen sich an diese Absprachen nicht halten. Anders als Verordnungen, die verbindlich sind, sind die BMJ-Protokolle nur Orientierungshilfen. Allerdings haben sie, wenn alle sich einig waren, durchaus Gewicht. Die Praxis zeigt, dass die Länder sich oft daran orientieren. Die BMJ-Protokolle haben also faktisch oft die Wirkung von Verwaltungsvorschriften, obwohl sie es nicht sind. Das schlimme daran: Diese heimlichen Regeln sind nicht öffentlich. So fehlt den Opfern und ihren Beratern, die Information, die die Verwaltung hat. Das sollte im Rechtsstaat eigentlich nicht sein, wo die Leitlinien des Staates der öffentlichen Kontrolle unterliegen müssen. In der bisherigen Geheimniskrämerei liegt also durchaus Sprengstoff und Skandalpotential.

Wenn nämlich die Verwaltung auf dem Weg der Protokolle eine falsche oder fachlich problematische Empfehlung bekommen hat, wird das bisher nur bei Einzelfällen deutlich. Die Betroffenen müssen, wenn sie nicht einverstanden sind, dann Widerspruch einlegen und klagen und das dauert, Jahre. Wenn die Protokolle oder besser noch Verwaltungsvorschriften öffentlich wären, könnten sie umgehend von Experten und Politikern auf ihre Stimmigkeit hin diskutiert und gegebenenfalls geändert werden. Das Beispiel der Ablehnung von Zersetzungsanträgen macht dies deutlich:

Die Behauptung der Protokolle, dass es im Betrieb keine Zersetzung geben konnte, weil von Betrieben keine hoheitlichen Maßnahmen ausgingen, geht an der DDR-Wirklichkeit vorbei. Die Trennung in hoheitliche und wirtschaftliche Entscheidungen ist in einem System, dass auf Staatsbetrieben beruht, sinnfrei. Leiter von staatlichen Betrieben waren Angestellte oder zumindest angeleitet von Industrieministerien und vergleichbaren Institutionen, zudem SED-Nomenklaturkader und mussten den Willen der Partei umsetzen. Am Beispiel der Ausreiseantragsteller konnte gezeigt werden, dass es nach dem Willen von Staat und Partei zu allererst die Betriebsleiter waren, die diese Menschen von ihrem Ausreisewunsch abbringen oder andernfalls mit Versetzung und Entlassung schikanieren sollten.[2] Einer öffentlichen Fachdiskussion dürfte die Ablehnung von betrieblichen Mobbing dieser Art daher kaum standhalten.

Ebenso scheint es nicht plausibel Ausreiseantragsteller von Ansprüchen auf Einmalzahlung für Zersetzung dadurch auszuschließen, weil es nur darum gegangen [sei], die Menschen von der Antragstellung abzuhalten“ Es müsse auch darum gehen, dass „die Persönlichkeit angegriffen wurde“. Dem steht entgegen, dass die Entscheidung über die eigenen Aufenthalt im Prinzip ein Grundrecht ist. Wenn mit Schikanen und Drohungen willkürlich in dieses Recht eingegriffen wird, ist das ein Angriff auf die freie Entscheidung eines Einzelnen. Dessen freier Wille soll dadurch gebrochen werden. Wer behaupte, dass das kein Angriff auf die Persönlichkeit, also Zersetzung ist?

Die Liste der problematischen Präjudizien in den geheim gehaltenen BMJ-Protokollen ließe sich fortsetzen. Es gibt aber auch Abstimmungen, deren Kenntnis den Betroffenen nützen könnte.

So genügt „für den Fall, dass Beweise nicht beigebracht werden könnten, die Glaubhaftmachung“ durch die Betroffenen. Angesichts der Unmöglichkeit für manche Sachverhalte Akten zu finden, ist dies eine deutliche Verbesserung zugunsten der Opfer.

Zum zweiten wird festgehalten, dass Betroffene bei Zersetzung die „Leistung auch mehrfach beanspruchen“ können. Voraussetzung ist, dass es sich um deutlich zeitlich wie inhaltlich getrennte Sachverhalte handelt.

Unverständlich ist, warum Bund und Länder den Betroffenen dieses Entgegenkommen vorenthalten, was die Antragstellung erleichtern und chancenreicher machen könnte.

Nicht zu Unrecht haben viele Opfer den Eindruck, dass ihre Anträge lebensfern entschieden werden. Das hat seine Ursache auch darin, dass bei den BMJ-Runden Verwaltungsexperten aus Bund und Land anwesend sind, überwiegend vermutlich Juristen, jedenfalls keine Historiker, Mediziner, Psychologen, die den neuesten Fachstand einbringen könnten. Die Landesverwaltungen, das hat die Forschung des LdV-Projektes „Rechtsfolgen des SED-Unrechts im vereinigten Deutschland“ gezeigt, haben auch spät und zögerlich bis heute den Fachverstand der Landesbeauftragten für die Folgen der Kommunistischen Diktatur gesucht. Anders als bei den Fällen von Stasi-belasteten Landesbediensteten. Dort wurden z.B. in Berlin Experten des Landesbeauftragten in schwierigen Fällen regelmäßig konsultiert, um ein fachgerechtes, ausgewogenes Urteil zu fällen. Warum es eine analoge Praxis bei Rehabilitierungs- und Entschädigungsfragen bis heute nicht gibt, ist unverständlich. Sinnvoll und längst überfällig ist es, endlich Verwaltungsvorschriften für die Rehabilitierungs- und Entschädigungsgesetze zu erlassen. Die anstehende Novellierung wäre – 35 Jahre nach der friedlichen Revolution – ein guter Anlass, die Verwaltung damit zu beauftragen.


[1] Doc 24. Protokoll vom 11. März 2020

[2] Booß, Christian: NJ Gab es in DDR-Betrieben Zersetzungsmaßnahmen, die als Rehabilitierungsfall anzuerkennen sind? – Die Rolle der Betriebsleiter bei der Bekämpfung von Ausreisewilligen