Väterchen schwächelt

Jahrelang war Lukaschenkas Belarus ein Hort der Stabilität - das hat sich geändert

von Christoph Becker1

In Belarus ist die Gesellschaft wie aus einem langen Dämmerschlaf erwacht. Die Freiheitsbewegung kam für viele so unerwartet wie das Ende der DDR vor 30 Jahren. Mit landesweiten Protesten und Streiks versuchen die Leute die autoritäre Herrschaft von Alexander Lukaschenka abzuschütteln. Anders als 1989 hat sich Moskau entschieden, den bereits wankenden letzten Diktator Europas zu stützen. Die Menschen werden aber nicht mehr in die subalterne Ordnung der vergangenen 26 Jahre zurückkehren. Und sie verstehen, dass es Putin ist, der sie daran hindert, ihre Freiheit zu erlangen.

Foto: Monatelang Proteste in der Hauptstadt Minsk

Der Blick zurück: Stabilität und bescheidener Wohlstand

Über viele Jahre galt in Belarus ein ungeschriebener Gesellschaftsvertrag: Verzicht auf Demokratie und Freiheitsrechte im Tausch gegen Stabilität und bescheidenen Wohlstand. Die Leute beobachteten, wie die ehemaligen sowjetischen Brüder und Schwestern in Russland und der Ukraine in den 1990er Jahren durch ein tiefes Tal von Armut, Gewalt, Mafia und Oligarchie gingen. In Minsk hingegen gab es die saubersten Straßen Europas. Straßenkriminalität war in dem Polizeistaat quasi nicht vorhanden. Lukaschenka hatte nach seiner Machtübernahme 1994 mit Hilfe einer Todesschwadron die lokalen Mafiabosse außergerichtlich erschießen lassen. 1999 und 2000 verschwanden vier Oppositionelle, von denen ausgegangen wird, dass auch sie von der Todesschwadron Lukaschenkas ermordet wurden. Die Untersuchung der Fälle durch den Europarat führten den Berichterstatter Christos Pourgourides zu der begründeten Annahme, „dass auf höchster Staatsebene Schritte unternommen wurden, um das Verschwindenlassen zu verschleiern, und zu der Vermutung, dass hochrangige Staatsvertreter selbst in die Fälle involviert sein könnten.“2 Für Ruhe sorgte auch der Fortbestand der Todesstrafe, bei der man davon ausgehen kann, dass sie im Zweifel auch zum politischen Instrument werden könnte. Die soziale Schere ging kaum auseinander, auch wenn das ein Leben in Bescheidenheit abverlangte. Lukaschenka hatte die sowjetischen Kombinate und damit auch den Großteil der Arbeitsplätze erhalten. Noch vor zehn Jahren waren gut 80 Prozent der Arbeitnehmer in staatlichen Betrieben angestellt. Die hohe Staatsquote bei den Arbeitsplätzen war ein entscheidendes politisches Repressionsinstrument. Aufmüpfigen wurde mit Entlassung gedroht. Jeder wusste, dass es kaum eine Chance auf einen Arbeitsplatz im privaten Sektor gab. Subventioniert wird bis heute die konservierte Sowjetwirtschaft durch Russland, das über Kredite und günstige Energielieferungen jährlich rund 8 Mrd. USD nach Belarus pumpt. Insbesondere der Ankauf von billigem Rohöl und der Weiterverkauf raffinierter Produkte wie Benzin und Diesel auf westlichen Märkten ist ein einträgliches Geschäft. Allerdings dreht der Kreml seit einigen Jahren an der Energiepreisschraube, um Belarus stärker seiner politischen und militärischen Kontrolle zu unterstellen.

Über viele Jahre genoss Lukaschenka aufgrund der herrschenden Stabilität und Ruhe hohe Zustimmungswerte von deutlich über 50 Prozent. Seine Unterstützungsbasis waren vor allem die ländlichen Regionen, die Arbeiter in den großen Staatsbetrieben und natürlich der Sicherheitsapparat.

Foto: Der Belarus-Traktor. Zu Sowjetzeiten belieferte Belarus den Ostblock mit Transportfahrzeugen

 

Abgesehen von den Anhängern der Opposition, die vielleicht 20 Prozent der Bevölkerung ausmachten, lebte in der belarussischen Gesellschaft die sozialistische Mentalität ideologisch fort. Die Leute waren weitgehend entpolitisiert, autoritätshörig und -gläubig. Sie kamen gar nicht auf die Idee, dass sie ihr Zusammenleben in der Gesellschaft selbst gestalten könnten, geschweige denn, ein Anrecht darauf hatten. Lukaschenka beförderte dies, indem er auch ästhetisch die gute alte Sowjetzeit beschwor. Er setzte sich als Batka („Väterchen“) in Szene – ein bäuerlicher Staatslenker, der persönlich alle Probleme löst und auch mal im Fernsehen seine stramm stehenden Minister abkanzelte. Legendär sind seine jährlichen Auftritte im Herbst, bei denen er auf dem Trecker sitzend oder mit der Sense in der Hand die Erntesaison anführt.

Foto: Minsk. Der gesellschaftliche Wandel verläuft langsam, aber sichtbar.

Umbruch und Aufbruch

Die Opposition war marginalisiert und nach der Niederschlagung der Proteste gegen Wahlfälschung 2010 geradezu enthauptet und als politischer Faktor ausgeschaltet. Doch das Internet hatte nicht nur einen kleinen privaten IT-Sektor nach Belarus gebracht. Die junge Generation wuchs bereits international vernetzt auf. Sie entwickelte kreative Protestformen, wie jene Menschen, die sich 2011 klatschend auf die Straßen stellten und natürlich verhaftet wurden. In den vergangenen Jahren konnte man sehen, wie in Minsk in ehemaligen Industriequartieren eine alternative Kunst- und Kulturszene entstand, die sich außerhalb der staatlichen Strukturen bewegte. So etwas hatte es wenige Jahre zuvor noch nicht gegeben. Der Staat tolerierte dies, weil er es offensichtlich für unpolitisch und damit ungefährlich hielt. Es war eine Generation herangewachsen, die der staatlich verordneten Tristesse mit kreativen Mitteln trotzte. Für Aufsehen sorgte vor gut einem Jahr der Erfolg eines jungen Videoeditors, der unter dem Pseudonym „Nexta“ aus seinem Warschauer Exil einen Youtube-Kanal für das belarussische Publikum vertreibt. Sein 60-minütiger politischer Film über Lukaschenka3, dessen Machtübernahme, die Zerstörung der Demokratie und Verfolgung politischer Gegner wurde in kurzer Zeit über 1 Mio. Mal aufgerufen. Für einen Film in einem Land von 10 Mio. Einwohnern ist dies eine beachtliche Zahl. Vor allem zeigte sich, dass die junge Generation keineswegs so unpolitisch war, wie man lange Zeit vermuten konnte.

Das Missmanagement der Covid-19-Pandemie brachte die Unterstützung für Lukaschenka vollends ins Wanken. Der Diktator tat die Pandemie als „Psychose“ ab, empfahl als Therapie Traktorfahren, Saunieren und das Inhalieren von Lagerfeuerrauch. Weil der Staat keine Maßnahmen zur Eindämmung unternahm, organisierten die Leute den Lockdown kurzerhand selbst. Sie blieben, so sie konnten, einfach zu Hause. Bereits in den Monaten zuvor war erfolgreich unter dem Twitter-Hashtag #ByHelp Geld für Opfer von politischen Administrativstrafen gesammelt worden („BY“ ist als Kfz-Kennzeichen das Länderkürzel von Belarus). Dieser Hashtag wurde nun zu #ByCovid19 umgewandelt, um Handlungsempfehlungen zu verbreiten, Gelder zu sammeln, Hilfsinitiativen, Freiwillige und Unterstützung für Krankenhäuser, Ärzte und Pflegepersonal zu koordinieren. Einige besorgten sogar auf eigene Kosten Beatmungsgeräte aus dem Ausland. Der autoritäre fürsorgliche Staat hatte in seiner Kerndomäne versagt: der Fürsorge. Und die Leute spürten, dass die Gesellschaft auch ohne Staat in der Krise gut funktioniert. Sie hatte begonnen, sich vom autoritären Staat zu emanzipieren.

Der gleichzeitig beginnende Wahlkampf zur Präsidentschaftswahl am 9. August 2020 war geprägt von wiederkehrenden anonymen Botschaften, die auf Hauswänden, an Kiosken, Schildern und vor allem auf Fotos im Internet verbreitet wurden: „Psychose“, „3%“ und „Ich/Wir 97%“. Die letzten beiden spielten auf eine Umfrage an, die eine unabhängige Internetplattform erhoben hatte. Dem Ergebnis zufolge unterstützten nur noch 3 Prozent den amtierenden Präsidenten. Auch wenn die Zahlen deutlich übertrieben waren, gaben sie eine gesellschaftliche Stimmung wieder, die überall mit Händen zu greifen war. Der Wandel lag in der Luft.

Die Opposition

Neben Lukaschenko stellten sich drei Männer zur Wahl, die allesamt Neulinge in der Politik waren. Viktor Babariko war viele Jahre Chef der BelGaspromBank, einer belarussischen Tochter des russischen Gasgiganten. Er gehörte damit der belarussischen Nomenklatura an. Wenngleich in russischen Diensten, ist er offensichtlich der belarussischen Kultur verbunden, kaufte Werke berühmter belarussischer Künstler an und sorgte so dafür, dass erstmals Bilder von Marc Chagall, Haim Sutin, Ossip Zadine und anderer in Belarus zu sehen waren.

Valeri Zepkalo entstammt ebenfalls der Nomenklatura. Er war zuvor Botschafter und baute in den letzten Jahren einen Technologiepark bei Minsk auf. Sergej Tichanowski hingegen wurde als Youtuber bekannt. Er ist ein eher hemdsärmeliger Typ, der in die Provinz fuhr und die ganze marode Misswirtschaft und die Unzufriedenheit der Landbevölkerung dokumentierte. Tichanowski war mit seinen boulevardesken Video-Dokumentationen nicht nur enorm erfolgreich. Er stieß damit vor allem in das ländliche Kernelektorat Lukaschenkas vor, der bei den Städtern und der Intelligenzija traditionell eher weniger Zustimmung fand. Diese sahen in ihm eher einen Bauerntölpel, der seine Herkunft als ehemaliger Chef einer Kolchose extra herausstellte, um sich als Mann der kleinen Leute zu gerieren.

Lukaschenka hatte verstanden, dass die drei Herausforderer eine ernstzunehmende Gefahr für ihn darstellten. Der Wunsch nach einem Wandel war nicht zu übersehen. Während die Leute Babariko und Zepkalo aufgrund ihrer Herkunft aus der Nomenklatura zutrauten, die Führung des Landes übernehmen zu können, trat Tichanowski viel authentischer als Lukaschenka für die kleinen Leute ein und strafte dessen Selbstdarstellung als „Kümmerer der Nation“ Lügen. Entsprechend erfolgreich waren die Kampagnen der drei Kandidaten. Es kam zu langen Schlangen an deren Ständen, um Unterschriften für ihre Kandidatur abzugeben.

Lukaschenka entschied sich, frühzeitig die Herausforderer auszuschalten. Babariko und Tichanowski wurden unter fadenscheinigen Gründen inhaftiert. Zepkalo floh vor der drohenden Verhaftung mit seinen Kindern nach Moskau. Die Frau Tichanowskis, Swetlana Tichanowskaja, konnte sich statt ihres Mannes mit dessen Unterschriftensammlung erfolgreich als Kandidatin registrieren. Sie schloss sich mit Zepkalos Ehefrau Veronika und der Wahlkampfmanagerin Babarikos, Maria Kalesnikowa, zu einem Team zusammen. Die drei jungen Frauen traten nun stets gemeinsam auf. Sie symbolisierten das junge, moderne Belarus, das mit der Sowjetnostalgie des anachronistischen Langzeitherrschers nichts mehr anfangen kann. Die Lehrerin Tichanowskaja machte von Anbeginn klar, dass es ihr nicht um das Präsidentenamt geht. Sie kündigte an, im Falle eines Wahlsiegs nur den Übergang zu einer demokratischen Neuwahl gestalten zu wollen, an der dann auch die Inhaftierten unbehelligt teilnehmen könnten.

Die drei Frauen vertraten also kein nennenswertes politisches Programm. Einzige Forderung waren politische Meinungsfreiheit und freie Wahlen. Es ging ihnen eher darum, die Diktatur abzuschütteln, als um die Frage, was danach kommen soll. Die Frauen versprühten dennoch Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Freiheit, für eine moderne Gesellschaft und die Möglichkeit zur freien Entfaltung. Sie bündelten erfolgreich die Kräfte des Landes, die die Herrschaft und Bevormundung Lukaschenkas endgültig satt hatten, und brachten so offensichtlich die Mehrheit des Landes hinter sich. Ihre enorme Strahlkraft und Mobilisierungsfähigkeit zeigten sich bei einer Kundgebung wenige Tage vor der Wahl, bei der sie rund 70000 Anhänger versammeln konnten. An allen Orten wurden sie als Hoffnungsträgerinnen bejubelt und provozierten spontane Zustimmungsbekundungen vorbeifahrender hupender Autos.

Weg in die Krise und Proteste

Lukaschenka ließ die Wahl am 9. August 2020 fälschen. Die Wahlkommission verkündete das offizielle Ergebnis, demzufolge der Amtsinhaber 80 Prozent der Stimmen, Tichanowskaja aber nur 12 Prozent erhalten haben soll. Die Leute waren empört wegen der Dreistigkeit dieser Lüge, die allen Erfahrungen der vergangenen Wochen, dem gesunden Menschenverstand und den wahren Ergebnissen widersprach. In einigen Dutzend Wahllokalen hatten sich die Auszählenden geweigert, die offiziell vorgegebenen Zahlen zu melden und stattdessen die wahren Ergebnisse an ihren Wahllokalen angeschlagen. Hier war das Ergebnis umgekehrt: Tichanowskaja hatte vier bis fünf Mal so viele Stimmen wie Lukaschenka erhalten. Unabhängige Nachwahlbefragungen bestätigten diesen Trend.

Inzwischen ist bekannt, dass der Sicherheitsapparat bereits im Vorfeld auf eine möglichst brutale Niederschlagung der zu erwartenden Proteste setzte. Die Sicherheitskräfte waren entsprechend indoktriniert und zu unerbittlicher Gewaltanwendung angehalten worden. In den Abendstunden des Wahltags und der drei folgenden Tage kam es zum Einsatz von Schlagstöcken, Blendgranaten und Gummigeschossen. Mindestens fünf Personen starben. Tausende friedlich Protestierende wurden bereits in den ersten Tagen inhaftiert. Am Tag nach der Wahl wurde in Sluzk bei Minsk eilig ein improvisiertes Internierungslager im Freien hochgezogen, weil die Gefängniskapazitäten nicht ausreichten. Viele wurden in Haft schwer misshandelt, bedroht und gefoltert. Angehörige standen vor den Gefängnissen, forderten die Freilassung und mussten vor den Gefängnismauern Schreie von Schmerzen und Qualen vernehmen. Zunehmend kommt das ganze Ausmaß der Gewalt und Folter durch Berichte von Menschenrechtsorganisationen an die Öffentlichkeit.

Als die nächtlichen Proteste zunächst abflauten und die Angst vor den Repressionen zu siegen schien, gingen eine halbe Woche nach der Wahl im ganzen Land tagsüber Frauen in Weiß auf die Straße. Mit weißen Blumen in den Händen forderten sie das Ende der staatlichen Gewalt und die Freilassung der Inhaftierten. Seitdem ist es zur Tradition geworden, dass Samstags Frauen in Weiß auf die Straßen gehen und Sonntags eine Großdemonstration mit regelmäßig rund 100000 Teilnehmern zum Präsidentenpalast pilgert. Sie fordern den Rücktritt des Diktators, der sich brutal gegen sein Land gewandt hat. Sie wollen freie Wahlen und rufen „Tribunal“. Lukaschenka soll für seine Taten zur Verantwortung gezogen werden.

Anfangs waren die Sicherheitskräfte im Umgang mit den Frauen irritiert, die ihre Logik des staatlichen Terrors aushebelten. Die Frauen standen für die Friedfertigkeit des Protests. In Gewaltsituationen gingen sie immer wieder erfolgreich dazwischen, konnten auch Protestierende von nur allzu verständlichen Wutreaktionen abhalten, selbst in Situationen, in denen sie Sicherheitskräften überlegen waren und diesen leicht hätten Schaden zufügen können. Inzwischen ist das Regime dazu übergegangen, die Scheu vor dem offenen Gewalteinsatz gegen Frauen abzulegen und die Bilder brutaler Gewalt gegen Frauen durch vermummte und gepanzerte Schläger in Kauf zu nehmen.

Jedoch hat Lukaschenka an zwei Punkten den Bogen überspannt. Zum ersten war die Fälschung der Wahl dieses Mal zu dreist. Es war nicht wie in den vergangenen Jahrzehnten bloß der lächerliche Versuch, den eigenen Wahlsieg nach sozialistischen Maßstäben auf mehr als 90 Prozent Zustimmung zu trimmen. Wäre diesmal ein knapper Wahlsieg vielleicht noch zu vermitteln gewesen, wurde der Versuch des Machthabers zur eigenen Gesichtswahrung mit angeblichen 80 Prozent Zustimmung von den meisten als Schlag ins Gesicht empfunden. Zum zweiten führte die völlig entgrenzte Gewalt gegen normale Leute, die sich nichts weiter zu Schulden haben kommen lassen, zu einer Situation, in der der Machthaber für weite Teile der Bevölkerung endgültig jegliche Legitimität verloren hat. Ein Zurück zum Alten ist kaum noch denkbar. Lukaschenka wird sich nur noch durch Staatsterror und seinen Polizeistaat an der Macht halten können.

Wie sehr Lukaschenka mit seinen Methoden der Wahlfälschung und Gewalt politisch überzogen hat, zeigten die wöchentlichen Proteste, die trotz Repressionen bis zum Einsetzen des Winters über viele Wochen regelmäßig bis zu Hunderttausend und mehr nicht nur in der Hauptstadt, sondern landesweit auf die Straßen brachten.

Prognose. Wie geht es weiter?i

Im August 2020 gab es Situationen, in denen Lukaschenkas Macht sichtlich ins Wanken geriet. Dies war ersichtlich, als er im Minsker Traktorenwerk – eigentlich eine typische Unterstützerbastion – von den Arbeitern ausgebrüllt wurde, er solle verschwinden; als die Arbeiter in den großen Staatsbetrieben wie dem Düngemittel-Kombinat Grodno Azot Streiks organisierten und auch die Belegschaft des staatlichen Fernsehens in den Streik ging und sich weigerte, die immer absurdere Staatspropaganda zu verbreiten. In dieser für den Apparat riskanten Lage kam der Kreml aus der Deckung und entschloss sich, Lukaschenka vorrübergehend an der Macht zu halten. Es wurden Sicherheitskräfte für alle Fälle nach Minsk beordert. Ein russisches Team übernahm das Fernsehen, um die Sendung von Propaganda aufrecht zu erhalten.

Drohungen mit Entlassungen erstickten die Streiks. Die frühzeitige Zerschlagung der Oppositionsstrukturen, wie die Verhaftung oder Vertreibung des Koordinierungsrates der Opposition ins Ausland führten zu keinem Abbruch der Proteste. Das besondere an den Protesten in Belarus ist, dass sie als weitgehend ungesteuerte Bewegung funktionieren, seien es spontane Nachbarschaftsaktionen oder die wöchentlichen Großdemonstrationen. Das Regime ist deshalb schnell dazu übergegangen, kleinteilig gegen renitente Einzelpersonen und lokale Aktivsten vorzugehen. Die Verhaftungswellen halten bis heute an. Landesweit erregte der Fall von Raman Bandarenka Aufsehen. Der Nachbarschaftsaktivist wurde von zivilen Schlägern des Regimes auf seinem Hof zu Tode geprügelt. Ein behandelnder Arzt, der der öffentlichen Darstellung widersprach, Bandarenka sei alkoholisiert gewesen, wurde inzwischen vom Regime verurteilt. Gleiches geschah mit einer Journalistin, die über die Aussagen des Arztes berichtete. Der Staat geht mit Haftstrafen gegen die Wahrheit vor.

Der Machtapparat steht weiter anscheinend geschlossen hinter Lukaschenka. Risse sind nicht erkennbar. Es herrscht ein System aus gegenseitiger Loyalität, die für die Beamten wirtschaftliche Absicherung und Vergünstigungen bedeutet. Der Diktator hat über die Jahre immer wieder die hohen Positionen im Apparat willkürlich umbesetzt und auch hochrangige Führungsmitglieder unerwartet wegen Korruption verhaften und zu langjährigen Haftstrafen verurteilen lassen. Dadurch etablierte er selbst in der hohen Führungsebene ein System der Angst und Unsicherheit. Zudem weiß Lukaschenka Angst im Machtapparat vor einem Umsturz zu säen. Er zeichnete Polizeibeamte aus, die an der Niederschlagung von Protesten beteiligt waren, machte ihre Identitäten öffentlich und sie so unweigerlich zu Schicksalsgenossen. Zuletzt warnte er vor einem Gaddafi-Szenario im Falle eines Umsturzes.

Inzwischen wird der Apparat minutiös von Leuten gesäubert, deren Loyalität als fraglich gilt. Es gibt eine regelrechte Entlassungswelle vor allem im Bildungsbereich. Aber auch auf Bezirksebene werden reihenweise leitende Amtsträger entlassen. Hierfür genügt es, wenn die Betroffenen die Gewalt verurteilten, die Vorgaben zur Wahlfälschung missachteten oder keine Busse für Gegendemonstrationen zur Unterstützung Lukaschenkas organisierten. Beobachter nehmen an, dass die Entlassungswelle zu einer Zunahme der staatlichen Gewalt führen könnte, weil der Einfluss mäßigender Kräfte schwindet. Auch steht die Funktionsfähigkeit des Systems mittelfristig in Frage. Die Entlassung trifft in der Regel höher und besser Qualifizierte und erzeugt einen künstlichen Arbeitskräftemangel im Staatsapparat.

Einzelne Vertreter des Machtapparats haben sich öffentlich der Opposition angeschlossen. Der prominenteste ist der ehemalige Kulturminister und Botschafter in Paris, Pawel Latuschko. Er baut derzeit im Exil eine Art Schattenregierung aus jungen Oppositionellen auf, die im Falle eines Machtwechsels in der Lage sein soll, interimsmäßig die Regierung zu übernehmen. Die Schattenregierung ist eine Initiative des Koordinierungsrats der Opposition, dem auch die ehemalige Präsidentschaftskandidatin Swetlana Tichanowskaja angehört. Sie wurde offensichtlich unter Androhung von Gewalt gegen sich oder Angehörige wie ihren inhaftierten Mann außer Landes getrieben. Im litauischen Exil hat sie einen professionellen und politisch talentierten Beraterstab aufgebaut. Sie selbst lässt deutlich erkennen, dass Politik nicht ihre natürliche Domäne ist und sie lieber früher als später die Rolle der oppositionellen Führungsperson an andere übergeben will. Sie ist aber bereit, diese Rolle auszufüllen, solange sie hierfür noch gebraucht wird. Gemeinsam mit dem Team von Latuschko werden Konzepte für die Machtübergabe, für Verfassungsänderungen, Wirtschafts- und Bildungsreformen usw. erarbeitet.

Die zweite des weiblichen Oppositionstrios, Veronika Zepkalo, ist vor der Verfolgung im August zu ihrer Familie ins Ausland geflohen und spielt derzeit keine herausragende Rolle mehr. Das größte erkennbar politische Talent der drei hat Maria Kalesnikowa. Die Musikerin, die eine Zeitlang in Deutschland lebte, verfügt über politisches Gespür, beeindruckende Willensstärke und Furchtlosigkeit. Als sie durch Anonyme entführt und, im Unklaren darüber, was mit ihr geschehen solle, zur ukrainischen Grenze gebracht wurde, um außer Landes geschafft zu werden, ließ sie sich dadurch nicht einschüchtern, obwohl allen im Lande bekannt ist, dass Lukaschenka in der Vergangenheit bereits Todesschwadronen einsetzte. Vielmehr zerriss sie an der Grenze ihren Pass, um der Verschleppung zu entgehen. Ihr war offensichtlich klar, dass sie im Ausland als politische Figur kaltgestellt ist. Interviews, die über ihre Anwältin mir ihr in Haft geführt wurden, lassen erkennen, dass ihre enorme psychische Stabilität die Repression des Machtapparats an ihr abprallen lässt. Sie geht mit Güte mit ihren Peinigern um und ist selbst dankbar für die Zeit in Haft, die sie als wichtige Erfahrung mit bereichernden Begegnungen mit anderen Inhaftierten und als Zeit für Lektüre wahrnimmt.

Entscheidend für die Zukunft der Opposition wird sein, ob es gelingt, die Proteste im Frühjahr wieder aufleben zu lassen. Das Regime trifft bereits Vorkehrungen dagegen. Ein Gesetz gegen „Extremismus“ soll jegliche Protestform zu einem Straftatbestand machen. Ein zweites Gesetz nach russischem Vorbild über „ausländische Agenten“ zwingt alle, die Zuwendungen aus dem Ausland erhalten, sich offiziell zum Agenten ausländischer Mächte zu erklären. Zahlungen aus dem Ausland können unterbunden werden. Die Achillesferse des Regimes sind die großen Staatsbetriebe. Sollten hier flächendeckende Streiks stattfinden, könnte das Regime in wenigen Tagen kollabieren. Auch der Kreml, der einen demokratischen Wandel bei seinem engsten Verbündeten nicht dulden wird, könnte die streikenden Arbeiter nicht ohne weiteres ersetzen, wie er das beim Fernsehen tat. Letztlich hängt das Schicksal des Landes aber dennoch vom Kreml ab. Der Westen ist derzeit nicht gewillt, angesichts des ohnehin angespannten Verhältnisses zum Kreml, dieses wegen Belarus weiter zu verschärfen. In den westeuropäischen Hauptstädten fürchten viele in vorauseilender Akzeptanz russischen Einflussdenkens, ein massiveres Auftreten pro Belarus würde vom Kreml als Einmischung in innere Angelegenheiten angesehen werden.

Der Kreml hat erkennen lassen, dass er den unbequemen Lukaschenka lieber früher als später durch einen gefügigeren Machthaber ersetzen würde. Man hat die Opposition im Wahlkampf nicht ohne Sympathie betrachtet und auf eine Schwächung Lukaschenkas, nicht aber auf eine unkontrollierte Situation, geschweige denn eine demokratische Revolution gesetzt. Für einen geordneten Machtwechsel in Minsk nach Gusto des Kreml gibt es aber bislang keine erkennbare Strategie und keine geeigneten Kandidaten. Dennoch macht Moskau Druck auf Lukaschenka für eine Verfassungsreform, die eine Machtübergabe einleiten könnte.

Mit seinem Festhalten am Regime in Minsk verspielt der Kreml zusehends die Sympathie und mentale Verbundenheit der Belarussen mit Russland. Die Leute verstehen, wer den brutalen Polizeistaat des Herrschers an der Macht hält, der völlig abgewirtschaftet und jegliche Legitimation verloren hat.

1Autor: Christoph Becker, Programmdirektor Gesellschaftspolitik beim Zentrum Liberale Moderne.

2 Christos Pourgourides, Disappeared persons in Belarus, Report to the Committee on Legal Affairs and Human Rights of the Parliamentary Assembly of the Council of Europe (Doc. 10062), 4. Februar 2004, assembly.coe.int/nw/xml/XRef/X2H-Xref-ViewHTML.asp

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