Das Schweigen brechen - Vielfältige Erinnerungen und neue Verklärungen

Blick nach Russland1

Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur in der Russischen Föderation

von Anna Kaminsky

Am 22. Juli 2020 wurde gegen den russischen Bürgerrechtler und Memorial-Aktivisten Jurij Dimitrieff das Urteil in einem seit 2016 laufenden Prozess wegen angeblichen Kindesmissbrauchs gesprochen. Er wurde nach einem ersten Freispruch vom März 2018 zu nunmehr 3,5 Jahren Lagerhaft verurteilt. Als Begründung für das Urteil dienten Fotos, die Dimitrieff von seiner Adoptivtochter im Alter von drei bis sieben Jahren aufgenommen hatte. Auf einigen dieser Aufnahmen ist das Kind nackt. Wie medizinische Gutachter vor Gericht aussagten, gehört dies zu einer allgemein anerkannten und üblichen Praxis, um den körperlichen Zustand von in Obhut genommenen Kindern zu dokumentieren. Beweise oder Belege für einen Missbrauch gab es nicht.

Beobachter des Prozesses aus dem In- und Ausland vermuteten hinter dem Prozess ganz andere Beweggründe: Es gehe eher darum, die zivilgesellschaftliche Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen mundtot zu machen. Damit gehört Dimitrieff zur Reihe jener Archivare und Historiker, die in den letzten Jahren – oft unter fadenscheinigen Vorwürfen – ihrer Posten enthoben oder wie der Archangelsker Historiker Michail Suprun sogar unter Anklage gestellt wurden.

Dimitrieff gehört zu jenen Memorial-Aktivisten, die sich seit den 1980er Jahren um Aufklärung bemühen und über die während der Sowjetzeit begangenen Verbrechen forscht, denen Millionen Menschen zum Opfer fielen, aufgedeckt sowie Massengräber und Erschießungsplätze als Gedenkstätten gekennzeichnet und damit Teil des öffentlichen Gedenkens werden. Auf ihn geht die Lokalisierung von Massengräbern aus der Stalinzeit in Karelien und insbesondere die Einrichtung der Gedenkstätte in Sandormoch zurück.

Foto: Deutung neuerlich umstritten. Ehemalige Sowjetische Straflager.

Es ist sicher kein Zufall, dass in unmittelbarem Zusammenhang mit der Verhaftung Dimitrieffs im Herbst 2016 eine Untersuchung der Universität Petrosawodsk sowie der Militärhistorischen Gesellschaft zu dem Ergebnis kam, dass die in Sandormoch aufgefundenen Massengräber nicht von Mordaktionen des NKWD stammen würden. Vielmehr seien dort sowjetische Kriegsgefangene verscharrt, die durch finnische Truppen im Zweiten Weltkrieg ermordet worden seien. Mit dem stalinistischen Terror und dem „Großen Vaterländischen Krieg“ sind zwei große Themen der russischen Erinnerungskultur abgesteckt, die in der privaten und öffentlichen Erinnerung eine große Rolle spielen. Ergänzt werden diese beiden großen Erinnerungsstränge durch die Oktoberrevolution 1917.

Die Erinnerung an die Oktoberrevolution 1917

In der Sowjetzeit war die öffentliche und offizielle Erinnerung einerseits durch den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg und andererseits von der Oktoberrevolution bestimmt. Die regierungsamtlich und keinen Widerspruch duldende Erzählung lautete, dass die Bolschewiki unter der Führung Wladimir Iljitsch Lenins mit massiver Unterstützung breiter Bevölkerungskreise und der Armee die reaktionäre Herrschaft der Menschewiki und der bürgerlichen Regierung hinweggefegt und das russische Reich aus seiner Rückständigkeit in eine helle sozialistisch-kommunistische Zukunft geführt habe, in der soziale Gerechtigkeit für alle herrschte. Lenin gilt bis heute als Ikone des Umsturzes, als Sinnbild des „guten Anfangs“, der erst unter Stalin in Terror und Massenrepressalien entgleist sei. Als Zeichen der ungebrochenen positiven Erinnerung und Bezugnahme auf Lenin stehen die unzählige Denkmäler im ganzen Land, die im Unterschied zu den Denkmälern anderer Sowjetführer nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 191 nicht aus dem öffentlichen Raum entfernt wurden.

Obwohl die bis 1990 vorherrschende Erinnerung und Verherrlichung der Oktoberrevolution nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zunehmend in den Hintergrund trat, blieb Lenin als Symbol- und Projektionsfigur erhalten. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Ereignissen zwischen Februar 1917 und dem Oktoberumsturz sowie dessen Folgen blieb bis auf wenige Ausnahmen aus. Zu den Ausnahmen gehören der Bürgerkrieg und die Ermordung der Zarenfamilie. In der Sowjetunion war die Ermordung der Zarenfamilie im Juli 1918 in Jekaterinburg ein streng gehütetes Geheimnis. Man ahnte, dass der Mord an einer ganzen Familie international als Beleg für den barbarischen Charakter des kommunistischen Regimes gewertet und den Bemühungen der Sowjetunion um Aufnahme in die internationale Gemeinschaft schweren Schaden zufügen würde. Die Hinrichtungsprotokolle wurden als geheim eingestuft. Jedoch hielten sich jahrzehntelang Gerüchte über das Schicksal der Romanows. Bereits in den 1980er Jahren fanden Hobbyhistoriker in der Umgebung von Jekaterinburg die Überreste der Zarenfamilie. Der Fund galt damals noch als so brisant, dass die Entdecker bis Anfang der 1990er Jahre schwiegen. Nach dem Ende der Sowjetherrschaft wurden die Überreste geborgen, forensisch untersucht, die Identität bestätigt und schließlich in das inzwischen in St. Petersburg umbenannte Leningrad gebracht. Dort setzte man sie 1998 in der Kathedrale der Peter-und-Paul-Festung bei. 2000 erfolgten schließlich die Heiligsprechung der Zarenfamilie und wiederum acht Jahre später ihre Anerkennung als Opfer politischer Repression.

Die schwindende Bedeutung der Oktoberrevolution nach dem Ende der Sowjetunion war 2017 anlässlich des 100. Jubiläums der Oktoberrevolution zu bemerken. Die offiziellen Vorbereitungen für die Gedenkfeiern begannen erst sehr spät. Sie fokussierten auf die „ationale Versöhnung“ des seinerzeit durch den Bürgerkrieg zwischen „Roten“ und „Weißen“ zerrissenen Landes. In Verbindung mit den Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag wurde ein Revolutionsdenkmal auf der Krim in Sewastopol eingeweiht, das auch dem Gedanken der Versöhnung Rechnung tragen soll.2

Die Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg

Neben der Erinnerung an die Oktoberrevolution und die Durchsetzung der Sowjetherrschaft war die öffentliche und private Erinnerung auf den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ gerichtet. Dieser Krieg umfasste in der öffentlichen Darstellung und Erinnerung die Jahre 1941 – 1945 und endete mit dem Sieg über Nazi-Deutschland am 8. Mai 1945. Die Sowjetunion zahlte in diesem von Deutschland angezettelten Krieg mit über 27 Millionen Toten den höchsten Blutzoll. Es gibt kaum eine Familie, die keine gefallenen Soldaten oder von deutschen Truppen oder SS-Verbänden ermordete Familienmitglieder oder Freunde zu beklagen hätte. In den von Deutschen eroberten und besetzten Gebieten der ehemaligen Sowjetunion wurde die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung im Holocaust vorangetrieben wie schon zuvor in den eroberten Gebieten Polens. Die Erinnerung an den rassistischen Vernichtungs- und Eroberungskrieg, der von deutscher Seite mit unvorstellbarer Brutalität in den Kriegsgefechten, aber vor allem auch gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten geführt wurde, ist tief im Bewusstsein der sowjetischen bzw. russischen Bevölkerung verankert. In fast jedem Ort findet sich eine Erinnerungsstätte, die an die zumeist sehr jungen Soldaten aber auch Zivilisten erinnert, die in diesem Krieg ihr Leben verloren haben oder ermordet wurden.

Zum Sinnbild der von Deutschen begangenen Verbrechen wurde zum einen das Bild von der „verbrannten Erde“, das die deutschen Truppen auf Befehl der Obersten Heeresleitung überall dort hinterließen, wo sie durch die Rote Armee zum Rückzug gezwungen wurden. Zum anderen wurde das Aushungern von Leningrad durch die deutsche Blockade der Millionenstadt zwischen September 1941 und Januar 1944, der über eine Million Menschen zum Opfer fielen, zum Symbol für diese Verbrechen. In der Sowjetunion wurde die Erinnerung an den Krieg in Form von monumentalen Gedenkstätten gepflegt. Diese heben einerseits den heroischen Kampf hervor, andererseits vermitteln sie wegen ihrer schieren Ausdehnung einen Eindruck vom Ausmaß der erlittenen Opfer und Verluste. Jenseits der damit verbundenen staatlichen Erwartungen stehen sie auch für das persönliche Bedürfnis von Hinterbliebenen, die Toten zu ehren und die Erinnerung an sie auch sichtbar im öffentlichen Raum zu pflegen. Bis heute erhalten hat sich etwa das Ritual, dass junge Ehepaare ihre Hochzeitssträuße an solchen Denkmälern niederlegen.3

Die während der Sowjetzeit etablierten Gedenkrituale, die als monumentale militärische Aufmärsche und Waffenschauen gestaltet waren und den Sieg über den Faschismus in den Vordergrund stellten, sowie Macht und Stärke der Sowjetunion symbolisieren sollten, wurden mit einer Unterbrechung von 1991 bis1994 bis heute in der Russischen Föderation fortgeführt.4 Etabliert hat sich daneben in den letzten Jahren eine neue Form des öffentlichen Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg, die von zivilgesellschaftlichen Organisationen initiiert wurde und in der sibirischen Stadt Tomsk ihren Ausgang nahm. Hierbei steht nicht die schiere Zahl der Toten sondern die individuelle Trauer um getötete Familienangehörige im Vordergrund, die jede Familie erlitten hat. Unter dem Namen „Das unsterbliche Regiment“ tragen Tausende Menschen Fotos ihrer im Krieg gefallenen Angehörigen in langen Prozessionen durch die Straßen. Erinnert wird daran, dass der Preis für den Sieg sehr hoch war und die 27 Millionen Toten Namen und Gesichter hatten, dass sie Familien haben, die bis heute um sie trauern. Die Menschen erinnern damit daran, dass der Zweite Weltkrieg für jede Familie mit einem unendlichen Verlust verbunden war und bis heute ist: Großväter und Väter, Brüder, Schwestern, Onkel und Tanten, die in diesem Krieg ihr Leben ließen und die in den offiziellen Feierlichkeiten in der Sowjetunion hinter der Betonung des heroischen Sieges verschwanden. Mittlerweile ist diese Form des individuellen Gedenkens in staatliche Aktionen eingebettet oder, wie Kritiker sagen, staatlich kontrolliert. Das Verteidigungsministerium rief die Angehörigen dazu auf, Fotos und Lebensläufe ihrer Angehörigen abzugeben, eine Datenbank mit 31 Millionen Datensätzen wurde eingerichtet und auch Wladimir Putin marschiert mittlerweile mit einem Foto seines Vaters bei derartigen Anlässen mit.

Während der Große Vaterländische Krieg und der Sieg während der Sowjetzeit im öffentlichen Raum immer sichtbar waren, gab es zahlreiche andere für die sowjetische Gesellschaft traumatische Ereignisse, die erst mit dem Ende der Sowjetherrschaft öffentlich angesprochen werden konnten. Zu diesen Themen gehört beispielsweise dass die Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 auch zum Aggressor wurde und am 17. September 1939, also nur 17 Tage nach der deutschen Wehrmacht, polnische Gebiete von Osten her besetzte. Entsprechend dem „Geheimen Zusatzprotokoll“ zum Hitler-Stalin-Pakt und den dort vorgenommenen Gebietsaufteilungen zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland rückten sowjetische Truppen in die baltischen Staaten, Teile Rumäniens, der Ukraine und von Belarus vor. Gerechtfertigt wurden diese Besetzungen damit, dass „russische Minderheiten“ geschützt werden müssten und diese Gebiete ohnehin früher einmal zum russischen Imperium gehört hätten. In den nach 1939 besetzten Gebieten der drei baltischen Staaten, der Ukraine,von Belarus und Ostpolen verübte der sowjetische Geheimdienst NKWD Verbrechen an vermeintlichen Gegnern des Sowjetsystems, wie sie zuvor in der Sowjetunion selbst an der Tagesordnung waren. Im Juni 2020 veröffentlichte der Kreml zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges einen Artikel5 des Präsidenten der russischen Föderation Wladimir Putin. Mit ihm wird eine Neubewertung des Hitle-Stalin-Paktes vorgenommen. In dem Artikelgeht es einerseits um eine Würdigung des Kriegsendes und der unendlichen Verluste, die die Menschen der Sowjetunion für den Sieg über Hitler-Deutschland erlitten haben. Andererseits geht der Artikel in weiten Teilen auf die Vorgeschichte des Kriegsbeginns von 1939 ein und die seit längerem mit Polen bestehenden geschichtspolitischen Differenzen ein. Der Abschluss des Hitler-Stalins-Paktes 1939 wird zwar erwähnt, das geheime Zusatzprotokoll, jedoch nur indirekt und relativierend. Es heißt: „Wir wissen auch nicht, ob es irgendwelche 'geheime Protokolle‘ und Anhänge zu den Vereinbarungen einiger Länder mit den Nazis gibt“.6 Es bleibe nur, „aufs Wort zu glauben.“ Schließlich gibt sich Putin in dem Artikel Mühe nachzuweisen, dass Polen eine Mitschuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs trage und der „jüngste Komplize“ Nazi-Deutschlands bei der Teilung der Tschechoslowakei gewesen sei und damit die „darauffolgende Tragödie Polens […] voll und ganz auf dem Gewissen der damaligen polnischen Führung“ laste. Die Sowjetunion hingegen habe bis zuletzt versucht, den Krieg zu verhindern. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 sei ein Akt der Notwehr gewesen.

Die Realgeschichte zeigt ein anderes Bild als das offiziell vermittelte. Zwischen Herbst 1939 und 1940 griff die Rote Armee Finnland an und besetzte entsprechend dem Geheimen Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt Ostpolen, die drei baltischen Staaten und die Westukraine sowie das Gebiet der späteren Sowjetrepublik Moldawien. . Da die Sowjetunion offiziell jedoch erst seit dem 22. Juni 1941 mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht in den Zweiten Weltkrieg involviert war, stellten die Gefallenen der ersten beiden Kriegsjahre bis 1941 ein Tabudar. Auf Grabsteinen für gefallene Soldaten durften die Todesorte oder auch die Todesdaten nicht genannt werden,, wenn sie die Zeit zwischen Herbst 1939 und Sommer 1941 betrafen, bzw. in Gebieten lagen, mit denen die Sowjetunion in diesem Zeitraum Krieg führte.

Ein weiteres Ereignis, das in der Sowjetunion mit einer eigenen offiziellen Interpretation versehen wurde, die den tatsächlichen Verlauf tabuisierte, war der „Warschauer Aufstand“: Als die Rote Armee 1944 auf die polnische Hauptstadt vorrückte, löste die polnische Untergrundarmee „Armija Krajowa“ einen Aufstand aus, um die nationalsozialistische Herrschaft zu beenden. Die Aufständischen hofften, dass die sowjetischen Truppen vom östlichen Ufer der Weichsel aus unterstützend eingreifen würden. Stalin ließ seine Truppen jedoch stoppen und wartete ab, bis die deutsche Wehrmacht und SS-Verbände den Aufstand niedergeschlagen hatten. Erst dann setzte er seinen Vormarsch fort, der mit der Befreiung Warschaus von deutschen Truppen endete.

Teilweise uminterpretiert, reduziert und verfälscht wurde auch die Rolle der Partisanenverbände im Krieg. Diese hatten sich – entgegen der offiziellen Geschichtsschreibung - keineswegs nur heroisch gegen die deutschen Invasoren gestellt. Insbesondere in den baltischen, belarussischen oder ukrainischen Gebieten, die von der Sowjetunion besetzt worden waren, kämpften sie auch gegen die Rote Armee. Ebenso wenig wurden in der Sowjetunion die Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter thematisiert. Diese galten nach Stalins Vorgaben als „Vaterlandsverräter“, „Volksfeinde“ und sollten wegen ihrer „Feigheit“ als „Kollaborateure“ aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt werden. Hunderttausende aus den deutschen Lagern befreite Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter wurden nach dem Krieg oft gegen ihren Willen in die Sowjetunion gebracht und in die Lager des GULag verschleppt – als Strafe dafür, dass sie den Deutschen lebend in die Hände gefallen waren. Eine Anerkennung und Ehrung für ihr Schicksal fand lange nicht statt. Erst nach dem Ende der Sowjetunion und viele Jahrzehnte nach Kriegsende erfahren sie seit Mitte der 1990er Jahre eine Neubewertung.

Die Erinnerung an die Massenrepressalien der Stalinschen Terrorherrschaft

Die unter Stalins Herrschaft in der Sowjetunion begangenen Verbrechen sind inzwischen ein Thema, das in der öffentlichen Erinnerung angekommen ist. . Sie sind aber nach wie vor ein schwieriges Thema geblieben – trotz der Aufarbeitung in den vergangenen 30 Jahren. Zwar hat es bereits zu sowjetischen Zeiten eine Beschäftigung mit den stalinistischen Repressalien gegeben, jedoch war diese oft zeitlich eng begrenzt und Erkenntnisse verschwanden bald wieder aus der Öffentlichkeit und wurden tabuisiert. Die Erinnerung an die Massenrepressalien blieb zudem selektiv.

Angesichts der ungeheuren Todeszahlen – über 20 Millionen Menschen sollen dem Terror zum Opfer gefallen sein – gibt es auch hier fast keine Familie, die nicht auf die eine oder andere Weise betroffen war. Nicht nur, dass Millionen Menschen verfolgt und ermordet wurden oder in einem der unzähligen Lager durch Hunger, Krankheiten und die unmenschlichen Haft- und Arbeitsbedingungen zu Tode kamen. Zum Betrieb dieser Repressionsmaschinerie benötigte man viele Menschen, die bereit waren, bei der Geheimpolizei, als Folterer, Henker oder Wachleute in den Lagern zu arbeiten. Aber auch jene, die an den Mordaktionen beteiligt waren, gerieten teilweise selbst in die Maschinerie des Terrors und wurden selbst zu Opfern des zuvor von ihnen betriebenen Mordens. Dies betraf die kleinen Handlanger, die in die Massenrepressalien eingebunden waren ebenso wie jene, die an oberster Stelle in der Geheimpolizei neben Stalin die Terroraktionen befehligten wie Lawrentij Berija oder Nikolai Jeschow. So kann es sein, dass an ein und demselben Ort Opfer und Täter gemeinsam in Massengräbern liegen. Ein Beispiel dafür ist Nikolai Jeschow. Erwurde nach seiner Erschießung im Moskauer Butyrka-Gefängnis 1950 in einem der Massengräber auf dem Donskoje-Friedhof verscharrt.

Viele Opfer von Stalins „Säuberungen“ wurden nach seinem Tod 1953 rehabilitiert, unabhängig davon, ob sie Opfer oder zuvor auch Täter waren. Dennoch führte dies nicht dazu, dass es in der Sowjetunion eine anhaltende öffentliche Auseinandersetzung mit den Stalinschen Verfolgungen und Massenmorden gegeben hätte: Zu viele sowjetische Kader der Poststalinzeit waren auf die eine oder andere Weise in diese Verbrechen verstrickt oder hatten Stillschweigen gewahrt. Eine öffentliche Thematisierung hätte unangenehme Fragen nach ihrer eigenen Rolle oder zumindest ihrer Mitwisserschaft nach sich ziehen können. Die Abrechnung mit dem Stalinschen Personenkult und den stalinistischen Massenverbrechen auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 durch Nikita Chruschtschow erfolgte „geheim“ und sollte nicht veröffentlicht werden. Jedoch verbreiteten sich nur wenige Tage nach dem Ende des Parteitages Gerüchte über den Inhalt der Rede, die dazu führten, dass zumindest die Mitglieder der KPdSU Anfang März 1956 eine Kopie der Rede erhielten.

In der Literatur gab es Anfang der 1960er Jahre kurzzeitig Veröffentlichungen zum Terror und GULag beispielsweise von Warlam Schalamow oder Alexander Solschenizyn. Das Thema verschwand jedoch bald wieder aus der Öffentlichkeit. Es war zu gefährlich, sich kritisch mit den Handlungen des als Helden verehrten „Väterchen Stalin“ zu befassen. Während Solschenizyn 1962 noch in der Zeitung „Nowij Mir“ seine Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denyssowitsch“ publizieren konnte, wurde sein Hauptwerk „Archipel GULAG“ 1973 nur im Westen veröffentlicht. In der Sowjetunion war es verboten. Die Veröffentlichung löste im Westen große Kontroversen aus. Während die einen sich in ihrer ablehnenden Haltung gegen kommunistische Bestrebungen und die Sowjetunion bestärkt sahen und sogar Sympathisanten der Sowjetunion sich von Kommunistischen Parteien oder deren Ideen abwandten, versuchten andere das Buch als große Verleumdung der Sowjetunion und Kalte-Kriegs-Propaganda abzutun.

Eine komplexe Annäherung an diesen Teil der sowjetischen Geschichte konnte erst unter Michail Gorbatschow in der Zeit von „Glasnost“ und „Perestroika“ ab Mitte der 1980er Jahre erfolgen. Die damals neu gegründet Bürgerrechtsorganisation „Memorial“ machte es sich zur Aufgabe, eine umfassende Aufarbeitung der Massenrepressionen, des GULag- und Zwangsarbeitslagersystems, vorzulegen und vor allem den Millionen Opfern Namen und ihre Geschichte wieder zu geben. Als Gorbatschow 1987 in seiner Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution forderte, dass die „weißen Flecken“ und tabuisierten Kapitel der sowjetischen Geschichte aufgearbeitet werden müssten, gab es damit über einige Jahre so etwas wie eine regierungsamtliche Rückendeckung für die Beschäftigung mit dem Stalinismus. In zahlreichen Städten entstanden Menschenrechtsgruppen wie Memorial, das Sacharow-Center in Moskau und andere zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich mit seit Jahrzehnten tabuisierten Themen und insbesondere dem Großen Terror, dem GULag und den Millionen Opfern befassten. In der Folge konnten in vielen Orten durch lokale Initiativen Denkmäler errichtet werden, die an die Opfer des Terrors und der Repression erinnern. Der erste Gedenkort entstand bereits am 30. Oktober 1990, als Memorial auf dem Platz vor der Lubjanka in Moskau, wo sich das ehemalige Hauptquartier der sowjetischen Geheimpolizei befand und heute der russische Inlandsgeheimdienst seinen Sitz hat, einen Findling von den Solovki-Inseln,wo das erste sowjetische Lager noch unter Lenin entstanden war, , aufstellte. Heimatmuseen griffen andernorts bislang heroisierte Themen -wie den unsinnigen Bau des Weißmeerkanals – oder tabuisierte Themen wie den Massenterror auf und beschrieben auf lokaler oder regionaler Ebene, was der stalinistische Terror und die Gewaltherrschaft an Schrecken und Leid für die Bevölkerung bedeutet hatten. In der Russischen Föderation sind auf diese Weise mittlerweile mehrere hundert Erinnerungsorte entstanden: NKWD-Keller und Folterzentralen, KGB-Gefängnisse und örtliche Geheimpolizeizentralen wurden gekennzeichnet, ehemalige Lagerstandorte lokalisiert und Erinnerungszeichen errichtet. Gleichzeitig lief die Suche nach den über das ganze Land verstreuten Erschießungsplätzen und Massengräbern.7 Memorial versuchte in den 1990er Jahren Namenslisten der Opfer zu erstellen und die Erinnerungen von Überlebenden und Angehörigen zu sichern und zu sammeln. An Wohnhäusern ermordeter Künstler und Intellektueller wurden Erinnerungstafeln angebracht. Seit einigen Jahren erinnert Memorial mit der Aktion „Die letzte Adresse“ an all jene bisher namenlosen Repressionsopfern, indem an deren letzter bekannter Wohnadresse eine kleine Tafel angebracht wird, die an den Namen und die Lebensdaten erinnert. Aber auch die Regierung beteiligt sich an der Aufarbeitung, beispielsweise indem Ende der 1990er Jahre eine staatlich finanzierte 99-bändige Ausgabe mit Publikationen zum Stalinismus auf den Weg gebracht wurde, die allen Bibliotheken kostenfrei zur Verfügung gestellt werden sollte.

Offizielle Gedenktage zur Erinnerung an die Opfer der Repression wurden bereits 1991 eingeführt, so der 5. August, der Tag, an dem 1937 das Dekret über den Großen Terror beschlossen wurde und der 30./31. Oktober als offizieller und staatlicher Gedenktag für die Opfer der Repressionen. Staatspräsident Putin gedenkt am 31. Oktober der Opfer der Repressionen und besuchte 2007 gemeinsam mit kirchlichen Würdenträgern Butovo, eine Gedenkstätte, die sich auf kirchlichem Gelände befindet und in den 1930ern als Erschießungsgelände genutzt wurde. Mit staatlicher Finanzierung wurde 2015 das zentrale GULag-Museum in Moskau eröffnet, dessen Entstehung von Memorial fachlich begleitet wurde..8 Am 30. Oktober 2017 weihten Wladimir Putin und der orthodoxe Patriarch, Kyrill I., die monumentale „Mauer der Trauer“ in Moskau ein. Memorial und die Solschenizyn-Stiftung waren in die Errichtung eingebunden.

Das Gedenken an die Opfer und die Erinnerung an die Verbrechen ist dennoch bis heute zwiespältig: Es gibt die zivilgesellschaftlichen Aktivitäten, um die Erinnerung an die Verbrechen, an die Opfer aber auch die Täter nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Auch der Staat in Gestalt des Präsidenten, von Gebietsgouverneuren oder Bürgermeistern, aber ebenso Würdenträger der Kirche initiieren Gedenkaktionen und errichten Gedenkstätten. Fernsehserien, in denen die Repressionen unter Stalin thematisiert werden, oder YouTube-Serien wie die von Yurij Dud über die brutalen Strafarbeitslager in der Kolyma-Region erreichen ein Millionenpublikum. Bücher, die sich mit den Massenrepressionen beschäftigen, werden zu Bestsellern. Putin erklärte bei der Einweihung der „Mauer der Trauer“, dass es für die unter Stalin begangenen Verbrechen keine Rechtfertigung gebe und unterstrich 2020 in seinem Artikel anlässlich des 75. Jahrestages des Kriegsendes: „Stalin und sein Umfeld verdienen viele gerechte Vorwürfe. Wir erinnern uns an die Verbrechen des Regimes gegen das eigene Volk und an die Entsetzlichkeit der Massenrepressionen.“

Widersprüche in der ErinnerungskulturWährend auf diese Weise an die vielen Millionen Opfer erinnert wird, tritt die Frage nach den Tätern, die jenseits von „Stalin und seinem Umfeld“ agierten, in den Hintergrund.In den öffentlichen Diskussionen zeigt sich noch ein weiteres keineswegs spezifisch russisches Problem, charakterisiert es doch den Umgang mit der Vergangenheit in vielen postdiktatorischen und Postkonflikt-Gesellschaften: Die Beschäftigung mit den Verbrechen und dem Unrecht der Vergangenheit war und ist oft ein Minderheitenthema.

Die Erfahrung, dass die Probleme der Gegenwart die traumatischen Erlebnisse der Vergangenheit überlagern, ist keine russische Besonderheit. In Bezug auf die Sowjetunion mischen sich dabei einerseits nostalgische Erinnerungen an das „sichere Leben“ im Sozialismus mit den andererseits chaotischen Erfahrungen nach dem Zusammenbruch in den 1990er Jahren. Vielen Menschen, die ihre Existenz verloren haben, die monatelang ihre Gehälter nicht bezahlt bekamen, die buchstäblich ums Überleben kämpften, schien die Befassung mit Problemen der Vergangenheit als ein Problem, mit dem man sich nur befassen könne, wenn die existentiellen Probleme gelöst sind.

Der sowjetische Terror und seine Umdeutung im heutigen Russland Nach dem Ende des stalinistischen Terrors der 1930er – 1950er Jahre setzte für den größten Teil der sowjetischen Bevölkerung eine Normalisierung ein. Die verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges wurden beseitigt und die Massenrepressalien verschwanden. Das Leben wurde leichter, soziale Verbesserungen wurden erreicht. Natürlich verschwanden politische Repressionen gegen Dissidenten, politisch Andersdenkende und Minderheiten nie völlig, aber Massenverbrechen wie unter Stalin gab es nicht mehr.

Viele der in den 1980er Jahren gegründeten Initiativen konzentrieren sich verständlicherweise auf das größte Verbrechen der Sowjetzeit. Währenddessen wurden andere Repressionen, von denen die Sowjetgeschichte immer begleitet war, weniger beachtet. Einrichtungen wie das Museum für die Geschichte des 20. Jahrhunderts in St. Petersburg, das 2017 seine Ausstellung eröffnete und in dem die sowjetische Herrschaft als auf – sich durchaus ändernden - Repressalien beruhend dargestellt wird, sind die Ausnahme.

Während sich die Debatten auf Stalin und seine Politik konzentrierten, geriet in den Hintergrund, dass die kommunistische Herrschaft nach dem als „Oktoberrevolution“ bezeichneten Putsch der Bolschewiki von 1917 immer – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – durch Repressionen begleitet war. Zu den bis heute gepflegten Legenden gehört die Auffassung, dass erst nach dem Tod Lenins und mit der Machtübernahme durch Stalin das sozialistische Experiment gleichsam „entgleist“ und Massenterror den Alltag bestimmt habe.

Dabei hatten die Bolschewiki bereits während des seit 1918 tobenden Bürgerkriegs in den von ihnen beherrschten Gebieten einen „Kriegskommunismus“ eingeführt. Dieser sah die Enteignung von Grundbesitz und Fabriken, die Einführung von Zwangsabgaben und die Zwangsrekrutierung von Soldaten für die Armee vor. Begleitet werden sollten die Maßnahmen durch den „Roten Terror“, wozu auch die Einrichtung von Lagern gehörte, in denen potenzielle Feinde der neuen Ordnung und Anhänger des „alten Regimes“, aber auch alle missliebigen Personen gefangen gehalten wurden.9 Bereits 1918 hatte Lenin die erbarmungslose Unterdrückung jeglichen Widerstands angeordnet und gefordert, dass verdächtige Personen in Lagern außerhalb der Städte eingesperrt werden sollten. Das Dekret des Rates der Volkskommissare "Über den Roten Terror" regelte am 5. September 1918 offiziell die Errichtung der neuen Strafanstalten. Eines der ersten Lager entstand auf den Solovezki-Inseln im Weißen Meer. Damit war bereits 1918 der Grundstein für die Errichtung des die gesamte Sowjetunion umfassenden Lagersystems geschaffen worden, das später unter der Bezeichnung GULag zusammengefasst wurde. Der GULag umfasste ein riesiges Netz aus Zwangsarbeitslagern, das die gesamte Sowjetunion von den Solowezki-Inseln im Weißen Meer bis nach Magadan und Wladiwostok im Fernen Osten, von Murmansk und Workuta am Polarkreis bis nach Almaty und Ulaanbaatar in Zentralasien, vom Zentrum Moskaus bis in den Stadtkern Leningrads überzog. Der Begriff GULag wurde zum Synonym für das sowjetische Repressionsregime: menschenfeindliche Lebensbedingungen, schwerste körperliche Arbeit, drakonische Strafen, Mangelernährung, Erschöpfung, Krankheit und Tod. Über die Jahre entstanden mindestens 476 große Lagerkomplexe mit tausenden Einzel- und Nebenlagern, in denen sich jeweils zwischen einigen hundert und mehreren tausend Personen befanden. In einem breit gefächerten System an Arbeits- und Straflagern, Lagern mit kriminellen und politischen Häftlingen, Frauen- und Kinderlagern, Transit- und Sonderlagern sollten vermeintliche und tatsächliche Gegner der Sowjetunion nicht nur vom Rest der Gesellschaft isoliert werden, sondern sie sollten auch durch Zwangsarbeit die sowjetische Wirtschaft aufbauen und am Laufen halten.

Als Lenin 1924 starb, übernahm Stalin die Führung in der Partei und damit im ganzen Land. Um seine Macht zu sichern, wurden Massenrepressalien und Terror gegen die Bevölkerung zum Herrschaftsprinzip. Innerparteiliche Konkurrenten und Kritiker wurden ins Exil getrieben oder – darunter viele Weggefährten Lenins – ermordet. Ihre Sympathisanten wurden in jenen Lagern inhaftiert, die bereits unter Lenin gegründet worden waren, zur Zwangsarbeit eingesetzt oder ermordet. Betriebe wurden enteignet und Bauernwirtschaften zwangskollektiviert. Hunderttausende Bauern verloren ihr Land, wurden als „Kulaken“ stigmatisiert und unter diesem Vorwand mitsamt ihren Familien deportiert oder ermordet. Die gewaltsame Umgestaltung der Landwirtschaft und die massive Verfolgung von Bauern führten zu Hungersnöten, denen insbesondere in Kasachstan, auf der Krim und in der Ukraine mehrere Millionen Menschen zum Opfer fielen. Dabei setzte die sowjetische Führung auch den Hunger als Mittel zur Disziplinierung ein. Sie schickte Künstler, Wissenschaftler und Intellektuelle zur „Umerziehung“ in die Lager, wo sie Zwangsarbeit bei industriellen Großprojekten leisten mussten. Auch die Kirchen wurden Opfer seiner Herrschaft. Religionsausübung wurde kriminalisiert, Priester und Gläubige verfolgt und ermordet. Kirchen wurden entweiht und in ihnen Ställe, Gefängnisse, Krematorien, Kinos oder Sporthallen eingerichtet. Kirchenschätze wurden zerstört, ins Ausland verkauft, um Devisen für die von Stalin forcierte Industrialisierung zu erhalten oder in sogenannten atheistischen Museen ausgestellt.

Die kommunistische Partei richtete das gesamte Leben auf die unbedingte Unterwerfung unter ihre Ideologie und Ziele aus, Jede tatsächliche oder unterstellte Abweichung konnte für die betroffene Person und ihre Familie Deportation, Haft oder Tod bedeuten.Traditionen, seien sie religiöser oder kultureller Art, wurden durch neue sowjetische Rituale ersetzt und die alten Bräuche bei Strafe aus dem öffentlichen Leben verbannt. Das Ziel all dieser Maßnahmen war es, für die neue Gesellschaftsordnung einen „neuen Menschen“ zu erschaffen. Dieser sollte im täglichen Arbeitskampf die Normen übererfüllen und „umgeschmiedet“ werden zum homo sovieticus: ein heroisches, in höchster Disziplin und auf das Kollektiv eingeschworenes Wesen. Individualismus galt als Schimpfwort und das Individuum als Bedrohung der sowjetischen Macht.

Erst mit Stalins Tod im März 1953 endete das große Morden. Die unter dem neuen Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow einsetzende Entstalinisierung ging mit der schrittweisen Auflösung des GULag-Systems und – verglichen mit der Stalin-Zeit – mit einer Liberalisierung des Lebens einher. Politische Häftlinge wurden aus den Lagern entlassen und rehabilitiert, blieben jedoch oft weiterhin benachteiligt, was die Wahl des Wohnortes, die Ausbildung oder Arbeitsstellen betraf. Der Stalin-Kult wurde beendet und einst nach dem Diktator benannte Städte, Straßen und Werke umbenannt.

Das politische und kulturelle „Tauwetter“ unter Chruschtschow war eine Gratwanderung. Stalin und seine Politik hatten als unfehlbar gegolten. Nach Jahrzehnten des offenen Terrors, der Millionen Menschen das Leben gekostet hatte, nun zu erklären, dass Stalin für unvorstellbare Verbrechen verantwortlich war und die sowjetische Staats- und Parteiführung diese mitgetragen hatten und involviert war, war riskant und nicht zu erklären. Die Abkehr vom stalinistischen Terror hieß auch nicht, dass die Repressionen aufhörten. Andersdenkende und politische Gegner wurden auch weiterhin verfolgt und Repressalien ausgesetzt. Auch die Lager verschwanden nie gänzlich aus dem sowjetischen System des Strafvollzugs und der Repressionen, sondern blieben auch weiterhin ein Mittel, um politischen, nationalen oder kulturellen Widerstand zu brechen. Das staatliche Unterdrückungsinstrumentarium wurde abgeändert, aber nicht abgeschafft. Waren die Verhaftungen zu Zeiten Stalins durch reine Willkür charakterisiert – ausnahmslos jeder Mensch konnte zu jeder Zeit aus jedem Grund „wegen nichts“ festgenommen werden –, erfolgten Inhaftierungen in der post-stalinistischen Zeit gezielt und waren keine Massenerscheinungen wie während der Herrschaft Stalins. Nach der Abschaffung des Artikels 58 des russischen Strafgesetzbuches erfolgten Festnahmen entweder nach dem neu verfassten Artikel 70 des Strafgesetzbuches über „Antisowjetische Agitation und Propaganda“ oder nach Artikel 72 über „Organisierte Beteiligung an besonders gefährlichen Verbrechen gegen den Staat sowie die Beteiligung an antisowjetischen Organisationen“.

Die erste große politisch motivierte Verhaftungswelle nach Stalins Tod ereignete sich nach dem von sowjetischen Truppen blutig niedergeschlagenen Aufstand gegen die kommunistische Herrschaft in Ungarn im Oktober 1956. In die Lager und Gefängnisse kamen tausende Menschen, die mit der Volkserhebung sympathisiert hatten. Fast Zehntausend der zwischen Anfang der 1960er und Ende der 1980er Jahre inhaftierten politischen Gefangenen – Dissidenten, Menschenrechtler, Schriftsteller und Andersdenkende wie Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow, Wassili Stus, Arsenij Roginski, Sergej Kowaljow – verbüßten ihre Haftstrafen in isolierten Lagerkomplexen in der Region Mordwinien und im Gebiet Perm. Erst mit Beginn der Perestroika, dem von Staats- und Parteichef Michael Gorbatschow Anfang 1986 eingeleiteten Prozess der gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Modernisierung der UdSSR, fanden solche Repressionen gegen Andersdenkende vorerst ein endgülties Ende.

Der Zusammenbruch der sowjetischen Herrschaft war für die meisten Menschen im heutigen Russland mit Traumata verbunden. Sie verloren über Nacht bisher als gegeben angesehene soziale Sicherungen. : Sichere Löhne und Renten - auch wenn diese sehr niedrig waren -, eine gesicherte Krankenversorgung, kostenlose Ausbildung für alle Kinder, niedrige Mieten für Wohnraum. Dies alles wird bis heute angeführt, um die positiven Seiten der Sowjetzeit zu beschreiben. Was die meisten ehemaligen Sowjetbürger mit dem Übergang zur Demokratie verbinden, ist hingegen gekennzeichnet durch die Auswüchse einer besonders intransparent und rücksichtslos verlaufenden Privatisierung und den Verlust des sowjetischen Imperiums, als sich ab 1990 immer mehr einstige Sowjetrepubliken für unabhängig erklärten, von den Umorientierungen der Staaten Ostmittel- und Osteuropas ganz zu schweigen. Viele Menschen verbinden mit dieser Zeit die Erfahrungen von umfassendem Chaos, Verarmung Vieler bei schamloser Bereicherung einiger Weniger, aber auch persönlichen Demütigungen und internationaler Bedeutungslosigkeit. Diese Bewertungen ziehen den Wunsch nach sich, zumindest einer großen Nation mit heroischen und anerkannten historischen Großtaten anzugehören. Die Sehnsucht nach einer „guten“ Geschichte, an die man sich erinnern kann, ist dabei kein exklusiv russisches Phänomen.

Patriotismus, unsere Geschichte, unsere Religion“ Als der russische Präsident Boris Jelzin in der Silvesternacht 1999 überraschend seinen Rücktritt erklärte und der damalige Ministerpräsident Wladimir Putin als neuer „starker Mann“ das von Krisen gebeutelte Land übernahm, änderte sich auch der Umgang mit den schwierigen Fragen der sowjetischen Geschichte. "Patriotismus, unsere Geschichte und Religion", erklärte Putin als Ministerpräsident 1999, sollten die "grundlegenden Werte der Gesellschaft bilden".10 2020 ergänzte er es um „Selbstlosigkeit, Patriotismus, Liebe zur Heimat, zur Familie, zum Vaterland“ und Pflichterfüllung. Bei der offiziellen Darstellung der „tausendjährigen Geschichte“ mit ihren „Triumphen und Tragödien“ geht es nicht darum, die Verbrechen der Stalin-Zeit zu negieren oder zu verharmlosen. Es gibt jedoch eine unverkennbare Entwicklung weg von den „negativen“ Seiten der sowjetischen und russischen Geschichte hin zu den „positiven“. In ein solches Erinnern, das die ruhmvollen Aspekte der eigenen Geschichte hervorhebt, passen Berichte von staatlichen Verbrechen und Massenmorden nur begrenzt. Dies führt zwar nicht zum gänzlichen Verschweigen der stalinistischen Repressionen, wohl aber einerseits zu einer neuen Einordnung und partiellen Umdeutung der historischen und politischen Verantwortung. Diese folgt einerseits dem Motto: „Wie kann denn der Sieger ein Verbrecher sein?“, wie Anke Giesen es herausgearbeitet hat.11 Andererseits werden die Verbrechen auf „Stalin und sein Umfeld“ begrenzt und so gleichsam von der sowjetischen Geschichte entkoppelt. Das „Volk“ erleidet dabei die Verbrechen und opfert sich ansonsten selbstlos im Kampf gegen die äußeren Feinde auf.

In Bezug auf den Massenterror und die Repressionen hört man auch immer wieder die Argumentation, diese seien notwendig gewesen, weil die Russische Revolution im Bürgerkrieg vernichtet werden sollte und die Sowjetunion auch später von Feinden umringt war und sich gegen feindliche Mächte verteidigen musste. Jene, die die Repressionen verteidigen, berufen sich darauf, dass für die forcierte Industrialisierung eben Opfer hätten gebracht werden müssen und legitimieren damit das GULag-System. Lew Gudkow konstatierte dazu 2013, dass es weniger darum gehe, dass die Menschen nichts über den Stalinismus oder die Verbrechen Stalins wüssten. Vielmehr ginge es darum, dass sie „das System als solches nicht für ein verbrecherisches System halten.“12

Seit dem Machtantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 wurden die Bedingungen für eine unabhängige historische Aufarbeitung immer weiter eingeschränkt. Zwar werden die stalinistischen Verbrechen nicht geleugnet oder tabuisiert, auch die Opfer werden benannt und geehrt. Allerdings führt die Engführung auf die stalinistischen Verbrechen dazu, dass das kommunistische Herrschaftssystem der Sowjetunion als Ganzes nicht näher betrachtet wird. Der Sowjetunion wird vor allem mit dem „grandiosen, vernichtenden Sieg“ über den deutschen Faschismus erinnert: „Es gibt die Sowjetunion nicht mehr, die einen grandiosen, vernichtenden Sieg über den Nazismus errungen und die ganze Welt gerettet hatte.“13 Ziel der Geschichtsschreibung solle sein, gegen die Diskreditierung der russischen Geschichte vorzugehen. In diesem Kontext ist die regierungsseitig vorgegebene Interpretation umstrittener historischer Ereignisse zu verorten. Kontroverse Debatten sind nicht erwünscht; vielmehr sollen die dunklen Seiten der Geschichte aus der Sicht regierungsamtlicher Deutung und unter Aufsicht thematisiert werden. Immer mehr Archive sind wieder verschlossen und Dokumente und Unterlagen können nicht mehr eingesehen werden. Historiker merken dies seit langem daran, dass der Zugang zu vormals zugänglichen Archiven sukzessive erschwert wird. Dokumente, die in den 1990er und 2000er Jahren noch zugänglich waren, inzwischen wieder unter Verschluss sind. Historiker wie Michail Suprun, der zum Umgang mit deutschen Kriegsgefangenen unter Stalin forschte, wurde 2011 angeklagt, „illegale“ Informationen weitergegeben zu haben. 14

Jenseits der öffentlichkeitswirksamen Eröffnungen und Einweihungen von Gedenkstätten und Erinnerungsorten ist seit Jahren zu beobachten, dass Organisationen wie Memorial in ihrer Arbeit immer massiver behindert werden. Mit dem 2012 beschlossenen Gesetz über „Ausländische Agenten“, das Ende Dezember 2020 erneut verschärft wurde, müssen sich nichtstaatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen und Einzelpersonen registrieren und sich als „ausländischer Agent“ ausweisen, wenn wenn sie finanzielle Mittel oder auch immaterielle Unterstützung aus anderen Ländern erhalten. Wer öffentlich als „ausländischer Agent“ bezeichnet wird, erfährt eine weitreichende Stigmatisierung. Auch die wichtigste zivilgesellschaftliche Organisation, die sich mit der Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen in der Sowjetunion befasst, Memorial, musste sich als „ausländischer Agent“ registrieren lassen.

In diesen Zusammenhang gehört auch, dass Gedenkstätten und Gedenkzeichen „umgewidmet“ oder ganz entfernt werden. So wurde im Mai 2020 die Gedenktafel, die in Twer an die Ermordung von Tausenden polnischer Offiziere und Intellektueller erinnerte – ein Verbrechen, das unter dem Namen „Katyn“ in das öffentliche Gedächtnis eingegangen ist – entfernt. Anke Giesen hat die Umdeutung der Geschichte am Beispiel des einzigen GULag-Museums an einem historischen Lagerort in Perm 36 untersucht.15 In den 1990er Jahren wurden die Überreste des bis 1988 bestehenden Lagers durch eine zivilgesellschaftliche Initiative unter dem damaligen Dekan der Pädagogischen Hochschule Perm, Viktor Schmyrow, als Gedenkstätte aufgebaut, die von tausenden Besuchern jedes Jahr aufgesucht wird. 2014 stimmten die Aktivisten in der Hoffnung auf eine gesicherte Finanzierung zu, die Gedenkstätte in staatliche Obhut zu geben. Was folgte war die Schließung von Ausstellungsteilen und die Etablierung einer neuen „Erzählung“. In der ursprünglichen Ausstellung von Memorial lag der Schwerpunkt auf der Darstellung politischer Verfolgung und nationaler Initiativen wie im Baltikum oder in der Ukraine um nationale Unabhängigkeit. Unter der neuen Leitung soll ein neues Narrativ etabliert werden, mit dem der GULag in seiner Funktion als „erzieherisches“ Element für Straftäter im Vordergrund steht.

Letztlich geht es darum, dass der Staat und seine Institutionen die Kontrolle und die Deutungsmacht über den Umgang mit der Vergangenheit behalten und deren Lesart vorgeben.

Autorin: Dr. Anna Kaminsky, Bundesstiftung Aufarbeitung

 

1Dies ist die gekürzte Fassung eines Beitrags, der in Band 1 von „GULag und Gedächtnis“ erschienen ist. GULag und Gedächtnis“. Almanach der Landesbeauftragten zu kommunistischer Verfolgung in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR. Schwerin 2020.

2 Makhotina, Ekaterina : Erinnerung an die russische Revolution im heutigen Russland. In: https://www.bpb.de/apuz/254464/erinnerung-an-die-russische-revolution-im-heutigen-russland. 18.8.2017.

3 In der Gedenkstätte am Kilometer 12 in Jekaterinburg wurde diese Geste mittlerweile auch auf das direkt danebenliegende Gedenkareal für die unter Stalin Ermordeten ausgeweitet.

4 file:///Russland-Analysen_Nr._369.pdf.

5 Artikel des Präsidenten der Russischen Föderation Wladimir Putin anlässlich des 75. Jahrestages des Großen Sieges: Gemeinsame Verantwortung vor Geschichte und Zukunft. 19. Juni 2020 Siehe: https://russische-botschaft.ru/de/2020/06/19/75-jahrestag-des-grossen-sieges-gemeinsame-verantwortung-vor-geschichte-und-zukunft/ (Letzter Abruf am 2.9.2020).

6 Ebd.

7 Mittlerweile ist die Suche nach Massengräbern und Erschießungsplätzen stark erschwert: Über viele dieser Orte ist buchstäblich Gras gewachsen, andere sind überbaut worden und liegen unter Müllhalden oder neuen Wohngebieten. Besonders makaber ist ein Schießübungsplatz für Biathleten, der auf einem früheren Erschießungsplatz errichtet wurde. Siehe: Kizny, Tomas: La grande terreur 1937-1938. Paris 2013.

8 Siehe den Beitrag von Irina Sherbakova in diesem Band.

9 Zum Beschluss des Rates der Volkskommissare am 5. September 1918 über den „Roten Terror“ vgl. de.wikipedia.org/wiki/NKWD-Befehl_Nr._00447.

10 Creuzberger, Stefan: Stalinismus und Erinnerungskultur in: https://www.bpb.de/apuz/59641/stalinismus-und-erinnerungskultur?p=all#footnodeid_7-7 vom 30.11.2011, letzter Zugriff am 29.07.2020.

11 https://www.ibidem.eu/de/wie-kann-denn-der-sieger-ein-verbrecher-sein.html. Anke Giesen: Wie kann denn der Sieger ein Verbrecher sein? Eine diskursanalytische Untersuchung der russlandweiten Debatte über Konzept und Verstaatlichungsprozess der Lagergedenkstätte „Perm’-36“ im Ural. 2018.

12 Gudkow, Lew: Spiele mit Stalin. Über das Legitimationsdefizit des Putin-Regimes. In: Berliner Debatte Initial, Nr. 24, 2013, S. 108.

13 Wladimir Putin: Artikel vom 19. Juni 2020.

14 kommunismusgeschichte.de/jhk/jhk-2009/article/detail/gescheiterte-revolution-in-den-russischen-archiven-gehen-die-uhren-rueckwaerts/

15 Giesen, Anke: Der Konfliktdiskurs über die GULAG-Gedenkstätte Perm-36 – Gedächtnispolitik und Erinnerungskultur im zeitgenössischen Russland.