Keine Entschädigung für Verfolgung im Westen?

Der Fall Dombrowski

von Nina Schmoldt (UOKG)

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit dem Urteil vom 14. Dezember 2023 (BVerwG 8 C 9.22) erstmals gerichtlich festgestellt, dass Opfer von Zersetzungsmaßnahmen, die außerhalb des Beitrittsgebiets durchgeführt wurden, keinen Anspruch auf Rehabilitierung nach § 1a Abs. 2 Satz 1 VwRehaG haben.

Das Beitrittsgebiet umfasste alle heutigen neuen Bundesländer und den Ostteil Berlins.

§ 1a Abs. 2 Satz 1 VwRehaG sieht vor, dass Opfer von Maßnahmen, die mit dem Ziel der Zersetzung erfolgten, eine einmalige Leistung in Höhe von 1.500 € erhalten.

Zersetzungsmaßnahmen waren eine besondere Methode des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), die verstärkt ab den 70er eingesetzt wurde und sich gegen vermeintliche oder tatsächliche politische Gegner richtete. Die Eingriffe sollten die Betroffenen „zersplittert, gelähmt, desorganisiert und isoliert“ zurücklassen (BStU 1976, MfS, AGM, Nr. 198, Bl. 354).

Kläger im Prozess vor dem Bundesverwaltungsgericht war der Bundesvorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft (UOKG) Dieter Dombrowski.

Er hat in der DDR gelebt und wurde 1974 wegen versuchter Republikflucht und staatsfeindlicher Verbindungsausnahme zu vier Jahren Haft verurteilt.

Nachdem ihn die Bundesrepublik freigekauft hatte, siedelte er im Dezember 1975 nach West-Berlin über.

Er beteiligte sich dort an zahlreichen Protestaktionen gegen das SED-Regime, insbesondere war er in der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte tätig, die in der DDR-Verfolgte betreute. Seine politische Betätigung hielt ihn auch in West-Berlin weiterhin auf dem Radar des MfS. Im Laufe der Jahre wurde er Opfer kontinuierlicher Zersetzungsmaßnahmen. Die Stasi nutzte unterschiedlichste Diskreditierungs- und Diffamierungsmethoden - von gefälschten Briefen bis zu anonymen Drohungen.

Im Mai 2020 beantragte Herr Dombrowski wegen der ihm erfahrenen Zersetzungsmaßnahmen Einmalzahlung im Rahmen der verwaltungsrechtlichen Rehabilitierung. Mit Bescheid vom 8. Oktober 2020 vom Landesamt für Gesundheit und Soziales wurde der Antrag abgelehnt.

Nach erfolglos durchgeführtem Widerspruchverfahren wurde seine Klage vor dem Verwaltungsgericht Berlin am 19. November 2021 abgewiesen.

Die eingelegte Revision wurde zunächst nicht zugelassen, aber nach erfolgreicher Nichtzulassungsbeschwerde wurde das Revisionsverfahren fortgeführt.

Die Revision wurde am 14. Dezember 2023 schließlich für zulässig, aber unbegründet erklärt.

Das Gericht beruft sich insbesondere auf drei Argumentationsstränge: die Gesetzessystematik des Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetzes, die Entstehungsgeschichte des neu eingeführten Paragrafen und die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Ungleichbehandlung der Betroffenen.

§ 1a Abs. 2 VwRehaG wurde Ende 2019 durch eine Gesetzesänderung neu eingefügt. Das Gericht argumentiert, dass der Gesetzgeber mit dieser Änderung keinen eigenständigen unabhängigen Anspruch, sondern nur einen Folgeanspruch schaffen wollte. Begründet wird das insbesondere mit dem Kontext der umliegenden Normen (vgl. Urteil Rn. 12).

Das Gesetz normiert nämlich zunächst in § 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG den Grundtatbestand für die Rehabilitierung von rechtsstaatswidrigen Verwaltungsentscheidungen. Der Wortlaut spricht hier von hoheitlichen Maßnahmen deutscher behördlicher Stellen im Beitrittsgebiet aus der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zum 2. Oktober 1990.

Der neu geschaffene Rehabilitierungstatbestand knüpfe jedoch an die bereits bestehenden Normen an und erweitere sie lediglich auf Maßnahmen der Zersetzung, die zuvor nicht erfasst wurden (vgl. Urteil Rn. 16).

Deshalb sei auch die Begrenzung aus § 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG auf solche Maßnahmen, die im Beitrittsgebiet ergangen sind, auf den neuen Anspruch anzuwenden.

Zutreffend ist, dass sich aus der Gesetzessystematik des § 1a Abs. 2 VwRehaG kein Hinweis darauf ergibt, dass die Norm auch für Maßnahmen außerhalb des Beitrittsgebiets gelten solle. 

Dennoch muss beachtet werden, dass der Gesetzgeber in seiner Begründung zur Änderung des VwRehaG den neuen Anspruch für Betroffene von Zersetzungsmaßnahmen als „Auffangtatbestand“ gedacht hatte (vgl. Bundestagsdrucksache 19/14427, S. 30).

Dies ergibt sich aus der gezielten Wortwahl. Im Gegensatz zu den anderen Ansprüchen wird auf den Begriff der „hoheitlichen Maßnahme“ verzichtet. Diese abweichende Formulierung und die Intention des Gesetzgebers einen Auffanganspruch zu schaffen, deutet darauf hin, dass die neue Norm nicht auf Maßnahmen im Beitrittsgebiet beschränkt sein muss.

Das Bundesverwaltungsgericht untermauert jedoch auch mit der Entstehungsgeschichte des neuen Tatbestandes die Verneinung der Ausdehnung des räumlichen Anwendungsbereichs. Die Idee der Norm sei eine Verbesserung der Rehabilitierung für Betroffene, die nicht in den in § 1 Abs. 1 Satz 1 VwRehaG genannten Rechtsgütern verletzt worden war, aber trotzdem durch Maßnahmen beeinträchtigt wurden, die mit tragenden Grundsätzen des Rechtsstaates unvereinbar seien.

Im Urteil wird durch Auflistung einzelner Zersetzungsmethoden darauf verwiesen, dass diese „typischerweise“ nur im Beitrittsgebiet hätten ergehen können, da das MfS außerhalb mit staatlichen Sanktionen konfrontiert gewesen wäre (vgl. Urteil Rn. 22).

Aus der finalen Begründung der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz wird jedoch deutlich, dass es der Wille des Gesetzgebers war die Zersetzung aufgrund ihres Einsatzes und ihrer Zwecksetzung als rechtsstaatswidrig zu kategorisieren, nicht abhängig davon wo sie ergangen sei (vgl. Bundestagsdrucksache19/14427, S. 30).

Klaus Wimmer konkretisiert in seiner Kommentierung zum Verwaltungsrechtlichen Rehabilitierungsgesetz das Verständnis einer opferfreundlichen Auslegung. 

Er spricht sich dafür aus, den Begriff der „hoheitlichen Maßnahme“ so zu verstehen, dass sie eine deutsche Behörde im Beitrittsgebiet erlassen haben muss. Zentrales Kriterium sei die Möglichkeit die Maßnahme der DDR zuzurechnen (Wimmer, Klaus: Verwaltungsrechtliches Rehabilitierungsgesetz. Kommentar. Berlin 1995, S. 93).

Zersetzungsmaßnahmen in West-Berlin können durch die Dokumentierung in den Akten des MfS unproblematisch der DDR zugerechnet werden.

Das Gericht untermauert seine Argumentation außerdem mit einem geltenden völkerrechtlichen Grundsatz. Die Zersetzungsmaßnahmen des MfS außerhalb des Beitrittsgebiets hätten nach dem völkerrechtlichen Territorialprinzip nur im eigenen Hoheitsgebiet Geltung beanspruchen und dort durchgesetzt werden können (vgl. Urteil Rn. 18).

Das Territorialprinzip besagt, dass alle Personen, die sich auf dem Hoheitsgebiet eines Staates befinden, dem Recht und der Staatsgewalt dieses Staates unterliegen. Die Ausübung von Hoheitsgewalt auf dem Territorium eines anderen Staates verletzt dessen Souveränität (Bussche v.d./Voigt: Konzerndatenschutz, Rn. 33).

Es erscheint nicht plausibel den Maßnahmen der MfS ihre Geltung außerhalb des Beitrittsgebiets aufgrund dieses völkerrechtlichen Grundsatzes abzusprechen.

Die Zersetzung stellt eine rechtstaatswidrige Maßnahme dar, die ihre Rechtstaatswidrigkeit nicht verliert, weil sie im Hoheitsbereich eines anderen Staates ausgeführt wird.

Die Taten des MfS unter den Schutz des Völkerrechts zu stellen, erscheint im Hinblick auf den stetigen Bruch des Völkerrechts durch die Maßnahme der Zersetzung nicht schlüssig.

Im Urteil wird außerdem auf die verfassungsrechtliche Relevanz der Norm eingegangen.

Womöglich handelt es sich bei der Beschränkung des Anwendungsbereichs um eine Verletzung des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG.

Danach muss „Gleiches“ grundsätzlich auch gleich behandelt werden. Eine Ungleichbehandlung sieht das Grundgesetz nur in gerechtfertigten Fällen vor.

Das Gericht legt dar, wieso eine Ungleichbehandlung im vorliegenden Fall sachlich gerechtfertigt sei (vgl. Urteil Rn. 24).

Die Betroffenen im Beitrittsgebiet seien den Zersetzungsmaßnahmen schutz- und wehrlos ausgeliefert gewesen. Die Möglichkeiten die politisch Verfolgten zu „zersetzen“ seien vielfältiger und intensiver, weil das MfS im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik sehr viel kalkulierter und vorsichtiger agieren musste.

Die Möglichkeit sich jederzeit den Einwirkungsmöglichkeiten des MfS zu entziehen, die den Menschen in West-Berlin prinzipiell gegeben war, sei ein ausschlaggebender Grund, weshalb die beiden Opfergruppen heute anders behandelt werden müssten.

Hier verkennt das Gericht die Vorgehensweise von Zersetzungsmaßnahmen. Das Besondere an der Zersetzung ist, dass es sich um einen Prozess handelt, der die Betroffenen im Stillen handlungsunfähig machen sollte.

In den allermeisten Fällen erfahren Betroffene erst nach Einsicht in ihre Stasi-Akte, dass Misserfolge in ihrem Leben Ergebnis staatlichen Einwirkens waren (vgl. Drucksacke 20/11750 – Opferbeauftragte SED Evelyn Zupke, S. 18).

Die Aussage, dass Betroffene außerhalb des Beitrittsgebiets stärker vor den Maßnahmen geschützt gewesen seien, überzeugt nicht.

Außerhalb der DDR haben sie nach der Ausreise oder Flucht erstmalig das Gefühl vermittelt bekommen, dass sie dem Regime entkommen seien. Das Vertrauen in diese neue Sicherheit in der Annahme hier mehr Stabilität zu erfahren, aber parallel still diffamiert zu werden, vermittelt womöglich einen noch viel höheren Unrechtgehalt.

Es erscheint außerdem zweifelhaft Betroffenen eine Entschädigung zu verwehren, weil die Zersetzungsmaßnahmen außerhalb des Beitrittsgebiets vorsichtiger erfolgen mussten und durch die ausländischen Behörden hätten entdeckt werden können.

Dass die Zersetzung außerhalb des Beitrittsgebiets überhaupt stattfinden konnte, ist Ergebnis eines effektiven Machtapparates. Dies ist etwas, das der Rechtsstaat heute nicht durch die Beschränkung des räumlichen Anwendungsbereichs belohnen sollte.

Obgleich die Begründung des Urteils auf sinnvollen Erwägungen beruht, so verkennt das Bundesverwaltungsgericht dennoch zentrale Ungereimtheiten. Die Begrenzung des räumlichen Anwendungsbereichs stößt hinsichtlich des Sinns und Zwecks des neu eingeführten Entschädigungstatbestandes und seiner verfassungsrechtlichen Bedeutung auf Bedenken.

Das Urteil hatte erstmals die Möglichkeit sich mit dieser ungeklärten Rechtsfrage zu beschäftigen und hat sich für eine opferunfreundliche Auslegung entschieden.

Entschädigungsansprüche in Fällen der grenzüberschreitenden Zersetzung zu verneinen, sorgt für die Benachteiligung einer Personengruppe, die dem System der Zersetzung genauso zum Opfer gefallen ist, wie die Menschen im Beitrittsgebiet.

Die Diskussion rund um das Urteil zeigt, dass eine gesetzgeberische Klärung dieser Streitfrage durch eine klare Verankerung im Gesetz längst überfällig ist.

Das Urteil kann in ganzer Länge auf der Seite des Bundesverwaltungsgerichts gefunden werden.