Über was wir streiten

-zum Verhältnis Deutschland-Russland

von Gerald Praschl1

 

Das sich das politische Verhältnis zwischen Deutschland und Russland so verschlechtert hat, beruht auf einer langen Vorgeschichte. Zu vielen Sachverhalten gibt es mehrere Versionen – ja geradezu zwei Welten paralleler Fakten. Versuch einer Bestandsaufnahme.

Als der damals scheidende Bundeskanzler Gerhard Schröder als „Berater“ bei einer dem russischen Staatskonzern Gazprom nahestehenden Pipeline-Firma anfing, die in der Folge die erste große Ostsee-Gaspipeline „Nordstream“ errichtete, galt das den einen als Vaterlandsverrat eines Ex-Kanzlers, den anderen als zukunftsweisender Schritt zu einer engeren Kooperation mit Russland zum beiderseitigen Vorteil. Dass Schröder, offenbar auf Putins Fürsprache hin, privat zwei russische Waisenkinder adoptierte, löste ebenfalls Irritationen aus. Putins anfangs sehr positives Image als Erneuerer Russlands war nämlich schon damals angeschlagen. Schockierend war, wie unerbittlich er gleich zu Beginn seiner ersten Amtszeit Krieg gegen Separatisten in Tschetschenien geführt hatte. Und wie brutal er 2002 das von tschetschenischen Terroristen besetzte Moskauer Dubrowka-Theater stürmen ließ, ohne Rücksicht auf die 850 Geiseln der Terroristen, von denen 130 umkamen, überwiegend durch das von der Polizei eingeleitete Gas.

 

2003 ließ Putin den russischen Unternehmer und Bürgerrechtler Michail Chodorkowski verhaften. Dieser hatte Putin öffentlich der Korruption beschuldigt. In einem Gerichtsprozess wurde Chodorkowski zu zehn Jahren Haft verurteilt. Westliche Analysten interpretierten das so, dass das Urteil andere russische Geschäftsleute davon abschrecken sollte, sich mit ihrem Geld in die Politik einzumischen, und sie dem Kreml gefügig machen sollte. Eine für Putin freundlichere Deutung ist die, dass Russlands Präsident mit dem Exempel allen anderen Oligarchen, von denen viele, genau wie Chodorkowski auch, ihre Milliarden unter höchst fragwürdigen Umständen erworben hatten, begreiflich machen wollte, dass sie sich künftig der russischen Staatsräson zu unterwerfen hätten. Als Diener des Staates. Und nicht, wie unter Putins Vorgänger Boris Jelzin, als dessen Herren.

 

2006 ließ ein bizarres Attentat auf den russischen Oppositionellen Alexander Litwinenko aufhorchen, der sich nach Großbritannien geflüchtet hatte. Agenten eines russischen Geheimdienstes vergifteten ihn dort mit Polonium, einem hoch radioaktiven und extrem seltenen chemischen Element, das nur in der Atomindustrie Verwendung findet. Und nur für Leute zu beschaffen ist, die eine Atommacht wie Russland als Auftraggeber haben. Auffälliger hätte man einen politischen Mord kaum begehen können. Es war wie eine Machtdemonstration nicht nur für Oppositionelle, sondern auch für den Westen: „Seht her, wir können alles machen, was wir wollen!“ Ob das Attentat von Putin persönlich angeordnet wurde, ist nicht belegt, die Täter kamen aber nachweislich aus Kreisen der russischen Geheimdienste. Genau wie jüngst auch im Fall des russischen Dissidenten Sergej Skripal, der ganz ähnlich 2018 von russischen Agenten in England mit dem extrem schwer zu beschaffenden, zur Sowjetzeit entwickelten Nervengift Nowitschok („Neuling“) vergiftet wurde (aber überlebte).

 

Als russische Truppen im August 2008 fünf Tage lang das Nachbarland Georgien angriffen, löste das im Westen ebenfalls große Empörung aus. Diese wurde allerdings dadurch gedämpft, dass der zuvor im Westen noch gefeierte georgische Präsident Micheil Saakaschwili an der Eskalation des Konflikts um das zu Georgien gehörige, aber russisch okkupierte, Südossetien nicht unschuldig war. Es waren georgische Truppen, die zuerst geschossen hatten. Putin wiederum wurde vorgeworfen, den seit dem Ende der Sowjetunion schwelenden Gebietskonflikt nur deswegen eskaliert zu haben, um sich an Saakaschwili zu rächen. 2003 hatte dieser in Georgien die „Rosenrevolution“ angeführt, die das zuvor eng an Moskau gebundene Land auf einen prowestlichen Kurs führte. Mit dem russischen Militär-schlag brachte Moskau Saakaschwili innenpolitisch in die Bredouille, wenig später wurde er abgewählt.

 

Als sich Wladimir Putin im März 2012 für eine dritte, zuvor von vier auf sechs Jahre verlängerte Amtszeit erneut zum Präsidenten wählen ließ, werteten viele westliche Regierungschefs das als Beginn einer neuen Diktatur auf russischem Boden. Erst recht, weil Putin Massenproteste gegen die umstrittene Wahl im Mai 2012 brutal niederprügeln ließ und deren Rädelsführer zu langen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Auf der anderen Seite widersprach seine erneute Wahl nicht den Buchstaben des Gesetzes. Abgesehen davon hätte er sie wahrscheinlich auch ohne die schon damals üblichen Manipulationen gewonnen. Das „System Putin“ stand bereits in voller Blüte. Die von Putin geschaffene Staatspartei „Einiges Russland“ hatte schon damals 238 der 450 Sitze im russischen Parlament, der Duma (heute sogar 343). Wer in Russland im Staatsdienst Karriere machen möchte, sollte dort Mitglied sein. Um möglichst viele Bürger in das System zu integrieren, gibt es in dem angeblich von Putins Vertrautem Wladislaw Surkow entworfenen Herrschaftssystem auch noch drei weitere Parlamentsparteien. Die höhnischerweise „Liberaldemokraten“ genannte Partei des Schreihalses Wladimir Schirinowski soll Wutbürger binden, die Partei „Gerechtes Russland“ das städtische Bürgertum und die Kommunistische Partei, wieder gegründet aus den Ruinen der 1991 verbotenen sowjetischen Staatspartei KPdSU, Sowjetnostalgiker.

 

Trotz dieser vermeintlichen Vielfalt in der Duma fallen wichtige Beschlüsse dort oft einstimmig. Sie ist wie einst die DDR-Volkskammer ein Scheinparlament, das Demokratie vorgaukeln soll. Keiner der vermeintlichen Oppositionspolitiker dort würde es wagen, Putins Macht infrage zu stellen. Um die gewünschte Zahl der Mandate zu erreichen, bedient sich das System Putin verschiedener Methoden. Angefangen bei plumper Wahlfälschung mit vor-ausgefüllten Stimmzetteln oder Tricksereien bei der Auszählung. So seien nach Berechnungen des Moskauer Wahlforschers Sergej Schpilkin zum Beispiel bei der Präsidentenwahl 2018 (die Putin erneut mit 77 Prozent aller Stimmen gewann) etwa 10 von 72 Millionen gezählten Stimmzetteln zugunsten von Putin manipuliert gewesen. Gewonnen hätte Putin aber auch ohne Zählbetrug. Doch es gibt natürlich noch weitere Mechanismen, viele davon erprobt in den Zeiten der kommunistischen Diktatur. In Betrieben, Behörden und der Armee wird agitiert, im Kollektiv zur Wahl zu erscheinen, um natürlich die richtige Partei zu wählen. Nicht nur das Staatsfernsehen Rossija sendet in seinen Nachrichten ausschließlich Lobeshymnen auf Putins Regierungspolitik. Auch alle privaten Sender tun das, sofern sie überhaupt wagen, über Politik zu berichten. Die in den 90er-Jahren noch vielfältige, freie und pluralistische russische Medienlandschaft wurde dazu von Kreml-treuen Oligarchen aufgekauft, die linientreue Redakteure einsetzten und kritische Journalisten feuerten. Selbst die größeren Internetmedien wurden meist auf diese Weise gleichgeschaltet. 2014 floh die gesamte Redaktion des populären russischen Internetmediums lenta.ru nach Lettland, nachdem der Kreml-treue Geschäftsmann Alexander Mamut die Firma übernommen und lenta.ru auf Putin-Kurs gebürstet hatte. Heute arbeiten die einstigen Lenta-Journalisten von der lettischen Hauptstadt Riga aus, und berichten auf ihrem Online-Kanal meduza.io über Russland.

 

Putin und seine Anhänger rechtfertigen das alles – vom Scheinparlament bis zur Pressezensur – damit, Russland habe sich nach dem Chaos der jungen Demokratie der 1990er-Jahre für eine „gelenkte Demokratie“ („uprawljajemaja demokratija“) entschieden. Dass Russland nach 70 Jahren Sowjetdiktatur von einem Tag zum anderen zur vorbildlichen Westminster-Demokratie werden würde, hatte bei Putins Amtsantritt im Jahr 2000 auch im Westen niemand von ihm erwartet. Aber durchaus, dass er auf eine solche hinarbeite, unter anderem mit der Förderung zivilgesellschaftlicher Kräfte, bürgerlichem Engagement und einer freien Medienlandschaft. Doch genau da enttäuschte der neue Kremlherr schnell. Denn er tat das exakte Gegenteil und zerstörte mit repressiven Maßnahmen alle zarten Pflänzchen einer russischen Zivilgesellschaft. Dazu nutzte er auch das Handwerkszeug, das er als junger Mann bei der sowjetischen Geheimpolizei KGB erlernt hatte. Putins politische Gegner werden nicht selten mit denselben Methoden „zersetzt“. Sie landen dann zum Beispiel wegen vermeintlich krimineller Delikte vor Gericht, wie Russlands bekanntester Oppositioneller Alexej Nawalny, den man unter dem Vorwand, 10 000 Kubikmeter Holz im vergleichsweise läppischen Wert von einigen Zehntausend Euro gestohlen zu haben, zu fünf Jahren Haft verurteilte. Er kam wieder frei, wurde aber regelmäßig erneut verhaftet: mal für ein paar Stunden, mal für ein paar Tage. Im August 2020 folgte dann ein Giftanschlag auf ihn, den Nawalny nur durch Zufall überlebte. Als er, in der Berliner Charité halbwegs genesen, im Januar 2021 nach Russland zurückkehrte, wurde er erneut verhaftet. Diesmal unter dem Vorwand, im Falle einer anderen Verurteilung gegen Bewährungsauflagen verstoßen zu haben. Dabei geht es um den Vorwurf, er uns sein Bruder hätten die französische Firma Yves Rocher um 26 Millionen Rubel betrogen, einige hunderttausend Euro, ein Fall, der ebenso konstruiert wirkt wie das Holz-Urteil.

 

Demonstrationen sind kaum noch möglich. Selbst wer sich allein mit einem Protestschild – oder, was auch schon vorkam, sogar ohne – auf die Straße stellt, landet zumindest für ein paar Stunden auf der Polizeistation.

Für einen Schock sorgte 2015 die Ermordung des Putin-Kritikers Boris Nemzow, der direkt vor den Mauern des Kreml erschossen wurde, was wie ein Ritualmord wirkte. Die Täter legten Putin die Beute sozusagen vor die Tür. Ähnlich der Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006. Der 7. Oktober ist Putins Geburtstag. Dieser bestreitet jede Verwicklung in die Taten. In beiden Fällen wurden tschetschenische Kriminelle als Täter verurteilt. Für Empörung sorgte im Westen auch, dass selbst die 1988 von dem Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow gegründete Menschenrechtsorganisation Memorial auf die Feindesliste des „Systems Putin“ geriet. Memorial sammelte Berichte und Dokumente von zur Sowjetzeit politisch Verfolgten, vor allen Dingen aus der Zeit von Josef Stalin, der Abermillionen ermorden oder verhungern ließ. Memorial half, Gedenkstätten in ehemaligen Gulags zu errichten, setzte sich für die Rehabilitierung der Opfer ein. Der ehrliche Umgang mit den Verbrechen zur Sowjetzeit war in den 1990er Jahren unter Präsident Boris Jelzin (der als Parteichef im Gebiet Swerdlowsk/Jekaterinburg selbst ein hoher Sowjetfunktionär gewesen war), auch ein staatliches Anliegen.

 

Doch seit Putin regiert, hat sich diese Geschichtspolitik rapide geändert. Die von Memorial aufgebaute Gedenkstätte Perm-36, in der noch bis in die 1980er-Jahre regimekritische Intellektuelle inhaftiert waren, wurde von den Behörden massiv umgestaltet. Jetzt wird dort nicht mehr an das Leid der politisch Verfolgten, sondern an den Beitrag der Häftlinge (die als „Staatsfeinde“ bezeichnet werden) zum Aufbau des Sozialismus erinnert. Aktuell sorgt der Fall Juri Dmitrijew für Aufsehen. Der 65-jährige Memorial-Aktivist und Bürgerrechtler hatte in den 90ern im Wald von Sandarmoch in Karelien einen geheimen Erschießungsplatz entdeckt, wo in den 1930er-Jahren Tausende Intellektuelle vom sowjetischen NKWD ermordet worden waren. Inzwischen ist dort eine informelle Gedenkstätte entstanden, die dem Kreml nicht passt. Dmitrijew wurde unter dem Vorwurf, ein Kinderschänder zu sein, verhaftet und am 22. Juli 2020 zu dreieinhalb Jahren Lagerhaft verurteilt.

 

Russlands Kurswechsel im Umgang mit der Sowjet-Vergangenheit unter Putin hat einen einfachen Grund. Putins Propaganda braucht Stalin als Helden und nicht als Schurken. Der einstige kommunistische Heldenkult um „Väterchen Lenin“, seine „Oktoberrevolution“ und die anderen Säulenheiligen des Staatskommunismus lockt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion keinen Hund mehr hinterm Ofen hervor. Doch mit einer Wiederbelebung des ebenfalls nach 1991 fast eingeschlafenen Heldenkults um den sowjetischen Sieg im Großen Vaterländischen Krieg schuf das „System Putin“ einen neuen nationalen Mythos, der alle zusammenhält – unter Putins Führung. Und weil im Großen Vaterländischen Krieg nun einmal Josef Stalin der oberste Feldherr war, sollen seine Massenmorde zwar nicht ganz unerwähnt bleiben, aber doch nicht zu viel Schatten auf sein Andenken werfen. Russlands staatliche Geschichtsschreibung stellt sie als „bedauerliche Kollateralschäden“ und „schreckliche Irrtümer“ dar, nicht mehr.

 

Da waren die akribischen Aufarbeiter von Memorial natürlich lästig. Sie bekamen unter anderem Besuch von der Steuerfahndung. Ihre russischen Finanziers, darunter auch Geschäftsleute, die aus verfolgten Familien stammen, wurden unter Druck gesetzt, nicht mehr an Memorial zu spenden. Und weil als Geldquelle für die Arbeit nur ein paar westliche Stiftungen übrig blieben, muss sich Memorial selbst als „ausländischer Agent“ bezeichnen. Dieses Stigma hat das „System Putin“ per Gesetz all jenen meist gemeinnützigen Organisationen im Lande verpasst, die auch nur einen Cent Geld aus dem westlichen Ausland bekommen. Alle ausländischen Verlage, die noch Zeitungen und Zeitschriften in Russland besaßen, wurden daneben gezwungen, diese mehrheitlich an russische Bürger zu verkaufen – darunter die deutschen Großverlage Springer und Burda.

 

Umgekehrt ist der Kreml nicht so zimperlich, wenn es um die mediale Einmischung im Ausland geht. Er steckt viel Geld in Einflussarbeit im Westen – auch das sorgt für Streit zwischen der EU und Russland. Von russischem Steuergeld bezahlte Internet-Trolle tummeln sich in den sozialen Medien im Westen. Vom Kreml finanzierte Webseiten wie „RT Deutsch“ verbreiten nicht nur die Sicht Putins, sondern bedienen alle möglichen Verschwörungstheorien – mit dem Ziel der Zersetzung und Spaltung der Gesellschaften der westlichen Demokratien. Die Reaktion der EU darauf hält sich in Grenzen. Die Gegenwehr hält sich bis jetzt in Grenzen: der Auswärtige Dienst der EU betreibt unter anderem die Webseite euvsdisinfo.eu, die von russischen Staatsmedien verbreiteten Falschnachrichten nachgeht und diese richtigstellt. Gelegentlich protestieren auch Politiker gegen die vom Kreml finanzierte Lügen- und Hassschleudern im Internet – was regelmäßig für eine recht verlogene Wehleidigkeit im Kreml sorgt, der zuhause mit ganz anderen Methoden kritische Medien mundtot macht.

 

Insgesamt reagiert Moskau auf Kritik aus dem Westen recht empfindlich. So sorgte die Äußerung des neuen US-Präsidenten Joe Biden, der glaube, dass Putin ein Mörder sei, bei diesem für helle Empörung. Auch diese wirkt angesichts dessen, was die von Putin gleichgeschalteten russischen Medien an finstersten Verschwörungstheorien über die USA oder die EU verbreiten, recht aufgesetzt. Und auch angesichts dessen, dass der Kreml in den bereits erwähnten Mordanschlägen auf Skripal und Litwinenko offenbar sogar stolz Wert darauf legte, als Urheber identifiziert zu werden.

 

 

Putins Popularität hat aber nicht nur mit Zensur, Unterdrückung der Opposition und geschickter PR-Arbeit zu tun. Viele sehen in ihm einen Nationalhelden, der das zwar freiheitlichere, aber bankrotte Russland, das er Ende 1999 von seinem Vorgänger Boris Jelzin übernommen hatte, wieder flottgemacht hat. Viele Russen, vor allem solche, die in Städten leben, verbinden die mehr als 20 Jahre unter Putin auch mit ihrem ganz privaten Aufschwung. Der Rubel wurde härter, die Löhne höher, ihre persönliche Lebenswelt, ob im Büro, zu Hause oder in der Freizeit, wurde zunehmend „westlicher“ und komfortabler. Vor der Haustür parkt kein klappriger Lada mehr, sondern ein gebrauchter japanischer Kleinwagen oder gar ein schicker BMW. Im Urlaub geht es nun in die Türkei, nach Zypern oder Ägypten. Mit einem Bruttoinlandsprodukt von 10 000 Euro pro Einwohner und Jahr liegt das Land immerhin im globalen Mittelfeld. In der Putin-Zeit ist in den großen Städten ein gut verdienender gesellschaftlicher Mittelstand entstanden.

 

Auch Putins entschlossenes außenpolitisches Vorgehen imponiert vielen. Zwei Wochen nach der Maidan-Revolution in der Ukraine, bei der dort der moskauhörige Präsident Wiktor Janukowitsch von prowestlichen Demonstranten gestürzt wurde, nutzte Putin 2014 die vorübergehende Führungslosigkeit der Ukraine, um auf der zu ihr gehörenden Halbinsel Krim Fakten zu schaffen. Bei Nacht und Nebel landeten dort Zehntausende russische Soldaten. Das war nicht schwer, denn Russland unterhielt in Sewastopol auf der Krim ohnehin per Staatsvertrag mit der Ukraine eine große Armeebasis. Zur Tarnung traten Putins „kleine grüne Männchen“ dort ohne Hoheitszeichen auf und taten so, als seien sie Einheimische.

 

Eine Uniform könne man sich doch in jedem Laden kaufen, höhnte Putin noch, als Reporter ihn fragten, ob das seine Soldaten seien. Natürlich war es, wie er später auch zugab, seine Armee. Sie okkupierte in wenigen Tagen die gesamte Krim, nach nicht einmal zwei Wochen annektierte Putin sie dann nach einer inszenierten Volksabstimmung für Russland. Als Grund für dieses Vorgehen führte der Kreml unter anderem an, die Krim habe „schon immer“ zu Russland gehört, sei bei einer Verwaltungsreform 1954 nur versehentlich der Ukraine zugeschlagen worden und kehre nun „heim“. Die Fakten dahinter: Dass der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow 1954 entschied, die Krim solle künftig nicht mehr zur russischen, sondern zur ukrainischen Sowjetrepublik gehören, hatte neben einer ebenfalls historischen Begründung (dem 300. Jahrestag eines Bündnisvertrags zwischen den ukrainischen Kosaken und dem Kreml) auch einen höchst nachvollziehbaren praktischen Grund. Die Halbinsel mit ihren zwei Millionen Einwohnern hat keine Landverbindung zu Russland, sondern nur zur Ukraine. Von dort wird sie mit Wasser und Energie versorgt.

 

Dass die Krim schon immer russisch gewesen sei, stimmt auch nicht. Denn die ursprüngliche Bevölkerung dort sind weder Russen noch Ukrainer, sondern die muslimischen Krimtataren. Diese waren schon da, als Zarin Katharina die Krim vor fast 250 Jahren von den Osmanen eroberte. Noch im Jahr 1900 stellten nicht, wie heute, ethnische Russen, sondern die Tataren die Bevölkerungsmehrheit. Von den Russen sowohl zur Zarenzeit als auch zur Sowjetzeit unterdrückt, jubelten viele von ihnen den 1942 auf der Krim einmarschierenden Deutschen als vermeintliche Befreier zu. Das wurde ihnen zum Verhängnis. Nachdem die Sowjets die Krim 1944 zurückerobert hatten, ließ Stalin alle Krimtataren nach Sibirien deportieren. Hunderttausende kamen dort um. Die Überlebenden kehrten nach dem Ende der Sowjetunion zurück in die alte Heimat. 250 000 Tataren, 12 Prozent der Bevölkerung, leben heute wieder auf der Krim und werden seit der Machtübernahme durch Moskau 2014 erneut ethnisch verfolgt. Viele Krimtataren, die gegen die Annexion protestierten, wurden in russische Gefängnisse verschleppt.

 

Die Annexion der Krim durch die Russische Föderation wurde in ganz Russland groß gefeiert. Dass die Halbinsel, die für Russland einen hohen Symbolwert hat, nach dem Ende der Sowjetunion 1991 im Ausland lag, war für viele Russen schmerzhaft gewesen. Auch wenn die russischstämmige Bevölkerung es dort noch gut getroffen hatte. Die neue Ukraine dagegen verlieh dem mehrheitlich russisch bevölkerten Gebiet der Krim den Sonderstatus einer Autonomen Republik, den sie zur Sowjetzeit lange nicht hatte. Dagegen erging es russischen Minderheiten in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, die damals unabhängige Staaten wurden, tatsächlich schlecht. Massenhaft flohen Russen nach 1991 aus dem muslimischen Teil des Kaukasus (der eigentlich sogar zu Russland gehört), aus Usbekistan oder Kasachstan ins „Mutterland“, weil sie vor Ort nicht mehr gut gelitten waren und zum Teil für die verhasste Sowjetdiktatur verantwortlich gemacht wurden. Ein nationales Trauma, das ebenso wie die Wirren der gescheiterte Demokratie der 1990er das heutige Bewusstsein vieler Russen weit stärker prägt als die ferne Sowjetvergangenheit. Wahrscheinlich auch Putins Bewusstsein. Insofern greift auch der im Westen häufig kolportierte Fakt zu kurz, mit ihm als ehemaligen (kleinen) KGB-Offizier habe die sowjetische Geheimpolizei wieder die Macht ergriffen, sozusagen ein „Rollback“ inszeniert. Nicht wenige Konstrukteure und Verfechter des „Systems Putin“ haben eine ganz andere Herkunft. Sie entstammen nicht selten der einst vom demokratischen Aufbruch begeisterten – und später davon enttäuschten „Generation Gorbatschow“ der 1980er Jahre wie Putins enger Berater Wladislaw Surkow, 56 oder der Chef des staatlichen Medienkonzerns RT und „Karl Eduard Schnitzler Russlands“, Dmitri Kisseljow, 66. Oder waren, wie der in seinen letzten Lebensjahren aus dem US-Exil zurückgekehrte und zum Putin-Vertrauten avancierte Alexander Solschenizyn (1918-2008) zur Sowjetzeit Dissisident.

 

„Das Unglück liegt nicht darin, dass die UdSSR zerfallen ist, denn das war unvermeidlich. Das gewaltige Unglück und die politisch auch noch weit in die Zukunft hinein verworrene Situation liegen darin, dass der Zerfall automatisch innerhalb der falschen, von Lenin oktroyierten Grenzen stattgefunden hat und damit Russland russische Gebiete entriss. Binnen Tagen haben wir 25 Millionen ethnische russische Menschen verloren …“, klagte Solschenizyn in seinem 1998 erschienenen Buch „Russland im Umbruch“. Ein Satz, der wenig später zur Begründung einer Staatsdoktrin wurde: dem (Wieder-) Einsammeln echter oder vermeintlicher „russischer Erde“ durch den Kreml. Alle Regierungen der EU mochten den russischen Phantomschmerz über diese beim Zerfall der Sowjetunion verlorenen Teile „russischer Erde“ nicht als Grund gelten lassen, mit Waffengewalt die Krim zu annektieren. Und auch das russische Argument nicht, nach der ungeliebten prowestlichen Maidan-Revolution in der Ukraine, die nur wenige Tage zuvor, Ende Februar 2014, ihren dramatischen Höhepunkt gefunden hatte, sei die russische Minderheit in der Ukraine bedroht.

 

Viel zitiert wurde dabei auch der russische Vorwurf, in der Ukraine werde die russische Sprache unterdrückt. Die Fakten dahinter: Erklärte Politik aller ukrainischen Regierungen seit 1991 war es, die in mehr als 300 Jahren, in denen überwiegend das russische Moskau über weite Teile der Ukraine herrschte, stark verdrängte ukrainische Sprache wiederzubeleben. Der Schulunterricht wurde langsam von Russisch auf Ukrainisch umgestellt und Ukrainisch zur alleinigen Amtssprache erklärt, was für öffentliche Verwaltungen, Gerichte und Parlamente von Belang ist, nicht aber für das Privatleben. Bis heute, 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion, ist Russisch in weiten Teilen der Ukraine die hauptsächliche Alltagssprache. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew erscheinen fast alle Zeitungen auf Russisch. Der aktuelle Präsident des Landes, der 2019 gewählte Wolodymyr Selenskyj ist ein russischer Muttersprachler. Er stammt übrigens aus einer jüdischen Familie. Die Juden sind eine der zahlreichen Minderheiten im Vielvölkerstaat Ukraine. Er spricht auch bestens ukrainisch.

 

Auch der einstige, vermeintlich „prorussische“ ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch, ein russischer Muttersprachler, der das Land von seiner Wahl 2010 bis zu seinem Sturz bei der Maidan-Revolution 2014 regierte, paukte täglich auf der Fahrt ins Büro fleißig Ukrainisch und ermahnte alle höheren Beamten, es ihm gleichzutun.

 

Als ich ihn 2012 in Kiew zum Interview traf, bestand er darauf, das Gespräch nicht auf Russisch, sondern auf Ukrainisch zu führen. „Es gibt eine unabhängige Ukraine, und eine ganze Generation ist inzwischen in einem freien Staat aufgewachsen. Das ist sehr wichtig für unseren Staat, wo die Menschen von alters her davon geträumt haben, in einem unabhängigen und freien Land zu leben“, sagte er. Gestürzt wurde er 2014 vor allen Dingen deshalb, weil er nicht wagte, ein über viele Jahre auch von seiner Administration mit der EU ausgehandeltes Assoziierungsabkommen zu unterzeichnen, das der Ukraine mehr zollfreien Handel und Millionen Ukrainern visafreies Reisen in den Westen Europas versprach. Und weil er gegen zunächst völlig friedliche Demos für das Abkommen politisch unklug von Anfang an mit brutaler Gewalt vorging.

 

Moskau warf der EU damals vor, die Maidan-Demonstranten zu unterstützen und sich damit unzulässig einzumischen. In der Tat besuchten viele westliche Politiker die drei Monate andauernde Dauer-Demonstration auf dem Kiewer Maidan-Platz. Mehr als gute Worte steuerten sie aber nicht bei. Russlands Präsident Putin dagegen mischte sich massiv in die politischen Vorgänge in der Ukraine ein. Er war strikt dagegen, dass die Ukraine sich mit dem Assoziierungsabkommen der EU annäherte, und setzte Janukowitsch unter Druck, nicht zu unterschreiben. Daneben dürften bei der brutalen Verfolgung von Maidan-Aktivisten während der Dauer-Demo (darunter Entführungen, Folter und Morde) neben ukrainischen auch angereiste russische Geheimpolizisten eine Rolle gespielt haben.

 

 

Wohl wissend, dass die Russen die Krim so oder so nicht so schnell wieder herausrücken würden, wollten die Regierungen der EU es mit dem Druck auch nicht übertreiben. So treffen die von der EU damals verfügten und bis heute gültigen „Krim-Sanktionen“ zwar einige Geschäftsleute und Politiker, die an der Annexion mitgewirkt hatten. Auch Geschäfte auf der Krim und mit Firmen, die auf der Krim ihren Sitz haben, sind demnach verboten – was die Krim über die Jahre in ein wirtschaftliches Notstandsgebiet verwandeln dürfte. Doch die meisten deutsch­russischen Exportgeschäfte sind von den Krim-Sanktionen nicht berührt. Dass die Exportumsätze zwischen Deutschland und Russland nach 2014 trotzdem massiv zurückgingen – von 56 Milliarden Euro (2013) um mehr als ein Drittel auf 36 Milliarden Euro (2016) jährlich – hatte drei andere Gründe. Die Preise für Gas und Öl, Russlands wichtigstes Exportgut, waren in dieser Zeit sehr niedrig. Zahlreiche Russen konnten sich nach einem massiven Fall des Rubelkurses gegenüber dem Euro viele Westprodukte nicht mehr leisten. Und wegen der unsicheren politischen Lage verschoben oder strichen viele Firmen ihre langfristigen Investitionen in Russland. Außerdem gab es kurz darauf einen neuen, noch viel größeren Streitfall, der zu weiteren, für die russische Wirtschaft wesentlich schmerzhafteren EU-Sanktionen führte: den Krieg in der Ostukraine, 200 Kilometer nordöstlich der Krim. Und die perfide Art, wie der Kreml-Chef diesen seitdem führt.

 

Die schwere Militärtechnik der russischen Armee und die einige Tausend russischen Soldaten und Söldner, die dort stets eingesetzt sind und alle paar Monate ausgewechselt werden, tragen keine Hoheitszeichen der Russischen Föderation. Die dortigen „Uragan“-Raketenwerfer, deren einschlagende Geschosse die Erde erzittern lassen, die „BUK“-Flugabwehr, mit der die Separatisten nach derzeitigem Erkenntnisstand nicht nur viele ukrainische Militärflugzeuge, sondern 2014 auch eine malaysische Passagiermaschine mit 298 Menschen an Bord vom Himmel schossen, stammen zweifelsfrei aus Beständen der regulären russischen Armee. Offiziell gibt sich Moskau aber nicht als Kriegspartei, sondern als Vermittler zwischen den ostukrainischen „Separatisten“ und der ukrainischen Armee. Und als Schutzpatron der angeblich bedrängten russischen Minderheit in der Ukraine, die ihren Bevölkerungsschwerpunkt neben der Krim in der Ostukraine hat. In der Tat war die emotionale Bindung von vielen der etwa sieben Millionen Einwohner des Donbas, einer Industrieregion, in die zur Sowjetzeit viele Russen zogen, zu Moskau immer hoch.

 

Nicht wenige von ihnen betrachten den ukrainischen Staat als ein Kunstprodukt, eine Erfindung des Westens, um Russland seine südlichen Gebiete streitig zu machen, die Katharina die Große vor 250 Jahren eroberte und „Klein-Russland“ taufte. Zweifellos gibt es aber ein ukrainisches Volk, das dort die breite Bevölkerungsmehrheit stellt und das nach dem Zusammenbruch des Zarenreichs bereits 1918 einen vergeblichen Versuch unternahm, einen eigenen Staat, die Ukrainische Volksrepublik, zu gründen. Diese wurde von Lenins Roter Armee in einem Bürgerkrieg besiegt. Doch auch die Sieger wollten eine eigenständige Ukraine, riefen dort die „Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik“ aus, die neben der Sowjetunion, zu der sie gehörte, seit 1945 einen eigenen Sitz bei den Vereinten Nationen hatte. Mit einer eigenstaatlichen Ukraine konnte man also in Moskau schon damals gut leben – nur halt nicht mit einer, die sich lieber nach Westen orientiert, wie das seit der Maidan-Revolution der Fall ist. Genau das dürfte ein Hauptgrund für Moskaus große „Fürsorge“ für die russische Minderheit in der Ukraine sein: Mit den besetzten Gebieten in der Ostukraine einen Pfahl im Fleisch zu haben, der erfolgreich verhindern dürfte, dass die Ukraine Richtung Westen rückt.

 

Für spektakuläre Szenen und gemischte Gefühle in Moskau sorgte auch der das ganze Frühjahr 2014 andauernde „Leninopad“ in der Ukraine. Im ganzen Land wurden Hunderte Lenin-Denkmäler gestürzt, die dort noch aus der Sowjetzeit standen. Der kommunistischen Ideologie hängt zwar sowohl in der Ukraine als auch in Russland kaum noch jemand an. Doch in Putins Russland würde so etwas als Angriff auf Symbole der Staatsmacht gewertet. Deswegen stehen die Lenin-­Denkmäler dort unangetastet, wenn auch oft etwas verrottet, noch herum. Ihr Sturz in der Ukraine war ein symbolischer Bruch mit Moskau. Viele der Beteiligten, die mit Stahlseilen und Lkw anrückten, brüllten bei deren Fall keine Parolen gegen Lenin oder den Kommunismus, sondern gegen Putin, oft „Putin Chuilo“, „Putin, du Schwanzgesicht“.

 

Initialzündung des Krieges in der Ostukraine war der organisierte Sturm von bewaffneten und uniformierten Männern, zum Teil russischer Herkunft, auf zahlreiche Verwaltungsgebäude und Polizeistationen in der Ostukraine. Der Krieg schwelt nun schon sechs Jahre und forderte 15 000 Tote. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Moskau gibt nicht nach. Die Ukraine auch nicht. Der Konflikt scheint das traditionell vielschichtige Land eher zu einen als zu spalten. Die EU, die sich klar auf die Seite der Ukraine stellte, vermittelte das Minsker Abkommen, das zum Frieden führen soll, aber bis jetzt stockt. Weder gibt es eine Waffenruhe noch einen Abzug schwerer Waffen oder einen „Abzug aller ausländischen Truppen“, wie dort vereinbart. So bleiben auch die von der EU verhängten Sanktionen, die viele russische Firmen und Banken empfindlich treffen, in Kraft. Und die russischen Gegensanktionen ebenso. Russland rächt sich u. a. mit einem weitgehenden Verbot von Lebensmittelimporten aus der EU. Das trifft zum Beispiel Agrarfirmen in Mecklenburg-Vorpommern hart, die viele Lebensmittel nach Russland lieferten.

 

Jüngstes Spannungsfeld ist Belarus. Dass die dortigen Massenproteste den amtierenden Präsidenten Alexander Lukaschenko stürzen könnten, sorgt in Moskau für Alarmstimmung. Nach der Ukraine droht der Kreml auch seinen Einfluss auf die „Brüder“ in Belarus zu verlieren. Anders als seit 2014 in der Ukraine zögert Russland dort aber, offen militärisch einzugreifen. Bisher. Das liegt auch daran, dass der Protest sich in Belarus anders als in der Ukraine in erster Linie nicht gegen die enge Bindung des Landes an Russland richtet, sondern nur gegen den ungeliebten Präsidenten, der seit 26 Jahren regiert wie ein Diktator. Und – übrigens ganz anders als in Russland – Belarus fast alle organisatorischen Strukturen aus der Sowjetzeit bewahrt hat, inklusive großer Staatskonzerne und Kolchosen, was sich immer mehr als nicht zukunftsfähig erweist.

 

Dauerstreit gibt es im Baltikum. Die drei baltischen Staaten traten 1999 der NATO bei. Sie wollten damals schnell Mitglied werden, weil sie sich dadurch Schutz vor Russland versprachen, das sie über Jahrhunderte als Kolonien ansah und zuletzt 1939, nach dem Hitler-Stalin-Pakt, mit der Sowjetarmee überfiel und besetzte. Die russische Sicht auf die Dinge ist, dass die NATO mit ihrer Aufnahme der drei baltischen Staaten einen heimlichen „Vormarsch“ auf die russische Grenze betreibe, was Russlands Sicherheit gefährde. Wobei die drei zusammen mit nur einigen Hundert Kilometern dort die einzige Landesgrenze weltweit haben, an der NATO-Länder direkt an Russland grenzen. Umso größer war im Baltikum der Schock über Putins Vorgehensweise in der Ukraine 2014. Ein solcher „hybrider“ Angriff wäre genauso in Lettland oder Estland denkbar, die Moskau auch deswegen als „russische Erde“ betrachten könnte, weil es dort größere russische Bevölkerungsminderheiten gibt. Und könnte man bei einem Überraschungsangriff von „grünen Männchen“ ohne Hoheitszeichen wirklich sicher sein, dass die NATO-­Partner im Westen diesen nicht lieber als Aufstand interner Separatisten abtun, um keinen Krieg mit der Atommacht Russland anfangen zu müssen? Deswegen forderten Lettland, Litauen und Estland eine dauerhafte Präsenz von Soldaten der anderen NATO-Länder auf ihrem Territorium, zumindest einige Tausend Mann, eine eher symbolische Größe. Die aber sicherstellen würde, dass ein Angriff auf einen ein Angriff auf alle wäre – aus demselben Grund, aus dem einst auch größenmäßig eher symbolische Einheiten der drei West-Alliierten in West-Berlin stationiert waren.

 

In Moskau sorgte das für helle Empörung. Die NATO sei nach der Aufnahme der baltischen Staaten nun auch direkt mit eigenen Truppen an der Grenze zu Russland aufmarschiert, so die Darstellung des Kreml. Immer wieder sorgen gefährliche Begegnungen russischer Kampfflugzeuge mit im Baltikum stationierten NATO-Kampfflugzeugen über Ost- oder Nordsee für Schlagzeilen. Und wie im Kalten Krieg demonstrieren beide Seiten mit Militärmanövern nahe der Grenze Stärke: Russland 2017 mit seinem Manöver „Sapad“ („Westen“) nahe der litauischen Grenze, die NATO zuletzt Anfang 2020 mit ihrem Großmanöver „Defender“.

 

Es wird inzwischen auch scharf geschossen, und zwar im Nahen Osten. Dort intervenierte Putin 2015 zugunsten von Syriens Diktator Assad, den die dortigen, vom Westen unterstützen Aufständischen damals schon fast besiegt hatten. Dank russischer Waffenhilfe, vor allem aus der Luft, hat Assad den Krieg um seine Macht inzwischen weitgehend gewonnen. Mit der Türkei, die im Norden Syriens einmarschiert ist, stehen sich Russland und ein NATO-Land direkt auf dem Boden eines Kriegslandes feindlich gegenüber. Als 2015 eine russische Suchoi-24 von einer türkischen F-16 aus US-Produktion abgeschossen wurde, blieb das glücklicherweise ein Einzelfall. Immerhin handeln seitdem alle Seiten mit noch mehr Bedacht. In der Luft versuchen Kampfflugzeuge der NATO und Russlands ,den direkten Kontakt zu vermeiden. Die Russen wie die NATO-Streitkräfte und ihre jeweiligen Verbündeten waren sich auch einig, bei der Vernichtung der Terrorgruppe „Islamischer Staat“, die den Osten Syriens und Teile des Irak kontrollierte, eng zusammenzuarbeiten. Erfolgreich: 2019 wurden die letzten Reste des „Islamischen Staats“ zerstört.

 

Auch beim Bau der zweiten direkten Gas-Pipeline zwischen Russland und Deutschland durch die Ostsee, „Nordstream 2“, herrschte bis vor kurzem große Einigkeit – zumindest zwischen Deutschland und Russland. Nach der Affäre um den vergifteten russischen Oppositionellen Nawalny allerdings droht das Projekt zu kippen. Zuvor wurde es bereits von den USA torpediert, auch die Regierungen von Polen und der Ukraine versuchten, den Bau zu verhindern. Sie argumentieren, die Gaszahlungen an Putin finanzierten Russlands Aufrüstung, zudem erleichtere es die technische Umgehung ihrer Länder durch die neue Pipeline Moskau, den Gashahn gegen sie als politische Waffe einzusetzen, wie schon mehrmals mit der Ukraine geschehen. Letzteres ohne Erfolg, auf Druck der EU wurde die Erdgasversorgung des Landes durch westliche Lieferungen sichergestellt, wenn auch zu weit höheren Preisen als früher. Feindschaft hat eben leider ihren Preis, für alle Seiten.

Anmerkungen:

1Autor: Gerald Praschl, Journalist