Straßenproteste werden wieder zunehmen

Interview mit Swetlana Tichanowskaja1

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Wie muss man sich Ihr Leben im Exil vorstellen? Haben Sie ein Büro, Personal, Berater? Wie ist das Interesse von Regierungen, Medien an Ihrer Tätigkeit?

Wir haben ein Büro und ein kleines, aber sehr produktives Team, das die Themen Innenpolitik, Kommunikation, Außenpolitik abdeckt. Regierungen, die Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen und wissenschaftliche Institutionen zeigen eine sehr großes und ständig wachsendes Interesse an unserer Arbeit.

Foto: Swetlana Tichanowskaja bei einer Kundgebung 2020

Haben Sie Kontakt zu Ihrem Ehemann? Seine Verhaftung war ja einer der Gründe für die Proteste in Belarus.

Wir stehen durch einen Anwalt miteinander in Verbindung. Bedauerlicherweise ist eine direkte Kommunikation untersagt. Sergeis Inhaftierung war einer der vielen Gründe für den Protest. Der Hauptgrund sind der mangelnde Respekt der Regierung dem Volk gegenüber und dessen Missachtung Lukaschenko hat im Frühjahr keinerlei Maßnahmen eingeleitet, um die Bevölkerung vor der Corona-Pandemie zu schützen. Es war die Bevölkerung von Belarus selbst, die Hilfe für Ärzte organisierte, Schutzausrüstung heranschaffte, Schutzkittel nähte und Geld für diese Zwecke spendete. In dieser Phase stellte die Bevölkerung unter Beweis, dass sie eine große Fähigkeit zur Selbstorganisation und Solidarität untereinander hat; dass sie lernte belastbare Informationen zu erhalten; in dieser Zeit registrierte sich eine riesige Zahl von Menschen in Telegramm-Accounts und bei anderen sozialen Netzwerken. Als Folge davon vereinigte sich das Volk und, obwohl viele Kandidaten eingesperrt bzw. nicht zu den Wahlen zugelassen wurden, stimmten die Leute gegen Lukaschenko. Und jetzt fordern die Menschen, dass er zurücktritt. Er hat die Wahlen verloren, er muss zurücktreten.

Haben Sie Kontakt zur Opposition in Belarus, wie kommunizieren Sie und wie koordinieren Sie sich?

Mein Team und ich stehen täglich in Kontakt mit der Basisbewegung in Belarus und mit belorussischen demokratischen Kräften, die gezwungen waren, das Land zu verlassen und von außen zu agieren. Außerdem muss ich unterstreichen, dass wir uns nicht als Opposition verstehen, sondern wir sind es, die die Mehrheit stellen. Diese Überzeugung dass wir die Mehrheit sind und dass dem Volk der Sieg gestohlen wurde- ist die treibende Kraft für die Forderung des Volkes nach Neuwahlen.

Wir haben im Fernsehen Filme über Massenproteste in Minsk gesehen. Ungefähr zweidrittel der Bevölkerung lebt aber in kleineren Städten oder auf dem Land. Hat die Opposition auch dort einen Rückhalt, gibt es ein Netzwerk, eine Organisation?

Laut Einschätzungen von unabhängigen Beobachtern, gibt es buchstäblich in jeder kleineren Stadt mindestens eine neue Gruppe, in der sich die Leute eigenständig organisiert haben, unabhängig von jeglicher Hilfe oder gar Anleitung aus Minsk oder existierenden zivilgesellschaftlichen Vereinigungen oder politischen Kräften. Das ist einer der charakteristischen Merkmale der Protestbewegung, dass sie nicht nur auf die Hauptstadt beschränkt ist und dass es eine breite Unterstützung im ganze Land gibt.

Wir wissen von der friedlichen Revolution in der untergegangenen DDR: Die Leute tun sich gegen ein unmoralisches System zusammen, aber bald zerfallen sie in verschiedene Gruppen. Hat die Opposition in Belarus eine gemeinsame Agenda?

Einigkeit ist absolut wichtig für einen gemeinsamen Erfolg! Im Februar habe ich eine Strategie für einen gemeinsamen Sieg veröffentlicht, der mit allen wesentlichen politischen Kräften in Belarus diskutiert worden ist. Wir haben das Feedback berücksichtigt und sichergestellt, dass unser Ansatz alle mitnimmt (inclusive) und die Verschiedenheit (diversity) der Protestbewegung berücksichtigt. Alle Initiativen und Pläne, die an verschiedenen Zentren von Aktivitäten beschlossen oder umgesetzt werden, folgen dieser Strategie und treiben unser gemeinsames Anliegen in der gleichen Richtung voran. Täglich kommunizieren wir mit allen Kräften und koordinieren und unterstützen gegenseitig unsere Vorhaben und Aktionen.

Ein Zitat von Ihnen über die Straßendemonstrationen hat in der deutschen Übersetzung für Irritationen gesorgt. Was wollten Sie sagen. Sind derartige Protestformen erst einmal vorbei, wird es andere geben?

Ich habe damals gesagt -im Winter- sind die Straßenproteste deutlich zurückgegangen. Aber die Proteste haben nie aufgehört. Die Protestierenden mussten neue Strategien entwickeln und sich an die Gegebenheiten einer immer stärker wütenden Gewalt und Unterdrückung seitens der Regierung anpassen, die entschlossen ist, das Volk von der Straße zu verdrängen und jede sichtbare Präsenz zu unterbinden. Doch eine sehr große Zahl von Belarussen setzt die täglichen Proteste in den verschiedensten Formen, die sicherer sind, fort. Sie zeigen der Regierung damit, dass das Volk nicht aufgibt und es eine Macht ist, mit der man weiterhin rechnen muss. Jenseits von Demonstrationen zeigen Menschen die Nationalfarben, wo immer es möglich ist; manche boykottieren staatlich produzierte Waren oder Dienstleistungen, heben ihr Geld von staatlichen Konten ab, um auf diese Weise zusätzlichen Druck auf das Finanzsystem auszuüben. Und jetzt beginnt der Frühling und ich denke, Straßenproteste werden wieder zunehmen. Wir werden bald sehen, was passiert.

Wie stabil ist das herrschende System in Belrus? Werden wir Veränderungen erleben?

Wir wissen aus unseren Kontakten mit Leuten, die noch im öffentlichen Dienst beschäftigt sind, dass das System zunehmend zu kämpfen hat. Die Wirtschaft ist schwach und hat keinerlei Ressourcen zu wachsen. Die bewaffneten Kräfte werden gezwungen, Zivilisten zu bekämpfen, die Außenpolitik ist komplett zusammengebrochen. Die einzige Waffen, die Lukaschenko noch in der Hand hat, sind Propaganda und Gesetzesverschärfungen. Aber viele, die das umsetzen sollen, sind unzufrieden, dass sie auf Kosten ihrer Reputation missbraucht werden, um Lukaschenko an der Macht zu halten. Wir könnten feststellen, dass es eine zunehmende Zahl von undichten Stellen („leaks“) im System gibt und von absurden, schlampigen, ja kriminellen Anweisungen berichtet wird.

Es ist die Rede von eventuellen Verhandlungen mit der Regierung. Gibt es da Vorbedingungen?

Die Wichtigste ist, dass man erkennt, dass sich Belarus in einer Krise befindet, die sich fortlaufend verschärft. Die Regierung versucht geradezu verzweifelt den Eindruck zu erwecken, dass sie die Lage unter Kontrolle hat. Aber die Wirklichkeit ist eine andere, dass die Proteste täglich andauern, und dass das Volk seine Forderung nach demokratischem Wandel nicht aufgibt und die Entfremdung zwischen Regierung und Gesellschaft immer größer wird. Als einen ersten Schritt, um zu beweisen, dass sie es ernst meint, muss die Regierung die Gewalt beenden und die politischen Gefangenen freilassen. Das Hauptziel der Verhandlungen muss es sein, Bedingungen für die Durchführung freier und fairer Wahlen unter internationaler Kontrolle zu vereinbaren.

Welche Unterstützung erhoffen Sie sich aus Deutschland, von der Regierung wie der Zivilgesellschaft?

Menschenrechtsaktivisten, unabhängige Medien, Vereinigungen, Menschen, die Repressionen ausgesetzt waren, brauchen materielle Unterstützung. Von der Außenpolitik erwarten wir, dass Deutschland mehr Druck auf das Regime ausübt, Verhandlungen mit der Gesellschaft aufzunehmen, um die Krise zu lösen. Der Druck könnte von einzelnen Staaten, der EU oder internationalen Organisationen, wie der OSZE, der UN, dem Europäischen Rat ausgehen. Deutschland könnte mehr tun, um andere Staaten innerhalb und außerhalb der EU zusammenzubringen, dass sie ihre Politik koordinieren, um sie wirkungsvoller zu gestalten. Das Wichtigste ist, dass Deutschland zu seinen eigenen Zielen steht und seine eigenen Maßnahmen ergreift, bis die Regierung die Hauptforderungen erfüllt: Ende der Gewalt, Freilassung der politischen Gefangenen und Schritte zu einer Übergangsperiode, die zu freien und fairen Wahlen unter internationaler Beobachtung mit glaubwürdigen Ergebnissen führt, die die Bevölkerung von Belarus auch anerkennt.

Wie sehen Sie ihre eigenen Zukunft. Wann glauben Sie aus dem Exil nach Belarus zurückkehren zu können?

Ich würde gerne an jedem nur möglichen Tag nach Belarus zurückkehren um meine Kinder zu mir nach Hause zu holen und wieder mit meinem Ehemann zusammen zu sein. Sobald die Sicherheitslage dies zulässt, werde ich nach Belarus zurückkehren. Mein wichtigstes Ziel ist es, Wahlen für Belarus zu erreichen. Der Weg dahin, wird mir helfen, meine nächsten persönlichen Schritte zu entscheiden.

 

1 Interview und Übersetzung aus dem Englischen Christian Booß

Stand 25./26.3.2021