Der schwierige Weg der Wiedergutmachung bei Zwangsausgesiedelten
Von Inge Bennewitz[1]
Der schwierige Weg zur Wiedergutmachung – Man könnte auch fragen: eine unendliche Geschichte? Oder späte Rache des SED-Regimes?
Vor fast genau vier Jahren haben Dieter Dombrowski (Bundesvorsitzender der UOKG) und ich eine Petition an den Deutschen Bundestag eingereicht. Sie ist noch nicht abschließend bearbeitet. Wir bitten darin um eine einmalige finanzielle Zuwendung für jeden einzelnen der Opfer der Aktion „Festigung“, die Zwangsausgesiedelten, die zu Unrecht seelischen Schaden durch die grausame Vertreibung aus dem Sperrgebiet, die elende Zwangsansiedlung im Hinterland der DDR und die darauffolgenden Reglementierungen und Schikanen erlitten haben. Letztere könnte man auch staatlich organisierte „Zersetzung“ nennen. Zwei Tage nach unserer Vertreibung am 3. Oktober 1961 im Rahmen der Aktion „Festigung“ konnte man in der SED-Presse den Grund dafür lesen: Wir waren „unverbesserliche Elemente“, unsere Nachbarn wollten mit uns nichts mehr zu tun haben.
Nun zum Jahr 1990: schon im Januar, noch zu DDR-Zeiten wurde an gesetzlichen Regelungen zur Wiedergutmachung gearbeitet. Im September trat ein Rehabilitierungsgesetz, von der ersten frei gewählten Volkskammer kurz vor der Deutschen Einheit beschlossen, in Kraft. Die Zwangsausgesiedelten waren darin ausdrücklich erwähnt, das Gesetz kam aber nicht mehr zur Anwendung.
Ende April 1990 trafen sich über 2.000 Betroffene in der Erfurter Thüringenhalle. Viele schilderten, was sie erlitten hatten und verwandelten den Saal in ein wahres Meer von Träne. Dieser Kongress führte zur Gründung des Bundes der in der DDR Zwangsausgesiedelten (BdZ).
Der Begriff Zwangsaussiedlungen fand dadurch 1994 Eingang in das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Eine Zwangsaussiedlung im Sinne dieses Gesetzes liegt nur vor, wenn individuelle politische Verfolgung vorlag. Nach diesem Kongress begann ein riesiger Medienrummel über dieses in der DDR verleugnete und im Westen inzwischen vergessene Thema. Es war die Rede von 50.000 Betroffenen. Viele hofften auf eine schnelle Wiedergutmachung. Aber das Gegenteil trat ein.
Bald darauf saßen Ost und West an einem Tisch und handelten den Einigungsvertrag aus. Als die Reihe an die Zwangsausgesiedelten kam, fragte die westdeutsche Seite die ostdeutsche: „Wisst Ihr wie viele es gewesen sind?“ Es herrschte Ratlosigkeit. Die Bundesregierung gab aber fast jährlich eine Broschüre heraus:
Darin ist seit 1962 die Zahl der Betroffenen für 1952 fast richtig mit 8.000 und die von 1961 mit 2.000 etwas zu niedrig angegeben. In Folge derartiger Unklarheiten wurden in Artikel 17 des Einigungsvertrages, der eine zügige und angemessene Entschädigung für politisch Verfolgte vorschreibt, die Zwangsausgesiedelten nicht mehr wörtlich erwähnt. Der 2020 verstorbene Jurist Wolfgang Clement war in seiner Funktion als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag dabei und schrieb mir, Artikel 17 sei auch für unsere Zwecke – die Wiedergutmachung – anwendbar. Er war nicht der Einzige, der mir sagte, es falle ihm schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass beide Vertreibungsaktionen keine Enteignungsaktionen wären. Denn nur 30 Prozent der betroffenen Familien hatten kein Grundeigentum.
Im Juli fuhr ich in meine alte Kreisstadt Ludwigslust, um die Restitution unserer in „Volkseigentum“ überführten Immobilien zu sichern. Mein Vorsprechen dauerte nicht lange. Nachdem ich erklärt hatte, dass wir 1961 aus Dömitz vertrieben, 1962 enteignet wurden und in der DDR geblieben waren, sagte die Dame mir gegenüber: „Für sie machen wir gar nichts.“ Sie wusste, dass wir in der der DDR entschädigt worden waren. Im Warteraum saß ein Mann, der 1952 betroffen und kurz darauf in den Westen geflüchtet war. Seinen Antrag hat sie zum Glück angenommen, obwohl es weder das „Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen“ − noch die entsprechenden Ämter gab. Mit Vermögensfragen wollten wir uns heute eigentlich nicht beschäftigen, sie sind aber der Schlüssel um verstehen zu können, warum das eigentliche Unrecht, die Vertreibung, bis heute keine Würdigung durch eine angemessene Entschädigung erfahren hat.
Der Begriff „Offene Vermögensfragen“ entstand 1972 im Zusammenhang mit dem Grundlagenvertrag. Über Vermögensfragen, die durch die Teilung Deutschlands und die damit verbundene Fluchtbewegung entstanden waren, konnte man sich damals nicht einigen, sie blieben offen. Das „Gesetz zur Regelung offener Vermögensfragen“ wurde erst 18 Jahre später nach der Deutschen Vereinigung in Kraft gesetzt. Es enthält im Gegensatz den Rehabilitierungsgesetzen keine Ausschlussklauseln, jeder Funktionär von Gestapo oder MfS konnte sein Vermögen unbesehen zurückbekommen, bzw. eine Entschädigung. Das Vermögensgesetz sollte teilungsspezifische Vermögensverluste ausgleichen: „Darunter fallen auch Maßnahmen auf Grund unlauterer Machenschaften, z. B. Machtmissbrauch, Korruption, Nötigung. Grundsätzliche Rückübertragung soll erfolgen bei entschädigungsloser oder zu gering entschädigter Enteignung.“ Jedem war klar, dass bei den Zwangsaussiedlungen der Tatbestand der Nötigung vorlag, weil die Betreffenden gezwungen wurden, Hab und Gut zu verlassen. Das wurde 1993 durch die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft bestätigt. Es war eine Nötigung Einzelner zur Abschreckung der Dagebliebenen. Ein Staatsanwalt sagte mir damals: „Das muss ja gekommen sein, wie der Knüppel aus dem Sack“ und nannte die Zwangsaussiedlungen massenhafte, staatlich organisierte Gewaltkriminalität“.
Um den Schein von Rechtmäßigkeit zu erwecken, hat die SED – im Gegensatz zu allen anderen politisch motivierten Enteignungen die von „Festigung“, der Vertreibung aus dem Grenzgebiet, betroffenen Enteigneten mit Geld entschädigt. Bedauerlicherweise wurde ihnen dadurch als einziger Gruppe der direkte Zugang zum Vermögengesetz verwehrt. Stattdessen benötigen sie erst einen Rehabilitierungsbescheid. Dazu wurde auch geprüft, ob der Antragsteller gegen Grundsätze der Menschlichkeit verstoßen hatte. War das der Fall (z. B. wenn er IM der Stasi war), wurde ggf. kein Bescheid erteilt. Den Betreffenden blieben dadurch sowohl Restitution als auch Entschädigung verwehrt.
Das Rehabilitierungsgesetz trat ohnehin erst im Juli 1994 in Kraft, die ersten Reha-Bescheide konnten erst ab Mitte 1995 erteilt werden. Diese mussten dann beim Vermögensamt vorlegt werden, damit ein Restitutions-Antrag gestellt und bearbeitet werden konnte. Jahr um Jahr verging. Es drohte ein Verkauf, Mieten, Pacht und Fruchtgewinn gingen verloren. Außerdem wurde das Vermögensgesetz immer mehr zum Nachteil der Alteigentümer verändert, 1992 gravierend − der Ausgleich für Wertminderung, z. B. durch Gebäudeabriss − fiel weg. Als die ersten Anträge 1995 dann schließlich beschieden wurden, waren die 1990 großzügig angelegten Fördertöpfe zum Aufbau Ost bereits leer.
Dann kam der 29. Jahrestag der Aktion „Festigung“, der 3. Oktober 1990. Kurz Angeregt durch den schrieben 140 Personen eine Petition, baten darin um Entschädigung für das uns zugefügte Vertreibungsunrecht und verlangten die Restitution unserer geraubten Immobilien. Beides wurde abgelehnt.
Justizminister Kinkel schrieb mir: „Rechtsgrundlage für die beiden Großaktionen war die ‚Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands‘ vom 26. Mai 1952.“ Der Ministerrat der DDR hatte diese Verordnung als direkte Reaktion auf die Unterzeichnung des Deutschlandvertrages (am selben Tag in Bonn) erlassen und die Volkskammer einfach übergangen. Die Vertreibung verstieß außerdem gegen Artikel 8 der Verfassung der DDR: „Unverletzlichkeit der Wohnung, das Recht, sich an einem beliebigen Ort niederzulassen […] sind gewährleistet.“ Das wurde aber erst 1968 geändert.
Dennoch schrieb Justizminister Kinkel weiter, seien diese Enteignungen nach damals geltendem DDR-Recht, nach dem Verteidigungsgesetz, abgewickelt worden. Dem steht entgegen, dass unsere Wohnungen und Häuser nicht abgerissen oder umfunktioniert, sondern anschließend wieder normal bewohnt wurden.
Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen hatte wegen solcher Fakten in einem 1953 erschienenen Weißbuch,[2] das 1987 gerade noch einmal nachgedruckt worden war, Festgehalten: Die Evakuierungsmaßnahmen „hatten in keiner Weise in der Verordnung vom 26.5.52 eine gesetzliche Grundlage.“
Streit gab es auch immer wieder um die Zahl der Betroffenen. Das Bundesministerium der Justiz (BMJ) beharrte auf der Zahl 50.000 und stellte die von unserem Verrein verbreitete Zahl von 12.000.
Im Potsdamer Archiv des Ministerrates bekam ich einen Ordner und fand am Beispiel meines Heimat-Kreises Ludwigslust des Rätsels Lösung. Ohne nähere Bezeichnung standen dort nicht nur mir bekannte Namen von Zwangsausgesiedelten, sondern auch die von Funktionsträgern, wie Schul- oder Bankdirektoren usw., die nur ihres Postens enthoben worden waren. Der Bund hatte sie der Zahl der Zwangsausgesiedelten fälschlich hinzugerechnet.
Eine genaue Zahl der Zwangsausgesiedelten lässt sich nicht angeben, das gilt insbesondere für die Aktion 1952. Viele Familien sind unmittelbar nach Verkündung des Aussiedlungsbefehls geflüchtet. Wurden sie dazu gezählt? In Tabellen aus dem SED-Parteiarchiv, z. T. mit Tintenstift geschrieben, stimmt keine der ausgerechneten Summen für die fünf Länder. Wurde falsch addiert oder falsch in die Spalten eingetragen? Unsere Recherchen haben 8.331 ergeben. Für die Aktion „Festigung“ 1961 sind die Zahlen (3.175 am 3. Oktober und 162 in der Probeaktion in Mecklenburg am 30. August) vermutlich zu niedrig, da viele Familienangehörige nicht in den Listen stehen, z. B. auch nicht die ehemaligen Vorsitzende der Aufarbeitungsinitiative Zwangsaussiedlung (AIZ) Elisabeth Freyer, ihr Bruder und ich.
Am 15. Februar 1992 fand in Magdeburg ein BdZ-Kongress statt. Justizminister Kinkel versprach dort ein zweites SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, in dem alle Ansprüche der Zwangsausgesiedelten geregelt werden sollten, auch vermögensrechtliche.
Schon damals kursierte ein Entwurf dieses Gesetzes, und ich wurde vor dessen Tücken gewarnt. Deshalb führten wir ein Gespräch mit dem BMJ. Unser Ziel bestand darin, die Vermögensfragen aus diesem Gesetz herauszulösen. Dessen Hauptautor, Klaus Wimmer, lehnte dies ab. Sein Argument lautete, dadurch werde eine einheitliche Materie auseinandergerissen. Die Tücken dieser als „Einheit“ behandelten Materie (Gesundheit, Beruf und Vermögen) haben sich leider erst viel später bei der Ablehnung entsprechender Petitionen gezeigt.
Im Juli 1994 trat das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz in Kraft und regelte für alle anerkannten politisch Verfolgten Folgeansprüche: gesundheitlicher, beruflicher und − leider auch vermögensrechtlicher Art.
Weil damals in der Kürze der Zeit eine Vielzahl von Gesetzen geschaffen werden musste, wurden auch grobe Fehler gemacht, die in der Eile nicht überblickt wurden. Wer seinen Grund und Boden zurückhaben wollte, musste z. B. auch die gesamte Entschädigung aus DDR-Zeiten zurückzahlen, auch die für Vieh. Ein Landwirt aus Lütkenwisch/Elbe bekam für eine Kuh namens Elli 2.250 Mark Entschädigung. Insgesamt zahlte der SED-Staat auf ein für ihn angelegtes Konto bei der Deutschen Bauernbank 142.188 Mark ein. Da er jährlich nur 3.000 Mark abheben durfte, war das Konto 1990 noch nicht leer.
Elli war natürlich nach 29 Jahren längst in einen sozialistischen Kochtopf gewandert. Das wertvolle Rindvieh hat am Rande einer Veranstaltung in der Evangelischen Akademie Berlin, an der auch Experten des BMJ bzw. des Bundestages teilnahmen, für nicht enden wollendes Gelächter und damit für eine schnelle Änderung dieser Bestimmung gesorgt. Kurz nach der Veranstaltung hieß es, die Kuh Elli sei vom Eis.
Leider werden ähnlich gravierende Fehler bis heute nicht erkannt, weil die Zusammenhänge komplizierter sind. Die DDR-Entschädigung mit Geld war – wie gesagt − der Grund dafür, dass die von der Aktion „Festigung“ Betroffenen Enteigneten den Umweg über das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz gehen mussten. Es ist kaum zu glauben aber wahr: Das wird heute als Entschädigung für die komplette Gruppe der Zwangsausgesiedelten hingestellt.
2007 erhielt ich Kenntnis von einer Studie der Universität Greifswald, der zufolge Zwangsausgesiedelte und Zersetzungsopfer psychisch mit derselben Häufigkeit erkranken wie Opfer politischer Haft, nämlich 60,8 Prozent. Das ist in einem UOKG-Kongressbericht vom 24. September 2011 mit dem Titel: „Zwangsausgesiedelte als Opfer von Mauer und deutscher Teilung“ beschrieben. In einer Tabelle und darunter sind rund 30 Zersetzungsmethoden aufgelistet, viele treffen auf die Zwangsausgesiedelten zu. Die Forscher, Prof. Freyberger, Prof. Spitzer u. a., kritisierten die bisherigen Entschädigungsleistungen als unzureichend und mahnten bessere an – sowohl im Interesse der Betroffenen als auch unserer Gesellschaft. Sie schrieben: „Aber nicht allein für den Einzelnen, sondern auch für die Gesellschaft insgesamt entscheidet der Umgang mit den Opfern politischer Verfolgung mit darüber, wie die Überwindung der deutsch-deutschen Teilung und der SED-Diktatur gelingen kann.“
2007 fand in Görlitz ein Bundeskongress der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mit den Opferverbänden statt. In einer Resolution forderten Horst Schüler (ehem. UOKG-Vorsitzender) und die Verbände die Einführung einer Opferpension.
Drei Monate später trat das entsprechende Gesetz in Kraft – ohne die Zwangsausgesiedelten. Kurz darauf wendete sich ein Betroffener an den Bundestagsabgeordneten Stephan Hilsberg (SPD) und fragte an, ob es möglich sei, die Zwangsausgesiedelten in die Opferpension einzubeziehen. Stefan Hilsberg ließ vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages prüfen, ob verfassungsrechtliche Bedenken dagegen bestehen. Das war nicht der Fall. Im Mai 2014 richteten dadurch mehrere Betroffene, darunter Elisabeth Freyer und ich, eine Petition an den Bundestag und forderten darin die Einbeziehung in die Opferpension.
Bei einem Bundeskongress in Fulda unterzeichneten die Teilnehmerdazu eine Resolution. Diese Petition an den Bundestag wurde abgelehnt u. a. mit der Begründung, uns aufzunehmen, widerspräche den Einführungsklauseln für die Opferpension. Danach müssen Betroffene Leben und Gesundheit im Kampf um Freiheit und Demokratie in der DDR aufs Spiel gesetzt haben. Sieht man sich die Begründungen für Zwangsaussiedlungen und die Praxis der politischen Strafjustiz an, hätte man auch zu dem Ergebnis kommen können, dass Zwangausgesiedelte auf diese Weise bedroht waren.
Im Dezember 2014 schrieben Zwangsausgesiedelte eine neue Petition und forderten darin eine Einmalzahlung für jeden Betroffenen. Sie wurde mit einigen völlig unzutreffenden Argumenten abgelehnt. Ein Argument aus Schwerin lautete: beide Vertreibungsaktionen seien wie „Aktion Rose“ 1953 an der Ostsee Enteignungsaktionen gewesen. Ein anderes Argument lautete: mit dem Zweiten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz, das lediglich drei Arten von Folgeschäden ausgleichen kann, sei genug Entschädigung geleistet.[3] Vom Ausgleich für Gesundheitsschäden haben laut zuständigen Ämtern und Ruth Ebbinghaus, einer profilierten Gutachterin, maximal 40 Zwangsausgesiedelte profitiert, die Anerkennungen von beruflichen Nachteilen lassen sich an einer Hand abzählen. Das sind zusammen rund 0,5 Prozent.
Von den über dieses Gesetz zu regelnden vermögensrechtlichen Folgeansprüchen, ist nur ein kleiner Teil der enteigneten Zwangsausgesiedelten betroffen. Das Tragische daran ist, dass der gemeine Entschädigungs-Trick der SED, der nichts weiter als den Schein von Rechtmäßigkeit erwecken sollte, sich negativ auf die ganze Gruppe ausgewirkt hat, auch auf die ohne Vermögen. Es wird immer wieder zur Abwehr von Ansprüchen benutzt, auch bei unserer Petition von 2018.
Am 11. September 2019 gab es eine hoffnungsvolle Anhörung im Rechtsauschuss des Deutschen Bundestages zu einem sechsten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz. Alle Sachverständigen, bis auf einen, bemängelten die unzureichenden Regelungen für die Zwangsausgesiedelten und forderten Verbesserungen für diese Gruppe. Ende 2019 trat das Gesetz in Kraft – ohne die Zwangsausgesiedelten.
Im Juni 2021 kam die Antwort auf unsere Petition vom 26. April 2018. In dem Schreiben steht fast dasselbe wie bereits zuvor: Die bereits geltenden Regelungen (Gesundheit, Beruf und Vermögen) seien sachgerecht und angemessen. Dennoch wurde die Petition an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) „als Material“ überwiesen und den Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Kenntnis übergeben − weil die Zwangsaussiedlungen beim Sechsten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz nur Randthema waren. Ein Vorschlag zur Abhilfe lautete hier, Entschädigung z. B. durch einen Härtefallfonds. Dem Wortsinn nach kann ein Härtefall-Fonds aber niemals eine Lösung für eine ganze Betroffenen-Gruppe sein. Zudem muss nach den Regelungen bereits existierender Fonds der Betreffende in prekären Verhältnissen und gleichzeitig in einer Notlage sein, um einmalig Geld für die Anschaffung eines Hilfsmittels zu bekommen.
Ich komme zum Schluss:
In einer TV-Dokumentation des MDR von Sven Stephan, sagt ein ehemaliger DDR-Vopo, „Ungeziefer“ habe keine Unschuldigen betroffen. Derartige Aussagen sind – wie ich finde – eine fatale Folge einer völlig verfehlten Wiedergutmachungspolitik gegenüber dieser Verfolgtengruppe. Diese Aussage ist kein Einzelfall und droht, uns heute wieder mundtot zu machen.
Wenn ein Justizminister schrieb, unsere Vertreibung und Enteignung seien rechtmäßig gewesen, wurden wir mit unseren Fakten als unglaubwürdig dargestellt. Unverantwortlich war es auch dem BdZ vorzuwerfen, er hätte mit falschen Zahlenangaben die Rehabilitierung verzögert. Denn die Fehlerquelle lag beim damaligen BMJ. 1962 enteignete Zwangsausgesiedelte schlechter zu entschädigen als z. B. in Hamburg lebende Erben ostdeutschen Eigentums– das muss geändert werden.
Eine Vertreibung ist ein völkerrechtlich geächteter Akt, der eine ähnlich einschneidende Wirkung hat, wie eine zeitlich begrenzte Haft. Wenn rund 61 Prozent der Haftopfer und ebenso rund 61 Prozent der Zwangsausgesiedelten psychisch erkranken, aber anders als bei Haftopfern kaum Zwangsausgesiedelte wegen psychischer Folgeschäden anerkannt werden, Wenn es kaum Entschädigungen für berufliche Folgeschäden gab; wenn die von der Aktion „Festigung“ betroffenen Enteigneten und mit DDR-Geld Entschädigten im Vergleich zu teilungsbedingt Enteigneten vermögensrechtlich eher bestraft als entschädigt werden, dann ist der Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt und der Gesetzgeber verpflichtet, den Sachverhalt ernsthaft neu zu prüfen.
Es gilt nicht nur, die Verfolgung zu Zeiten der SED-Diktatur auszugleichen, es gilt auch, 32 Jahre Hinhalten und Brüskieren wieder gut zu machen. Besonders unsere Eltern haben zu schwer an diesem Unrecht gelitten, als das wir auf halber Strecke aufgeben würden.
[1] Aufarbeitungsinitiative Zwangsaussiedlung (AIZ)
[2] Über „Die Sperrmaßnahmen der DDR vom Mai 1952“ von mindestens 147 Seiten Umfang herausgegeben.
[3] Die Resultate aus diesem Gesetz für die Zwangsausgesiedelten sind in der vierten Auflage des Buches „Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze“ von Inge Bennewitz und Rainer Potratz beschrieben.