Russland und seine ehemaligen Satelliten

H-und-G-Schwerpunkt 2/21

Einleitung und Inhalt

Schon einmal war ein Politiker von Deutschland nach Russland gefahren. Fünf Monate später hatte er die Macht in der Hand. Diesmal lief es anders. Alexej Nawalny wurde sofort in Gewahrsam genommen, als er im Januar russischen Boden betrat. Sicher, das Russland zu Lenins Zeiten war ein anderes als das heute. Aber die windig konstruierte Festnahme wirkte so, als wollte der Petersburger Wladimir Putin nervös verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Auch dem merkwürdig aus der Zeit gefallenen Potentat in westlicher Nachbarschaft zu Russland stärkt er ängstlich den Rücken. Wirkliche Souveränität sieht anders aus. Nawalny, obwohl in Haft ist offenbar eine echte Herausforderung für die auch auf Selbstbereicheung  beruhenden Elite. Die Geheimdienste und Sicherheitsorgane sind neben einzelnen mit ihm verbundenen Oligarchen und der Verwaltungsspitze das starke Zentrum in Putins Machtvertikaler.

Das deutsche Russlandbild ändert sich alle paar Jahre. Einst galten die „Russen“ v.a. in Ostdeutschland den einen als Befreier, die anderen sahen in den „Freunden“ Besatzer. Im Westen wurde das Bild der Sowjetunion im Zuge der Entspannungspolitik pragmatischer, im Osten nach der Invasion von Prag noch illusionsloser. Michael Gorbatschow machte schließlich Hoffnung und schaffte die Rahmenbedingungen für einen grundlegenden Wandel in Deutschland und Mittelost- und Osteuropa. In der Ära Jelzin wandelte sich anfängliche Bewunderung für den Radikalreformer in Beunruhigung über Anarchie und Oligarchie.

Foto: Ehemaliger Truppenstandort der sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf, Brandenburg

Der blasse Wladimir wurde zunächst unterschätzt. Als ehemaliger Geheimdienstler hatte er von Anfang an ein relativ geringes Ansehen. Kurioser Weise verschlechterte sich sein Image, je mehr es ihm gelang, Russland zu konsolidieren. Das lag auch an seinen Methoden. Im Inneren agierte er zunehmend autoritärer: Wenn es sein musste mit traditionellen Repressionsformen wie Lagerhaft; Illoyale im Ausland müssen wieder im ihr Leben fürchten, wie einst, als Spione mit vergifteten Regenschirmen aus der Kälte kamen. Nach außen agierte er mit einer Politik von Nadelstichen, Korrumpierungen, unter Ausnutzung von Abhängigkeiten, versuchte die abtrünnigen Teile der Sowjetunion so weit wie möglich zusammenzuhalten, zumindest ihr weiteres Abdriften zu verhindern. Den Westen versucht er auch mit Internet-Trollen, Desinformation, Korruption und neuerdings mit Anti-Corona-Medikamenten zu spalten. Da die Militär- und Wirtschaftsmacht der einstigen Weltmacht deutlich geschwächt ist, weicht Putin auf „fiese“ Methoden aus, die an sein altes Metier erinnern. Wirkungslos sind sie freilich nicht. Zwar meidet Putin angesichts der Schwäche möglichst offene kriegerische Konfrontationen und den Rückkehr zur Diktatur. Hybrider Krieg und gelenkte Demokratie sind mit seinem Namen verbunden. Aber der Niedergang zur eurasischen Mittelmacht, den westliche Strategen prognostizierten, ist zumindest optisch angehalten. In der Ukraine zeigte Putin seinen Nachbarn und dem Westen ihre Grenzen, im östlichen Mittelmeerraum, ob in Syrien oder Libyen, gehört er zu den wichtigsten Playern, Zypern ist ohnehin ein russischer Briefkasten. In Deutschland und Europa sieht man befremdet zu oder weg. Manche fordern mehr Sanktionen und Isolation, die freilich Russland in die Arme von östlichen Despotien zu treiben drohen. Andere fordern eine neue Ostpolitik, was manchmal reichlich romantisch nach einer Hoffnung zur Rückkehr in Willys Zeiten klingt.

Auch wenn man keinen Schmusekurs fährt, ist es schwer, Russland zu verstehen. Haben wir es mit einer nicht ausreichend demokratisierten Postdikatur zu tun; oder einem Rückfall in alte Zeiten oder einem neuen Autoritarismus, der politischen und wirtschaftliche Stabilität -entgegen der reinen Lehre des Westens-in einer erfolgreichen Diktatur light verbindet?

Zum Inhalt

Dieser Schwerpunkt macht den Versuch, sich zu vergegenwärtigen, womit wir es mit Russland heute zu tun haben. Wohin hat sich das System entwickelt? Wie geht es mit einen ehemaligen Satelliten der Sowjetunion um? Der eigene Umgang mit den Zeiten der stalinistischen bzw. Sowjetdiktatur ist nicht nur ein Symptom für die innere Verfasstheit. Geschichtspolitik ist zudem schon längst ein Instrument zur Konsolidierung der eigenen Macht im Lande Putins geworden. Sie betrifft auch die Aufklärung und Rehabilitierung von Deutschen, die seinerzeit in die Fänge der stalinistischen Justiz geraten sind. Das Bild von „unserer Russen“ war seit dem Krieg v.a. in Ostdeutschland starken Veränderungen ausgesetzt. Die Konflikte der letzten Jahre haben Deutschland und Russland nach dem Honeymoon in der Gorbatschow und Jelzin-Ära erneut entfremdet. Russland versucht jedoch inzwischen massiv durch ideologische Beeinflussung auch über die sozialen Medien die öffentliche Meinung im Westen in seinem Sinne zu verändern.

Die Auflösung des sowjetischen Großreiches verlief beunruhigend konfliktreich. Viele Auseinandersetzungen von Aserbaidschan bis Usbekistan scheinen so undurchsichtig, dass die Öffentlichkeit weitgehend kapituliert hat. Selten hat man den Eindruck, dass die Demokratie sich wirklich durchsetzt. Dennoch gibt es immer wieder beeindruckende Anläufe. Nach der Ukraine richtet sich der Fokus nun auf Belarus. Wer wäre nicht von den jungen Menschen und den mutigen Frauen an ihrer Spitze fasziniert, die nach Freiheit rufen. In der westlichen Medienwelt erscheint jedoch manches Aufbegehren in den ehemaligen Sowjetrepubliken übergroß. Offen bleibt oft die Frage, wie stark bzw. schwach die Systeme und auf der anderen Seite die Opposition wirklich ist.

Die Aufsätze und Textverweise sind ein Aufschlag, sollen eine Näherung erlauben, ein fertiges Bild sind sie nicht, schon gar nicht bieten sie ein Rezept. Dies muss weiteren Diskussionen vorbehalten sein.

Inhalt

 

Rußland

Was wurde aus den ehemaligen russischen Satelliten? Russlands Außenbeziehungen

Christian Werkmeister", Stiftung Ettersberg, Weimar

Link: Moskau sieht sich im Krieg mit dem Westen

Über was wir streiten. Zum Verhältnis Deutschland-Russland

von Gerald Praschl

Ein Virus kommt selten allein- Der Informationskrieg des Kreml gegen den Westen

Essay von Ulrich Clauß

Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur in der Russischen Föderation

von Anna Kaminsky (aus Buch)

Die Russische Rehabilitierung deutscher Opfer sowjetischer politischer Repressionen seit 1992. Eine Zwischenbilanz

von Bert Pampel/Valerian Welm

Belarus

Straßenproteste werden wieder zunehmen!

Interview mit Swetlana Tichanowskja

Väterchen schwächelt. Belarus in der Krise

von Christoph Becker, Zentrum Liberale Moderne, Berlin

Ukraine

Die Ukraine nach dem Euromajdan

von Vera Ammer, Memorial International

 

Deutsche Erinnerungen an "Unsere 'Russen'"

ehemalige DDR-Oppositionelle erinnern sich