Die Komplexität der Langzeitfolgen von politischer Traumatisierung

von Kris Per Schindler, M.Sc. und Prof. Dr. med. Jörg Frommer1

Für ehemalig politisch Inhaftierte in der DDR ist die Auseinandersetzung mit dem Erwerb von Entschädigungsleistungen für gesundheitliche Folgeschäden auch mehr als 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung noch immer aktuell.In der Praxis zeigen sich bis heute geringe Anerkennungsquoten bei den Anträgen auf Entschädigung gesundheitlicher Folgeschäden nach politischer Haft (Schindler, 2024). Nach häufig mehrjährigen Verfahren bestehen die zentralen Ablehnungsgründe darin, dass eine Traumatisierung durch die politische Haft bestritten wird oder die Einschätzung der Symptomatik als unabhängig von der Traumatisierung erfolgt (Frommer et al., im Druck). Die Langzeitfolgen der strafrechtlichen und nicht-strafrechtlichen repressiven Praktiken in der DDR sowie der medizinische, juristische und gesamtgesellschaftliche Umgang damit, sind anhaltend Gegenstand der Forschung. Neben der Erweiterung des bestehenden Wissens über die Auswirkungen des SED-Unrechts, zeigen aktuelle Untersuchungen den weiterhin existierenden Forschungsbedarf anhand zahlreicher Leerstellen auf (z. B. Maslahati et al., 2022; Strauß et al., 2024).

In der Psychotraumatologie zählen die politisch motivierten Traumatisierungen, wie bspw. politische Haft, zu den man made Typ-II-Traumata (Maercker, 2013 [1997]). Seit der Aufnahme der Posttraumatic stress disorder (PTSD) in das DSM-III im Jahr 1980, die auf eine lange Tradition eines Kategorisierungsversuchs verweist (Jongedijk et al., 2023), werden die gesundheitlichen Folgen politischer Inhaftierung und anderer repressiver Praktiken primär unter der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)subsumiert. Bisherige Forschungsarbeiten haben gezeigt, dass die Folgen jedoch ein breiteres Spektrum umfassen und sich in psychischen, somatischen und psychosomatischen Langzeitfolgen niederschlagen (Frommer et al., im Druck).

Grenzen der Posttraumatischen Belastungsstörung

Für die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung einer PTBS besteht bei ehemals politisch Inhaftierten in der DDR eine Häufigkeit von 30 Prozent (Maercker und Schützwohl, 1997). Diesezeigt sich auch im Längsschnitt unter Berücksichtigung der Verlaufsdifferenzierungen: »chronisch«, »resilient«, »verzögert«, »remittiert«, »wechselnd«(Maercker et al., 2013, S. 75). Während zu Beginn primär eine dissoziative Symptomatik besteht, findet sich im Verlauf ein »Symptomprofilwandel« mit verstärkter Hyperarousal-Symptomatik wie bspw. Reizbarkeit und Wut (ebd., S. 77f.). Die politische Haft und das Erleben entwürdigender repressiver Praktiken gehen zudem mit dem Risiko einer Chronifizierung verschiedener Symptome einher (Maercker et al., 2000). Zentral ist der Verlust des Urvertrauens und dessen Auswirkungen. Diese bestehen in Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur und führen zu persistierendem Misstrauen, pessimistischer Grundhaltung, Verbitterung und sozialem Rückzug sowie einer paranoiden Weltsicht (Frommer et al., im Druck). Die Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur wirken sich negativ auf die intersubjektive Beziehungsgestaltung aus und können im Entschädigungsverfahren zu einem entscheidenden Nachteil für die Antragstellenden führen.Es offenbart sich an dieser Stelle eines der Defizite in der Praxis der Entschädigungsverfahren. Dieses besteht darin, dass der Zusammenhang von politischer Traumatisierung mit der intersubjektiven Beziehungsgestaltung und den sich daraus ergebenden Dynamiken im RahmenderEntschädigungsverfahren bisher zu wenig Berücksichtigung findet (Schindler, 2024).

Den Fokus allein auf PTBS zu legen,vernachlässigt zudem, dass Traumatisierungen durch politische Haft und nicht-strafrechtliche Repression die Auftretenswahrscheinlichkeit für sämtliche psychische Erkrankungen erhöhen (Frommer et al., im Druck). Komorbiditäten bestehen primär mit Angststörungen (bspw. soziale Phobie), Substanzmissbrauch und -abhängigkeit, Depression, Somatoformen Störungen und Psychosen (Maercker und Schützwohl, 1997;Maercker et al., 2013; Freyberger und Spitzer, 2015; Frommer et al., 2017; Spitzer et al., 2007). Im Rahmen des Verbundprojekts Gesundheitliche Langzeitfolgen von SED-Unrechtwidmen sich vier Arbeitsgruppen einem breiten Spektrum politischer Traumatisierung und dessen Langzeitfolgeschäden sowie den damit im Zusammenhang stehenden Themen der Beratung, medizinischen Versorgung und Begutachtung. Dabei liegt der Fokus vor allem auf psychosozialen und psychoneuroendokrinologischen Auswirkungen strafrechtlicher und nicht-strafrechtlicher Repression und geht über die Einengung auf die Diagnose PTBS hinaus (Strauß et al., 2024; www.uniklinikum-jena.de/sedgesundheitsfolgen/).

Bisher weniger erforscht sind somatische Langzeitfolgen, die sich vor allem auf spezifische Formen der Repression wie DDR-Leistungssport oder die Vergabe der Hepatitis-C-kontaminierten Anti-D-Prophylaxe beziehen, aber auch mediiert sind durch ungesunde Lebensführungen, wie bspw. Rauchen oder Bewegungsmangel. Dabei stehen Erkrankungen im Fokus, die den medizinischen Disziplinen der Endokrinologie, Immunologie, Kardiologie und Onkologie assoziiert sind (Frommer et al., im Druck). Aktuell forscht die Arbeitsgruppe um Stefan Roepke (Maslahati et al., 2022) im Rahmen einer breit angelegten Studie zu den psychischen und somatischen Folgen politischer Inhaftierung in der DDR, in der bspw. auch physiologische Parameter wie der Blutdruckwert erhoben werden. Die noch ausstehenden Ergebnisse deuten auf einen zentralen wissenschaftlichen Beitrag im Rahmen der Erforschung der Langzeitfolgen politischer Haft und deren transgenerationalen Auswirkungen hin.

Ausblick

In der International Statistical Classification of Diseases and  Related Health Problems (ICD) gibt es eine Veränderung hinsichtlich der Klassifikation von Traumafolgestörungen. Die Verankerung der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung (K-PTBS) (Hermann, 1992) in das ICD-11 stellt eine Verbesserung gegenüber der alleinigen Option der Vergabe einer PTBS dar, da sie neben den Kernsymptomen der PTBS auch die Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur nach einer Traumatisierung abbildet (Frommer et al.,im Druck). Ein Vorschlag stellt die Einteilung dieser in die Kriterien: Emotionsregulationsprobleme, Selbstkonzeptveränderungen, Probleme der Beziehungsfähigkeit und Dissoziationsneigung (fakultativ) dar (Hecker und Maercker, 2015). Die Kriterien umfassen u. a. Symptome wie selbstschädigende Verhaltensweisen, Verlust der Fähigkeit zum Vertrauen sowie dominierende Affekte oder Besonderheiten zwischenmenschlicher Interaktion und Beziehungsgestaltung (ebd.). Gegenwärtig befindet sich die Einführung der ICD-11 in Vorbereitung (BfArM, 2024).

Zusammenfassend ergibt sich für die Entschädigungspraxis, dass bei der Feststellung der gesundheitlichen Folgeschäden der Fokus nicht nur auf die unmittelbaren Folgen der Traumatisierung in Form von dissoziativen Symptomen gelegt werden sollte, sondern vor allem die mittelbaren und langfristigen Persönlichkeitsveränderungen und deren Auswirkungen auf die Beziehungsgestaltung berücksichtigt werden sollten. Eine Einengung auf psychische Folgeschäden vernachlässigt zudem die zahlreichen Komorbiditäten und möglichen somatischen Auswirkungen der über Jahrzehnte ausgeübten traumatisierenden Repressionspraktiken.

Literatur

Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), (2024). ICD-11. www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/_node.html (aufgerufen am 21.08.2024).

Freyberger, H. & Spitzer, C. (2015). Epidemiologische Daten zu den psychischen und körperlichen Folgen nach SED-Verfolgung. In: Neumann-Becker, B., Frommer, J., Regner, F., Knorr, S. (Hrsg.), SED-Verfolgte und das Menschenrecht auf Gesundheit, S. 100-113. Halle: Mitteldeutscher Verlag.

Frommer, J., Kuruçelik, A., Schindler, K. P. & Schoppe, F. (im Druck). Psychische und psychosomatische Langzeitfolgen von politischen Traumatisierungen durch die DDR-Diktatur: Eine Bilanz aus Klinik und Forschung. Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.

Frommer, J., Gallistl, A., Regner, F. &Lison, S. (2017). »Nach den Haftunterlagen war das Verhalten der Klägerin problemlos ...«. Rückendeckung für dieDiskreditierung von DDR-Unrechtsopfern durch richterliche Fehlbeurteilung in Sachsen-Anhalt: Ein Fallbericht. Trauma&Gewalt, 11(2). 130-146. DOI 10.21706/tg-11-2-130

Hecker, T.& Maercker, A. (2015). Komplexe Posttraumatische Belastungsstörungen nach ICD-10. Beschreibung des Diagnosevorschlags und Abgrenzung zur klassischen posttraumatischen Belastungsstörung. Psychotherapeut, 60, 547–56.DOI 10.1007/s00278-015-0066-z

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Maercker, A. (2013 [1997]). Posttraumatische Belastungsstörungen (4., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl.). Springer.

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Maercker, A., Fehm, L. &Raschka, H. (2000). Psychische Folgestörungen nach politischer Haft in der DDR: Verhaftungsgeschehen, Lebensgefahr und Mißhandlungen als Risikofaktoren chronischer Beschwerden. Zeitschrift für klinische Psychologie und Psychotherapie, 48, 172-184.

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Schindler, K. P.(2024). Szenische Informationen bei der Begutachtung gesundheitlicher Folgeschäden nach politischer Haft in der DDR. Eine Fallgeschichte. psychosozial, 47 (2), 49-62.

Spitzer, C, Ulrich, I., Plock, K., Mothes, J., Drescher, A., Gürtler, L., Freyberger, H. J. &Barnow, S. (2007). Beobachtet, verfolgt, zersetzt - psychische Erkrankungen bei Betroffenen nichtstrafrechtlicher Repressionen in der ehemaligen DDR. PsychiatPrax, 34, 81-86.

Strauß, B., Frommer, J., Schomerus, G. & Spitzer, C. (Hrsg.) (2024). Gesundheitliche Langzeitfolgen von SED-Unrecht. Gießen: Psychosozial-Verlag.


1 ehem. Otto-von-Guericke-Universität Medizinische Fakultät
Universitätsklinikum Magdeburg