Ein Virus kommt selten allein

Der Informationskrieg des Kreml gegen den Westen

Essay von Ulrich Clauß1

Ein Virus kommt selten allein. Und nicht immer ist ihm mit medizinischen Mitteln beizukommen. So registrieren die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ebenso wie staatliche Stellen in der gesamten westlichen Welt begleitend zur Covid-19-Pandemie seit der Jahreswende 2019/20 epidemiologische Wellen von Desinformation. Eine „Infodemie“, wie die WHO bereits im Februar 2020 formulierte („massive ‘infodemic’“2). Falsche Informationen zu Medikamenten, vorbeugenden Maßnahmen und Verschwörungstheorien zum Ursprung der Covid-Pandemie fluten vor allem die sogenannten „sozialen“ Netzwerke, werden aber auch in konventionellen Medien verbreitet.

Foto: Russia-Today Deutschland -Symbol für die heutige Auslands-Agitprop aus Russland

Als Quellen solcher „fake News“ werden oftmals staatliche und staatsnahe Einrichtungen diktatorisch oder autokratisch regierter Staaten, vor allem China und Russland ausgemacht. Wie der Auswärtige Dienst (EAD) der EU-Kommission jüngst feststellte, sieht sich derzeit die Europäische Union besonders aus russischen Quellen mit gezielten Falschinformationen zur Covid-Krise[2] konfrontiert. Der EAD stützt sich dabei auf Erkenntnisse der „East Stratcom Task Force[3]“, einer 2015 gegründeten Arbeitsgruppe des EAD, die Fälle von Desinformation vor allem kreml-freundlicher Medien in Tausender-Größenordnungen recherchiert und dokumentiert.

Die russische Desinformationskampagne zur Covid-Pandemie erscheint dabei nur als jüngste Variante der Kreml-Strategie, westliche Staaten im Allgemeinen und die EU im Besonderen und ganz besonders Deutschland mit Mitteln der Informationskriegsführung zu destabilisieren. Westlichen Sicherheitsanalysen zufolge handelt es sich dabei um die Fortschreibung sowjetischer Kalte-Kriegs-Strategien, die im Zusammenhang mit der hybriden Kriegsführung des Kreml gegen die Ukraine (Krim-Okkupation, Donbass-Feldzug) als „Gerasimow-Doktrin[4]“ bekannt wurde.

Der Begriff geht zurück auf die Rede des russischen Generalstabschefs Valerij Gerasimov Anfang 2013 vor der Generalversammlung der Russischen Akademie der Militärwissenschaften (AMW), die vielfach als eine Art Aufmarschplan für die russische Aggression gegen die Ukraine und in der Folge zahlreiche weitere informationskriegerische Attacken gegen demokratische Systeme im Westen interpretiert wird. Von russischen Cyber-Angriffen auf das Baltikum, Manipulationsversuchen der letzten beiden US-Präsidentenwahlen, Einflussnahme des Kreml auf das Referendum zum britischen EU-Austritt bis zu Cyber-Attacken auf den Deutschen Bundestag im Frühjahr 2015.

Gerasimov hatte in seiner Akademie-Rede ausgeführt, dass die Grenze zwischen Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert verschwimme und demzufolge nach veränderten Spielregeln „komplexe Anwendung militärischer Gewalt sowie politischer, wirtschaftlicher, informationstechnischer und anderer nicht-militärischer Mittel“[5] von Seiten Russland zum Einsatz kommen sollten. Weiter sei die „Ausnutzung des Protestpotentials der Bevölkerung« und „extern gesteuerter politischer Kräfte und gesellschaftlicher Bewegungen“[6] im Zuge einer solchen hybriden Kriegsführung angezeigt. Kernpunkte von Gerasimovs Ausführungen wurden schließlich Bestandteil der von Wladimir Putin im Dezember 2014 unterzeichneten neuen russischen Militärdoktrin.

Nach vorherrschender Lesart westlicher Verteidigungsexperten stellt diese Schwerpunktverlagerung auf eine Kriegsführung mittels unkonventioneller „Softpower“ eine Abwehrreaktion gegen die Bedrohung russischer Vormachtstellung im post-sowjetischen Herrschaftsbereich durch weitere Maidan-Revolutionen dar – mit einer Einsatzreichweite, die seitdem in zahlreichen gut dokumentierten Fällen weit über den russischen Herrschaftsbereich hinaus bis in Machtzentren und Öffentlichkeiten westlicher Gesellschaften hinein zum Einsatz kommt.

Diese Einordnung von Gerasimovs Rede als neo-imperialistisches Aufrüstungsprojekt und in diesem Sinne Projektfolie zur russischen Aggression gegen die Ukraine ab 2014 ist allerdings im Westen nicht unumstritten. „Vom Mythos Gerasimov-Doktrin“ ist mitunter die Rede mit Verweis darauf, dass bereits 2003 und ab 2008 immer wieder in Reden der jeweiligen russischen Generalstabschefs auf „die gestiegene Relevanz von politischen, wirtschaftlichen und informationellen Mitteln zur Einflussnahme auf andere Staaten“[7] abgehoben wurde und von „Nutzung fremder Informationsräume, um Staaten zu destabilisieren, Chaos herbeizuführen und die Abwehrfähigkeiten zu schwächen“[8] die Rede gewesen sei,  Gerasimovs Auftritt also mitnichten eine Neusortierung der russischen Außenpolitik und ihrer Werkzeuge bedeute.

Und in der Tat gibt es in der deutschen Nachkriegsgeschichte bereits jahrzehntelange Erfahrung mit „hybriden“ - also gar nicht so neuen – Interventions- und Diversionsmethoden des Kreml und seiner ehemaligen Satelliten. Wie wir heute wissen, waren namhafte Print-Qualitätsmedien, Rundfunkanstalten, Lehrstühle, Studentenvertretungen, Gewerkschaften und Parteien infiltriert von Einflussagenten der DDR-Staatssicherheit. Dabei galt Informationsbeschaffung ebenso wie die Manipulation der öffentlichen Meinung als Ziel. Friedens- und Umweltbewegung waren dabei ebenso im Fadenkreuz von kommunistischer Diversionsbemühungen wie die Hausbesetzer[9]- und Neonazi-Szene[10] – mit erheblichem und zeitenüberdauerndem Ergebnis. So lassen sich immer noch deutliche Spuren der damaligen DDR-kommunistischen Infiltration im heutigen, zum Teil sogar regierungsamtlich subventionierten „Antifaschismus“ bei „Anti-Rassismus-„ und„Kampf-gegen-Rechts“[11]-Aktivisten finden – auch was personelle Kontinuitäten angeht.

Im Lichte der Wirkmacht, die Putins Info-War-Krieger im Zeitalter weltumspannender sozialer Netzwerke entwickeln können, erscheint die „Gerasimov-Doktrin“ und ihre Umsetzung dennoch weniger als „Mythos“ mit langer Tradition denn als Wegmarke einer neutechnologischen Epochenwende. Der unmittelbare, individuelle und mit Algorithmen gesteuerte Zugriff auf Milliarden von Internet-Benutzern weltweit eröffnet manipulativer Beeinflussung und Steuerung der Meinungsbildung neue, revolutionäre Dimensionen. Mit Tendenzen zu einer Art sich selbst reproduzierendem Eigenleben, wie der Politikwissenschaftler und Professor für Sicherheitsstudien an der Johns-Hopkins-Universität in Washington, Thomas Rid, herausgefunden hat. „Meine Kernthese ist, dass aktive Maßnahmen durch das Internet aktiver geworden sind, dafür aber weniger nachprüfbar. Wenn sie einmal ein Eigenleben entfaltet haben, werden sie zu Verschwörungstheorien und sind dann für die ursprünglichen Akteure nicht mehr zu kontrollieren.“ Das Internet habe es leichter gemacht als jemals zuvor, den harten Boden der Fakten zu verlieren und stattdessen in „weiche, verschwörungstheoretische Wurmlöcher abzurutschen, in denen sich die Leute dann auch noch wohlfühlen,“[12] so Rid. Kreml-Propaganda als informationelle Wohlfühlumgebung für die wohlstandsverblödete New-Media-Gesellschaft im Westen?

Was sich da auf leisen Sohlen in unsere Meinungsvielfalt einschleicht ist gleichwohl eine knallharte Okkupation des Bewusstseins. Zielrichtung und Methoden werden von westlichen Beobachtern eindeutig identifiziert. „Die russische Führung sieht sich in einem fortgesetzten Kalten Krieg gegen den Westen, wie Präsident Wladimir Putin in seiner Rede vor der Föderalversammlung 2014 betonte. Der Konflikt um die Ukraine diente als Initialzündung für neue Spannungen mit dem Westen, denn das Vorgehen der Kreml-Führung kollidierte mit dem internationalen Völkerrecht[13],“ urteilt beispielsweise Susanne Spahn, Ost-Europa-Wissenschaftlerin und Autorin der Studie „Russische Medien in Deutschland“. Das russische Instrumentarium in westlichen Staaten konzentriere sich auf Spionage, Informationskrieg, Cyber-Attacken, Wahlbeeinflussung und Ermordung von Regimegegnern, wie im Fall des ehemaligen KGB-Agenten Alexander Litwinenko und der Vergiftung Sergej Skripals 2018 und anderer, so Spahn weiter.

Die Zahl solcher Diversionsprojekte, produziert von den Troll-Fabriken des Kreml, geht in die Legion. Ein Beispiel von vielen: Erst Ende letzten Jahres enttarnten Journalisten der „WELT“ zusammen mit dem Portal „netzpolitik.org“ ein Netzwerk[14] vermeintlicher Nachrichtenportale, das Lügen in russischen Medien glaubwürdiger machen soll, mit Verbindungen zum russischen Geheimdienst. Aus diesem Netzwerk heraus wurde auch der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny immer wieder attackiert, schreiben die Autoren. Auch bei einem jüngst dokumentierten Fall geht es um den Kremlkritiker, in einem Interview, das „The Capital News“ im Oktober 2020 veröffentlichte. „Der US-Amerikaner Greg Butterfield sät darin Zweifel daran, dass der Kreml hinter Nawalnys Vergiftung stecken könnte. Der Interviewte spekuliert auch über angebliche Verbindungen des Russen zur CIA – ein gängiges Narrativ russischer Staatsmedien, um Oppositionspolitiker zu diskreditieren[15]“, so die Rechercheure.

Der „Politiker“ Greg Butterfield existiere wirklich, heißt es weiter. Doch er sei bei Weitem nicht das „berühmte amerikanische Mitglied der Opposition“, als das „The Capital News“ ihn darstellt. Butterfield, der auf eine Anfrage zu dieser Recherche nicht reagierte, ist in einer marxistisch-leninistischen Nischenpartei aktiv und besuchte den von Russland besetzten Donbass, stellten die Journalisten fest. Butterfields Aussagen wurden zugespitzt, Sputnik verkaufte die Mutmaßungen als Tatsachen. Ist Greg Butterfield nun ein Agent oder ein „nützlicher Idiot“? Diese Frage stellt sich in vielen Fällen halbwahrer oder völlig erfundener Propaganda-Plots des Kreml – auch dort, wo sich immer wieder Vertreter von AfD und Linkspartei[16] als Fürsprechern der Kreml-Herren in Erscheinung treten.

Das Zusammenspiel von extremistischen Kräften an den Rändern des politischen Spektrums mit russischer Diversion folgt dabei einer einfachen Logik - flügelübergreifend. Denn von den Rändern her lässt sich am Ehesten eine polarisierende Dynamik in Richtung Mitte der Gesellschaft treiben. Und deren Destabilisierung durch Polarisierung ist das verbindende operative Ziel, nicht nur auf dem Infowar-Schlachtfeld Deutschland. In Frankreich war es die Putin-affine Front National von Marie Le Pen (heute Rassemblement National ), die sich mit Hilfe russischer Bankkredite finanzieren ließ[17], in den USA wurden die Info-Krieger des Kreml von der nationalistischen Rechten, ja sogar vom damals amtierenden US-Präsidenten Donald Trump öffentlich geradezu gebeten, ihre Cyberwar-Kapazitäten in den Dienst der gemeinsamen Polarisierungs-Ziele zu stellen.

Dieser Strategie folgend setzt informationelle Desorientierung einer Gesellschaft vor allem an bereits bestehenden Widersprüchen an. „Große gesellschaftliche Spannungsereignisse wie die Brexit-Abstimmung 2016 eignen sich hervorragend, um sie mit Desinformation anzuheizen. Desinformation zielt bewusst darauf ab, bereits existierende gesellschaftliche Spaltungslinien (zum Beispiel Debatten um Migration und Staatsbürgerschaft) zu verstärken[18]“, schreibt dazu Matthias Schulze, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik im Bereich Cyber-Sicherheitspolitik (SWP). Kommt dazu noch eine veritable Glaubwürdigkeitskrise der Leitmedien wie in Folge „lückenhafter“ Berichterstattung zur Flüchtingskrise 2015 in Deutschland, öffnet sich jeder Desinformationpolitik ein weites Feld.

Eine Fallstudie wie aus dem Lehrbuch für Desinformation und Propaganda. Was war geschehen? Mit dem Mantra „Wir schaffen das“ hatte die Bunderegierung unter Kanzlerin Angela Merkel über Monate die Grenzen für hunderttausende Flüchtlinge geöffnet, gegen massive Bedenken im eigenen Sicherheitsapparat aber mit einhelliger Zustimmung aller im Bundestag vertretenen Parteien, der allerdings formal in dieser Frage nie befasst wurde. Die deutsche Bevölkerung war (und ist) in der Migrationsfrage tief gespalten, die deutschen Medien bildeten das jedoch nicht annähernd angemessen ab. „Eine Mehrheit der Deutschen ist der Ansicht, dass die Medien kein zutreffendes Bild der Flüchtlinge zeichnen“[19], fasste Ende 2015 die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Ergebnisse einer repräsentativen Allensbach-Umfrage zusammen. Einen „bleiernen Konsens[20]“ in grundlegenden Fragen der deutschen Politik registrierte damals auch die „Zeit“. Eine Medienstudie der Johanns-Gutenberg-Universität zu Mainz stellte 2019 fest, dass bei der Berichterstattung zur Flüchtlingskrise, insbesondere die ARD Tagesschau „die Interessen der Zuwanderer meist über die Interessen der Einheimischen“[21], gestellt habe. Deren Berichterstattung habe fälschlich „tatsächlich überwiegend den Eindruck vermittelt, dass es sich bei den Zuwanderern vor allem um Frauen und Kinder handele“. Die Berichterstattung führender deutscher Medien sei zum Flüchtlingsthema nicht ausgewogen, resümierten die Mainzer Forscher. Ein Studie im Auftrag der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung[22] zur Migrations-Berichterstattung in deutschen Printmedien kam zu ähnlichen Ergebnissen.

Während das offenkundig gewordene Repräsentationsdefizit in Sachen Migrationspolitik bei der folgenden Bundestagswahl der migrationskritischen AfD knapp 100 Mandate bescherte, öffnete das Glaubwürdigkeitsdefizit der Leitmedien den Desinformationskapagnen des Kreml ein mediales Scheunentor. Migrantenfeindliche Hetzkampagnen der Kreml-Trollfabriken überhöhten die (tatsächlich überproportionalen) Kriminalitätsraten von Zuwanderern bei bestimmten Delikten ins Gigantische. Greuelmärchen über Verbrechen an „deutschen Frauen“, tausendfach von automatischen Fake-Accounts multipliziert, fluteten die sozialen Netzwerke und halfen kräftig dabei, die Vorbehalte gegen das Merkelsche Migrantionsregime in Deutschland zu emotionalisieren und zu einer Wutbürgerkultur aufwachsen zu lassen.

Als einer der Höhepunkte dieser Kampagne erfand der Kreml-finanzierte russische Internet-TV-Sender „RT-Deutsch“ (Russia-Today-Deutsch) den Entführungsfall eines Mädchens aus einer russischen Einwandererfamilie (Der „Fall Lisa“). Angeblich sollten „Flüchtlinge“ die Halbwüchsige gefangen halten. Bei einem öffentlichen Auftritt warf sogar Russlands Außenminister Sergei Lawrow deutschen Behörden „Vertuschung[23]“ vor. Tausende russlanddeutsche Einwanderer im gesamten Bundesgebiet ließen sich so zu Demonstrationen mobilisieren. Schließlich stellte sich der „Entführungsfall“ als komplett erfunden heraus. Die Halbwüchsige war ihren Eltern lediglich für ein paar Tage davongelaufen.

Spätestens seit dem „Fall Lisa“ ist „RT Deutsch“ (bis 2009 „Russia Today“) von den deutschen Sicherheitsbehörden als eine der Haupt-Drehscheiben russischer Desinformation unter genauer Beobachtung. Mit unzähligen Fälschungen und Halbwahrheiten in seiner Berichterstattung hat Putins TV-Sender alles getan, um dieser Einordnung gerecht zu werden. „Neben seinen Spionageinteressen ist Russland bestrebt, die politische und öffentliche Meinung in Deutschland im Sinne der russischen Politik zu beeinflussen. Russische Stellen zielen mittels Propaganda und Einflussmaßnahmen auf eine Beeinflussung beziehungsweise Desinformation verschiedener Adressatengruppen ab. Die zentralen Rollen nehmen dabei der Internetsender RT Deutsch, die Nachrichtenagentur Sputnik sowie soziale Netzwerke und staatliche oder private Institute (sog. Think Tanks) ein“, heißt es dazu im Verfassungsschutzbericht 2019[24]. Im Vergleich zu den Jahren davor sei jedoch „in Bezug auf Deutschland eine gewisse Mäßigung der Aktivitäten zu verzeichnen“, heißt es dort weiter.

Das hat sich ganz offenbar im Verlauf des Pandemie-Jahres 2020 wieder geändert. Zielte zu Beginn der Pandemie im Frühjahr 2020 die Desinformation des Kreml vor allem auf Spanien und Italien, hat sich im Verlauf des Jahres der Schwerpunkt auf Deutschland verlagert, wie die „East StratCom Task Force“ feststellt. Der Verfassungsschutzbericht 2020 liegt zwar nicht vor, aber auch Präsident Thomas Haldenwang, warnte aber bereits im Oktober 2020, dass russische Medien verstärkt „auf ihren deutschsprachigen Kanälen Desinformation und Propaganda über die Corona-Situation in Deutschland“ verbreiten.

Ein nur scheinbarer Widerspruch ist in diesem Zusammenhang, dass russische Kampagnen einerseits den Impfstoff „Sputnik V“ anpreisen und demonstrativ Hilfslieferungen an westliche Länder anbieten, andererseits aber mit viralen Kreml-Kampagnen die Existenz der Pandemie geleugnet wird und Proteste der deutschen „Querdenker“-Bewegung mit „Beweisen“ für die angebliche Repressionen bundesdeutscher Sicherheitsbehörden gegen „Andersdenkende“ befeuert wird. Dieses Vorgehen folgt dem von Experten als "firehose of falsehood” bezeichneten Konzept. „Dabei werden zur Erklärung eines komplexen Sachverhalts massenhaft divergierende, teils widersprüchliche Theorien lanciert, sodass einem Zielpublikum am Ende nichtmehr klar ist, was faktisch richtig und was frei erfunden ist“[25], erklärt SWP-Analytiker Matthias Schulze. Gut erforscht sei diese Strategie im Kontext des Abschusses des malaysischen Flugzeugs MH 117 [26]durch eine russische Bug-Rakete über dem Gebiet der Ost-Ukraine. Informationskanäle verstopfen, Vertrauen in demokratische Institutionen erschüttern, Bürgerproteste mit allen Mitteln schüren – das Muster ist klar erkennbar.

„RT Deutsch“ operiert in diesem Zusammen fortgesetzt als Außenstelle der russischen Geheimdienste. Als der Sender seine Mitarbeiter zur „Berichterstattung“ über den vergifteten und in der Berliner Charité behandelten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny ausschwärmen ließ, erhielten diese den chefredaktionellen Auftrag, die Abschirmung durch deutsche Sicherheitskräfte auszuspionieren[27], wie der ehemalige RT-Angestellter jetzt in einer Buchveröffentlichung ausführlich schildert (Daniel Lange, „RT Deutsch Inside: Putins Medienarmee in Deutschland", Berlin 2021 ).

Neben Desinformationskampagnen im Internet setzt der Kreml ebenso auf Infiltration über klassische Broadcast-Medien wie „RT-Deutsch“. Dafür sprechen die Bemühungen russischer Stellen, „RT Deutsch“ bald auch konventionell via Kabel und Satelliten-TV auszustrahlen. Nach Einschätzung von Lennart Maschmeyer, Senior Researcher am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich, bleiben Broadcast-Medien sogar der Haupttransmissionsriemen im Desinformationsgeschäft. Aus seiner Analyse der hybriden Kriegsführung in der Ukraine schlussfolgert er, „dass der derzeitige Fokus auf die Bedrohung durch digitale Desinformation unangebracht ist[28].“ Ganz im Gegenteil seien in diesem Paradebeispiel der hybriden Kriegsführung traditionelle, nicht digitale, Medien die wichtigsten „Verteilerstationen“ von Desinformation. „Ähnliches zeichnet sich bei einigen laufenden Forschungen ab, die zeigen, dass traditionelle Medien – vor allem FOX News – bei der Verbreitung von Desinformationsnarrativen während der US-Präsidentschaftswahlen 2016 eine weitaus größere Rolle gespielt haben als digitale Medien“, so Maschmeyer weiter. Folglich sollten Strategien zur Bekämpfung des Einflusses von Desinformation über den derzeit sehr begrenzten Fokus auf Technologie und digitale Medien hinausgehen.“

Dass wäre doch mal eine gute Nachricht für unsere öffentlich-rechtlichen Qualitätsmedien. Umso weniger „Lücken“ sie in ihrer Berichterstattung zu den kontroversen Themen unserer Zeit lassen, desto enger werden die Spielräume für ihre Pendants in den Diensten russischer und anderer Diversions-Agenturen. Ein Virus kommt eben selten allein.

Autor: Ulrich Clauß, jahreland Redakteur für die "Welt", freier Journalist und Medienberater

Anmerkungen:


[1]WHO 2.2.2020: „Managing the 2019-nCoV ‘infodemic’“

[2]Europäischer Rat: „Bekämpfung von Desinformation

[3]„EU vs. DiSiNFO“:  https://euvsdisinfo.eu/de/

[4]SWP: „Russlands neue Militärdoktrin“

[5]ebd.

[6]ebd.

[7]Mythos „Gerasimov-Doktrin“, Christoph Bilban und Hanna Grininger (Hrsg.), Wien 2019, S. 290 ff.

[8]ebd.

[9]Der Fall Andrej Holm

[10]bpb: Vertuschte Gefahr: Die Stasi & Neonazis

[11]Tsp.: 13.12.2016 „Streit um Stasi-Vergangenheit von Anetta Kahane“

[12]„Die Zeit“, 3.9.2020: „Wir machen es den russischen Diensten sehr leicht“

[13]Dr. Susanne Spahn: Russische Medien in Deutschland, Interview mit Susanne Spahn, Interview Fr.-Naumann-Stiftung

[14]„netzpolitik.org“: „Russische Desinformation, Das Netzwerk gefälschter Auslandsmedien“

[15]ebd.

[16]„Die Zeit“ 31.8.16: „Viele Anhänger von AfD und Die Linke vertrauen Putin mehr als Merkel“

[17]„SZ“ 22.2.2017: „Le Pen und die russischen Millionen“

[18]bpb: Matthias Schulze „Dossier Digitale Desinformation“ S. 6

[19]„FAZ“ 16.12.2015 „Mehrheit fühlt sich über Flüchtlinge einseitig informiert“

[20]„Die Zeit“, 12.2.2015 „Ausweitung der Kampfzone“

[21]„FAZ“ 11.1.2019  „Nicht ausgewogen genug“

[22]Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien – Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information

Informationen zum Arbeitsheft 93

[23]„Tsp.“ 26.1.2016 „Russlands Außenminister wirft Berliner Polizei ´Vertuschung´ vor“

[24]Bundesamt für Verfassungsschutz

[25] bpb: Matthias Schulze „Dossier Digitale Desinformation“

[26] „Russian Disinformation Technology“, in MIT Technology Review, 13.4.2017

[27]„Bild“ 10.3.2021: „So rechtsextrem tickt Putins Propaganda-Sender“, Daniel Lange RT Deutsch inside,

[28]„CSS ETH Zürich“:„Digitale Desinformation: Erkenntnisse aus der Ukraine“

Als Quellen solcher „fake News“ werden oftmals staatliche und staatsnahe Einrichtungen diktatorisch oder autokratisch regierter Staaten, vor allem China und Russland ausgemacht. Wie der Auswärtige Dienst (EAD) der EU-Kommission jüngst feststellte, sieht sich derzeit die Europäische Union besonders aus russischen Quellen mit gezielten Falschinformationen zur Covid-Krise1 konfrontiert. Der EAD stützt sich dabei auf Erkenntnisse der „East Stratcom Task Force2“, einer 2015 gegründeten Arbeitsgruppe des EAD, die Fälle von Desinformation vor allem kreml-freundlicher Medien in Tausender-Größenordnungen recherchiert und dokumentiert.

Die russische Desinformationskampagne zur Covid-Pandemie erscheint dabei nur als jüngste Variante der Kreml-Strategie, westliche Staaten im Allgemeinen und die EU im Besonderen und ganz besonders Deutschland mit Mitteln der Informationskriegsführung zu destabilisieren. Westlichen Sicherheitsanalysen zufolge handelt es sich dabei um die Fortschreibung sowjetischer Kalte-Kriegs-Strategien, die im Zusammenhang mit der hybriden Kriegsführung des Kreml gegen die Ukraine (Krim-Okkupation, Donbass-Feldzug) als „Gerasimow-Doktrin3“ bekannt wurde.

Der Begriff geht zurück auf die Rede des russischen Generalstabschefs Valerij Gerasimov Anfang 2013 vor der Generalversammlung der Russischen Akademie der Militärwissenschaften (AMW), die vielfach als eine Art Aufmarschplan für die russische Aggression gegen die Ukraine und in der Folge zahlreiche weitere informationskriegerische Attacken gegen demokratische Systeme im Westen interpretiert wird. Von russischen Cyber-Angriffen auf das Baltikum, Manipulationsversuchen der letzten beiden US-Präsidentenwahlen, Einflussnahme des Kreml auf das Referendum zum britischen EU-Austritt bis zu Cyber-Attacken auf den Deutschen Bundestag im Frühjahr 2015.

Gerasimov hatte in seiner Akademie-Rede ausgeführt, dass die Grenze zwischen Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert verschwimme und demzufolge nach veränderten Spielregeln „komplexe Anwendung militärischer Gewalt sowie politischer, wirtschaftlicher, informationstechnischer und anderer nicht-militärischer Mittel“4 von Seiten Russland zum Einsatz kommen sollten. Weiter sei die „Ausnutzung des Protestpotentials der Bevölkerung« und „extern gesteuerter politischer Kräfte und gesellschaftlicher Bewegungen“5 im Zuge einer solchen hybriden Kriegsführung angezeigt. Kernpunkte von Gerasimovs Ausführungen wurden schließlich Bestandteil der von Wladimir Putin im Dezember 2014 unterzeichneten neuen russischen Militärdoktrin.

Nach vorherrschender Lesart westlicher Verteidigungsexperten stellt diese Schwerpunktverlagerung auf eine Kriegsführung mittels unkonventioneller „Softpower“ eine Abwehrreaktion gegen die Bedrohung russischer Vormachtstellung im post-sowjetischen Herrschaftsbereich durch weitere Maidan-Revolutionen dar – mit einer Einsatzreichweite, die seitdem in zahlreichen gut dokumentierten Fällen weit über den russischen Herrschaftsbereich hinaus bis in Machtzentren und Öffentlichkeiten westlicher Gesellschaften hinein zum Einsatz kommt.

Diese Einordnung von Gerasimovs Rede als neo-imperialistisches Aufrüstungsprojekt und in diesem Sinne Projektfolie zur russischen Aggression gegen die Ukraine ab 2014 ist allerdings im Westen nicht unumstritten. „Vom Mythos Gerasimov-Doktrin“ ist mitunter die Rede mit Verweis darauf, dass bereits 2003 und ab 2008 immer wieder in Reden der jeweiligen russischen Generalstabschefs auf „die gestiegene Relevanz von politischen, wirtschaftlichen und informationellen Mitteln zur Einflussnahme auf andere Staaten“6 abgehoben wurde und von „Nutzung fremder Informationsräume, um Staaten zu destabilisieren, Chaos herbeizuführen und die Abwehrfähigkeiten zu schwächen“7 die Rede gewesen sei, Gerasimovs Auftritt also mitnichten eine Neusortierung der russischen Außenpolitik und ihrer Werkzeuge bedeute.

Und in der Tat gibt es in der deutschen Nachkriegsgeschichte bereits jahrzehntelange Erfahrung mit „hybriden“ - also gar nicht so neuen – Interventions- und Diversionsmethoden des Kreml und seiner ehemaligen Satelliten. Wie wir heute wissen, waren namhafte Print-Qualitätsmedien, Rundfunkanstalten, Lehrstühle, Studentenvertretungen, Gewerkschaften und Parteien infiltriert von Einflussagenten der DDR-Staatssicherheit. Dabei galt Informationsbeschaffung ebenso wie die Manipulation der öffentlichen Meinung als Ziel. Friedens- und Umweltbewegung waren dabei ebenso im Fadenkreuz von kommunistischer Diversionsbemühungen wie die Hausbesetzer8- und Neonazi-Szene9 – mit erheblichem und zeitenüberdauerndem Ergebnis. So lassen sich immer noch deutliche Spuren der damaligen DDR-kommunistischen Infiltration im heutigen, zum Teil sogar regierungsamtlich subventionierten „Antifaschismus“ bei „Anti-Rassismus-„ und„Kampf-gegen-Rechts“10-Aktivisten finden – auch was personelle Kontinuitäten angeht.

Im Lichte der Wirkmacht, die Putins Info-War-Krieger im Zeitalter weltumspannender sozialer Netzwerke entwickeln können, erscheint die „Gerasimov-Doktrin“ und ihre Umsetzung dennoch weniger als „Mythos“ mit langer Tradition denn als Wegmarke einer neutechnologischen Epochenwende. Der unmittelbare, individuelle und mit Algorithmen gesteuerte Zugriff auf Milliarden von Internet-Benutzern weltweit eröffnet manipulativer Beeinflussung und Steuerung der Meinungsbildung neue, revolutionäre Dimensionen. Mit Tendenzen zu einer Art sich selbst reproduzierendem Eigenleben, wie der Politikwissenschaftler und Professor für Sicherheitsstudien an der Johns-Hopkins-Universität in Washington, Thomas Rid, herausgefunden hat. „Meine Kernthese ist, dass aktive Maßnahmen durch das Internet aktiver geworden sind, dafür aber weniger nachprüfbar. Wenn sie einmal ein Eigenleben entfaltet haben, werden sie zu Verschwörungstheorien und sind dann für die ursprünglichen Akteure nicht mehr zu kontrollieren.“ Das Internet habe es leichter gemacht als jemals zuvor, den harten Boden der Fakten zu verlieren und stattdessen in „weiche, verschwörungstheoretische Wurmlöcher abzurutschen, in denen sich die Leute dann auch noch wohlfühlen,“11 so Rid. Kreml-Propaganda als informationelle Wohlfühlumgebung für die wohlstandsverblödete New-Media-Gesellschaft im Westen?

Was sich da auf leisen Sohlen in unsere Meinungsvielfalt einschleicht ist gleichwohl eine knallharte Okkupation des Bewusstseins. Zielrichtung und Methoden werden von westlichen Beobachtern eindeutig identifiziert. „Die russische Führung sieht sich in einem fortgesetzten Kalten Krieg gegen den Westen, wie Präsident Wladimir Putin in seiner Rede vor der Föderalversammlung 2014 betonte. Der Konflikt um die Ukraine diente als Initialzündung für neue Spannungen mit dem Westen, denn das Vorgehen der Kreml-Führung kollidierte mit dem internationalen Völkerrecht12,“ urteilt beispielsweise Susanne Spahn, Ost-Europa-Wissenschaftlerin und Autorin der Studie „Russische Medien in Deutschland“. Das russische Instrumentarium in westlichen Staaten konzentriere sich auf Spionage, Informationskrieg, Cyber-Attacken, Wahlbeeinflussung und Ermordung von Regimegegnern, wie im Fall des ehemaligen KGB-Agenten Alexander Litwinenko und der Vergiftung Sergej Skripals 2018 und anderer, so Spahn weiter.

Die Zahl solcher Diversionsprojekte, produziert von den Troll-Fabriken des Kreml, geht in die Legion. Ein Beispiel von vielen: Erst Ende letzten Jahres enttarnten Journalisten der „WELT“ zusammen mit dem Portal „netzpolitik.org“ ein Netzwerk13 vermeintlicher Nachrichtenportale, das Lügen in russischen Medien glaubwürdiger machen soll, mit Verbindungen zum russischen Geheimdienst. Aus diesem Netzwerk heraus wurde auch der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny immer wieder attackiert, schreiben die Autoren. So zum Beispiel in einem Interview, das „The Capital News“ im Oktober 2020 veröffentlicht habe. „Der US-Amerikaner Greg Butterfield sät darin Zweifel daran, dass der Kreml hinter Nawalnys Vergiftung stecken könnte. Der Interviewte spekuliert auch über angebliche Verbindungen des Russen zur CIA – ein gängiges Narrativ russischer Staatsmedien, um Oppositionspolitiker zu diskreditieren14“, so die Rechercheure.

Der „Politiker“ Greg Butterfield existiere wirklich, heißt es weiter. Doch er sei bei Weitem nicht das „berühmte amerikanische Mitglied der Opposition“, als das „The Capital News“ ihn darstellt. Butterfield, der auf eine Anfrage zu dieser Recherche nicht reagierte, ist in einer marxistisch-leninistischen Nischenpartei aktiv und besuchte den von Russland besetzten Donbass, stellten die Journalisten fest. Butterfields Aussagen wurden zugespitzt, Sputnik verkaufte die Mutmaßungen als Tatsachen. Ist Greg Butterfield nun ein Agent oder ein „nützlicher Idiot“? Diese Frage stellt sich in vielen Fällen halbwahrer oder völlig erfundener Propaganda-Plots des Kreml – auch dort, wo sich immer wieder Vertreter von AfD und Linkspartei15 als Fürsprechern der Kreml-Herren in Erscheinung treten.

Das Zusammenspiel von extremistischen Kräften an den Rändern des politischen Spektrums mit russischer Diversion folgt dabei einer einfachen Logik - flügelübergreifend. Denn von den Rändern her lässt sich am Ehesten eine polarisierende Dynamik in Richtung Mitte der Gesellschaft treiben. Und deren Destabilisierung durch Polarisierung ist das verbindende operative Ziel, nicht nur auf dem Infowar-Schlachtfeld Deutschland. In Frankreich war es die Putin-affine Front National von Marie Le Pen (heute Rassemblement National ), die sich mit Hilfe russischer Bankkredite finanzieren ließ16, in den USA wurden die Info-Krieger des Kreml von der nationalistischen Rechten geradezu gebeten, ihre Cyberwar-Kapazitäten in den Dienst der gemeinsamen Polarisierungs-Ziele zu stellen.

Dieser Logik folgend setzt gezielte informationelle Desorientierung einer Gesellschaft immer an bereits bestehenden Widersprüchen an. „Große gesellschaftliche Spannungsereignisse wie die Brexit-Abstimmung 2016 eignen sich hervorragend, um sie mit Desinformation anzuheizen. Desinformation zielt bewusst darauf ab, bereits existierende gesellschaftliche Spaltungslinien (zum Beispiel Debatten um Migration und Staatsbürgerschaft) zu verstärken17“, schreibt dazu Matthias Schulze, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Stiftung Wissenschaft und Politik im Bereich Cyber-Sicherheitspolitik. Kommt dazu noch eine veritable Glaubwürdigkeitskrise der Leitmedien wie in Folge „lückenhafter“ Berichterstattung zur Flüchtingskrise 2015 in Deutschland, öffnet sich der Desinformationpolitik ein weites Feld.

Eine Fallstudie wie aus dem Lehrbuch für Desinformation und Propaganda. Was war geschehen? Mit dem Mantra „Wir schaffen das“ hatte die Bunderegierung unter Kanzlerin Angela Merkel über Monate die Grenzen für hunderttausende Flüchtlinge geöffnet, gegen massive Bedenken im Sicherheitsapparat aber mit einhelliger Zustimmung aller im Bundestag vertretenen Parteien. Die deutsche Bevölkerung war (und ist) in der Migrationsfrage tief gespalten, die deutschen Medien bildeten das jedoch nicht annähernd angemessen ab. „Eine Mehrheit der Deutschen ist der Ansicht, dass die Medien kein zutreffendes Bild der Flüchtlinge zeichnen“18, fasste Ende 2015 die Frankfurter Allgemeine Zeitung die Ergebnisse einer repräsentativen Allensbach-Umfrage zusammen. Einen „bleiernen Konsens19“ in grundlegenden Fragen der deutschen Politik registrierte damals auch die „Zeit“. Eine Medienstudie der Johanns-Gutenberg-Universität zu Mainz stellte 2019 fest, dass bei der Berichterstattung zur Flüchtlingskrise, insbesondere die ARD Tagesschau „die Interessen der Zuwanderer meist über die Interessen der Einheimischen“20, gestellt habe. Deren Berichterstattung habe fälschlich „tatsächlich überwiegend den Eindruck vermittelt, dass es sich bei den Zuwanderern vor allem um Frauen und Kinder handele“. Die Berichterstattung führender deutscher Medien sei zum Flüchtlingsthema nicht ausgewogen, resümierten die Mainzer Forscher. Ein Studie im Auftrag der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung21 zur Migrations-Berichterstattung in deutschen Printmedien kam zu ähnlichen Ergebnissen.

Während das offenkundig gewordene Repräsentationsdefizit in Sachen Migrationspolitik bei der folgenden Bundestagswahl der migrationskritischen AfD knapp 100 Mandate bescherte, öffnete das Glaubwürdigkeitsdefizit der Leitmedien den Desinformationskapagnen des Kreml ein mediales Scheunentor. Migrantenfeindliche Hetzkampagnen der Kreml-Trollfabriken überhöhten die (tatsächlich überproportionalen) Kriminalitätsraten von Zuwanderern bei bestimmten Delikten ins Gigantische. Greuelmärchen über Verbrechen an „deutschen Frauen“, tausendfach von automatischen Fake-Accounts multipliziert, fluteten die sozialen Netzwerke und halfen kräftig dabei, die Vorbehalte gegen das Merkelsche Migrantionsregime in Deutschland zu emotionalisieren und zu einer Wutbürgerkultur aufwachsen zu lassen.

Als einer der Höhepunkte dieser Kampagne erfand der Kreml-finanzierte russische Internet-TV-Sender „RT-Deutsch“ (Russia-Today-Deutsch) den Entführungsfall eines Mädchens aus einer russischen Einwandererfamilie (Der „Fall Lisa“). Angeblich sollten „Flüchtlinge“ die Halbwüchsige gefangen halten. Bei einem öffentlichen Auftritt warf sogar Russlands Außenminister Sergei Lawrow deutschen Behörden „Vertuschung22“ vor. Tausende russlanddeutsche Einwanderer im gesamten Bundesgebiet ließen sich so zu Demonstrationen mobilisieren. Schließlich stellte sich der „Entführungsfall“ als komplett erfunden heraus. Die Halbwüchsige war ihren Eltern lediglich für ein paar Tage davongelaufen.

Spätestens seit dem „Fall Lisa“ ist „RT Deutsch“ (bis 2009 „Russia Today“) von den deutschen Sicherheitsbehörden als eine der Haupt-Drehscheiben russischer Desinformation unter genauer Beobachtung. Mit unzähligen Fälschungen und Halbwahrheiten in seiner Berichterstattung hat Putins TV-Sender alles getan, um dieser Einordnung gerecht zu werden. „Neben seinen Spionageinteressen ist Russland bestrebt, die politische und öffentliche Meinung in Deutschland im Sinne der russischen Politik zu beeinflussen. Russische Stellen zielen mittels Propaganda und Einflussmaßnahmen auf eine Beeinflussung beziehungsweise Desinformation verschiedener Adressatengruppen ab. Die zentralen Rollen nehmen dabei der Internetsender RT Deutsch, die Nachrichtenagentur Sputnik sowie soziale Netzwerke und staatliche oder private Institute (sog. Think Tanks) ein“, heißt es dazu im Verfassungsschutzbericht 201923. Im Vergleich zu den Jahren davor sei jedoch „in Bezug auf Deutschland eine gewisse Mäßigung der Aktivitäten zu verzeichnen“, heißt es dort weiter.

Das hat sich ganz offenbar im Verlauf des Pandemie-Jahres 2020 wieder geändert. Der Verfassungsschutzbericht 2020 liegt zwar nicht vor, Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang warnte aber bereits im Oktober 2020, dass russische Medien verstärkt „auf ihren deutschsprachigen Kanälen Desinformation und Propaganda über die Corona-Situation in Deutschland“ verbreiten. „RT Deutsch“ operierte offenbar wie eine operativ agierende Außenstelle des russischen Geheimdienstes, als der Sender zuletzt im Zusammenhang mit seiner „Berichterstattung“ über den vergifteten und in der Berliner Charité behandelten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny berichtete. Der sollte gemäß chefredaktioneller Weisung von „RT-Deutsch“-Mitarbeitern ausspioniert werden24.

Neben Desinformationskampagnen im Internet setzt der Kreml offenbar ebenso auf Infiltration über klassische Broadcast-Medien wie „RT-Deutsch“. Dafür sprechen die Bemühungen russischer Stellen, „RT Deutsch“ bald auch konventionell via Kabel und Satelliten-TV auszustrahlen. Nach Einschätzung von Lennart Maschmeyer, Senior Researcher am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich, bleiben Broadcast-Medien sogar der Haupttransmissionsriemen im Desinformationsgeschäft. Aus seiner Analyse der hybriden Kriegsführung in der Ukraine schlussfolgert er, „dass der derzeitige Fokus auf die Bedrohung durch digitale Desinformation unangebracht ist25.“ Ganz im Gegenteil seien in diesem Paradebeispiel der hybriden Kriegsführung traditionelle, nicht digitale, Medien die wichtigsten „Verteilerstationen“ von Desinformation. „Ähnliches zeichnet sich bei einigen laufenden Forschungen ab, die zeigen, dass traditionelle Medien – vor allem FOX News – bei der Verbreitung von Desinformationsnarrativen während der US-Präsidentschaftswahlen 2016 eine weitaus größere Rolle gespielt haben als digitale Medien“, so Maschmeyer weiter. Folglich sollten Strategien zur Bekämpfung des Einflusses von Desinformation über den derzeit sehr begrenzten Fokus auf Technologie und digitale Medien hinausgehen.“

Dass wäre doch mal eine gute Nachricht für unsere öffentlich-rechtlichen Qualitätsmedien. Umso weniger „Lücken“ sie in ihrer Berichterstattung zu den kontroversen Themen unserer Zeit lassen, desto enger werden die Spielräume für ihre Pendants in den Diensten russischer und anderer Diversions-Agenturen. Ein Virus kommt eben selten allein.

 

1Europäischer Rat: „Bekämpfung von Desinformation

2„EU vs. DiSiNFO“: https://euvsdisinfo.eu/de/

3SWP: „Russlands neue Militärdoktrin“

4ebd.

5ebd.

6Mythos „Gerasimov-Doktrin“, Christoph Bilban und Hanna Grininger (Hrsg.), Wien 2019, S. 290 ff.

7ebd.

8Der Fall Andrej Holm

9bpb: Vertuschte Gefahr: Die Stasi & Neonazis

10Tsp.: 13.12.2016 „Streit um Stasi-Vergangenheit von Anetta Kahane“

11„Die Zeit“, 3.9.2020: „Wir machen es den russischen Diensten sehr leicht“

12Dr. Susanne Spahn: Russische Medien in Deutschland, Interview mit Susanne Spahn, Interview Fr.-Naumann-Stiftung

13„netzpolitik.org“: „Russische Desinformation, Das Netzwerk gefälschter Auslandsmedien“

14ebd.

15„Die Zeit“ 31.8.16: „Viele Anhänger von AfD und Die Linke vertrauen Putin mehr als Merkel“

16„SZ“ 22.2.2017: „Le Pen und die russischen Millionen“

17bpb: „Dossier Digitale Desinformation“ S. 6

18„FAZ“ 16.12.2015 „Mehrheit fühlt sich über Flüchtlinge einseitig informiert“

19„Die Zeit“, 12.2.2015 „Ausweitung der Kampfzone“

20„FAZ“ 11.1.2019 „Nicht ausgewogen genug“

21Die „Flüchtlingskrise“ in den Medien – Tagesaktueller Journalismus zwischen Meinung und Information

Informationen zum Arbeitsheft 93

22„Tsp.“ 26.1.2016 „Russlands Außenminister wirft Berliner Polizei ´Vertuschung´ vor“

23Bundesamt für Verfassungsschutz

24„Bild“ 10.3.2021: „So rechtsextrem tickt Putins Propaganda-Sender“

25„CSS ETH Zürich“:„Digitale Desinformation: Erkenntnisse aus der Ukraine“