Kontinuitäten im gewalttätigen Handeln und im Selbstverständnis

Von Klaus Schroeder

Gemäßigte und radikale verfassungskonforme linke Personen und Gruppen tun sich oftmals schwer mit der Distanzierung von linker Gewalt. Es wirken bis heute ideologische Kontinuitäten nach. Sie betrachten zumeist die Polizei, der sie ein übermäßig hartes Vorgehen gegen linke Demonstranten vorwerfen, als Schuldigen für gewalttätige Ausschreitungen. Kritik an ihren für Außenstehende oftmals sinnlos erscheinenden gewalttätigen Aktionen weisen die Militanten und ihre Sympathisanten mit dem altbekannten Argument zurück, das System produziere Gewalt, sie dagegen leisteten nur Widerstand und Gegen-Gewalt. In ihren heutigen Kommandoerklärungen und Bekennerschreiben fehlt zumeist nicht der Hinweis auf die Opfer zahlreicher Kriege und auf ertrunkene Flüchtlinge, gegen die ihre kleinen Anschläge „nichts“ seien. Flüchtlinge nehmen in der Begründung für linke Gewalt inzwischen die damalige Rolle der von den USA getöteten Vietnamesen ein. Dem Kapitalismus und damit dem Westen mit der Bundesrepublik wird maßgeblich die Schuld an allem Elend in der Welt zugewiesen.

Ebenso wie ihre Vorgänger lassen heutige Linksextremisten keinen Zweifel an der Berechtigung ihrer gewalttätigen Aktionen zu. Diese Selbstermächtigung zum (vermeintlich) revolutionären Handeln charakterisiert den gewaltbereiten Kern, aber auch nicht gewaltbereite Linksextremisten, die sich mit Gewaltfantasien begnügen.

Linksextremisten spielen sich innerhalb linker Milieus als Gesinnungs- und Revolutionswächter auf und pflegen den Mythos der Revolution. Sie streben nach Selbstgewissheit mittels einer sinnstiftenden Ideologie und vermeintlich politisch-moralisch begründetem Verhalten. Der französische Soziologe Raymond Aron charakterisierte dieses Selbstverständnis schon vor Jahrzehnten wie folgt: „Das Gefühl, zu einer kleinen Zahl von Auserwählten zu gehören, die Sicherheit, die ein geschlossenes System gibt, in dem die Gesamtgeschichte und zugleich unsere Person ihren Platz und ihren Sinn finden, die Anmaßung, die Vergangenheit mit der Zukunft durch die gegenwärtige Aktion zu verbinden, bewegen den wahren Gläubigen und halten ihn aufrecht, auch jenen, den die Scholastik nicht abstößt, den das Zickzack der Linie nicht enttäuscht, der trotz des täglichen Machiavellismus eine Reinheit des Herzens bewahrt, jenen, der ganz für die Sache lebt und außerhalb der Partei (bzw. der Gruppe, d.V.) seinen Zeitgenossen keine Menschlichkeit mehr zuerkennt. Diese Art von Gebundenheit ist nur den Partnern gestattet, die im starken Bewusstsein einer für absolut wahr gehaltenen Ideologie einen radikalen Umsturz verkünden.“1

Attraktivität und Verführungskraft kommunistischer bzw. linksextremer Ideologien sind bis heute geblieben, versprechen sie doch eine bessere Welt für nahezu alle Menschen: eine Welt ohne Unterdrückung und Ausbeutung. Ihre vermeintlich hehren Ziele bringen ihnen Zulauf von idealistisch eingestellten jungen Menschen. Insbesondere bei diesen ist der Protest als identitätsstiftendes Lebensgefühl geblieben, der die APO der 1960er und 1970er Jahre ebenso prägt wie große Teile der nachwachsenden Generationen. Der reale Sozialismus/Kommunismus und seine Verbrechen verblassen dagegen oder werden als historische Notwendigkeiten dargestellt. So landen nicht wenige Linksradikale und Linksextreme bei der Position des marxistischen Philosophen Georg Lukàcs, der alle Irrungen und Wirren der kommunistischen Bewegung in Ungarn durchlebt und kurz vor seinem Tod schreibt: „Ich war immer der Meinung, dass man selbst in der schlechtesten Form des Sozialismus besser leben könne als in der besten Form des Kapitalismus.“2

Die Betrachtung der historischen Entwicklung des Linksextremismus zeigt in der Argumentation, den politischen Zielen und Kampfmitteln deutliche Kontinuitäten der revolutionären überwiegend kommunistischen Linken, die sich Anfang des letzten Jahrhunderts konstituiert, über die APO der 1960er Jahre bis hin zum Spektrum der linksextremen, sich als revolutionär verstehenden heutigen Linken. Dies schließt selbstverständlich Modifikationen mit ein, die sich im Wandel der Zeit ergeben haben. Linksradikale und Linksextremisten zeigen sich seit Jahrzehnten überaus flexibel in der Vereinnahmung von Themenfeldern und Kampagnen. Einst interessierten sie sich nicht die Bohne für Umwelt und Atomkraftwerke, nutzten aber die Proteste dagegen für gewalttätige Ausschreitungen. Heute sorgen sie sich um Klima und Natur, Tierschutz oder die Erhaltung sanierungsbedürftiger Stadtviertel. Vor allem aber beklagen sie einst und heute die angeblich zunehmende Faschisierung der Gesellschaft und fordern den gewalttätigen Kampf gegen alles, was ihnen als „rechts“ gilt.

Den linken Gewalttätern wird nach exzessiven Gewalttaten von Politikern mitunter vorgeworfen, sie praktizierten SA- oder SS-Methoden. Diese Gleichsetzung geht an der Sache vorbei. Die linken Gewalttäter stehen, historisch gesehen, in der Tradition des Rotfrontkämpferbundes, der in der Zeit der Weimarer Republik Andersdenkende zusammenschlägt, sogar ermordet und gewaltsam gegen die parlamentarische Demokratie und ihre Gesellschaftsordnung kämpft. Der ab 1925 von Ernst Thälmann geführte Rotfrontkämpferbund schwört seine Mitglieder auf den tödlichen Endkampf ein. Die Mitglieder müssen einen Fahneneid ablegen, indem es u.a. heißt: „Wir schwören rot, Sieg oder Tod. Dem großen Klassenkampf sind wir geweiht, wir sind die roten Pioniere einer neuen Zeit. Sieg oder Tod, ein heiliger Schwur. Wir leben oder sterben für dich, du rote Fahne der Proletarierdiktatur.“3

Noch deutlicher zeigt sich die Kontinuität, wenn die linksextreme Szene der frühen 1970er Jahre mit der heutigen verglichen wird. Die Gewichte der einzelnen Strömungen innerhalb des linksextremen Lagers haben sich zwar zugunsten der undogmatischen und autonomen Linken verschoben und Themen und Aktionsfelder sind andere geworden, im Zentrum steht aber weiterhin die Fundamentalkritik des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft sowie der aktuellen Herrschaftsform insgesamt. Ungeachtet der Unterschiede zwischen orthodoxen Parteikommunisten, Linksautonomen und Anarchisten streben alle nach Überwindung des bestehenden Systems eine „neue Gesellschaft“ an, meist ohne diese Vision zumeist näher zu erklären. Sofern sie überhaupt eine konkrete Vorstellung vom „Kommunismus“ haben, meinen sie damit nicht unbedingt das Gleiche.

Die besondere Schwierigkeit der Zurückdrängung linksextremer Einstellungen und Verhaltensweisen besteht in vermeintlich positiven Zielen, die (angeblich) auch gewaltsame Mittel rechtfertigen. Von den in der Bewegungsphase propagierten Zielen, insbesondere Egalität und soziale Gerechtigkeit, bleibt, wie der Blick in die Geschichte sozialistisch-kommunistischer Gesellschaften zeigt, in der Regimephase nichts übrig.4 Sie sind nur ideologische Lockmittel zur Mobilisierung der Massen. Gerade junge Menschen sollten daher die Warnung des Philosophen Karl Popper ernst nehmen: „Der Versuch, den Himmel auf Erden einzurichten, erzeugt stets die Hölle.“5

Es besteht kein Anlass, die Herausforderung durch gewaltorientierte Linksextremisten zu dramatisieren. Sie können zwar nun schon seit einigen Jahrzehnten mitunter gewalttätige Übergriffe veranstalten, aber eine reale Bedrohung für die soziale und politische Stabilität der Republik sind sie weiterhin nicht. Eine im wahrsten Sinne des Wortes streitbare und notfalls kämpferische Demokratie darf gleichwohl den Feinden der offenen Gesellschaft keinen Spielraum lassen, ihre freiheits- und demokratiefeindlichen Überzeugungen umzusetzen. Während es in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus eine breite ablehnende Front gibt, mangelt es hieran beim Linksextremismus. Auch in grünen und verfassungskonformen linken Milieus gibt es oft Verständnis und mitunter sogar Sympathie für linksextremistische Vorstellungen und Verhaltensweisen, auch wenn einzelne Gewaltübergriffe abgelehnt werden. Es fehlt ein parteiübergreifender Konsens, jegliche politisch motivierte Gewalt in einer demokratischen und zivilisierten Gesellschaft prinzipiell abzulehnen, auch wenn sie vermeintlich guten Zielen dient.

Wir leben nicht in einer Diktatur, in der man über den Einsatz von politisch motivierter Gewalt diskutieren müsste, sondern in einer freiheitlichen Demokratie mit Schwächen und Defiziten. Das gesellschaftliche und politische System der Bundesrepublik ist offen für Reformen. Und für die breite Mehrheit der Bevölkerung ist es allemal attraktiver als sozialistische, kommunistische oder anarchistische Alternativen.

1Vgl. Raymond Aron: Opium für Intellektuelle oder die Sucht nach Weltanschauung, Köln/Berlin 1957, S. 382.

2Georg Lucács: Über den Vergleich von Sozialismus und Kapitalismus, in: Frankfurter Rundschau-online vom 20.4.2010.

3Zit. nach Klaus Schroeder/Monika Deutz-Schroeder: Der Kampf ist nicht zu Ende. Geschichte und Aktualität linker Gewalt, Freiburg/Brsg. 2019, S. 68.

4Vgl. Stéphane Courtois: Das Handbuch des Kommunismus. Geschichte, Ideen, Köpfe mit dem Kapitel „Kommunismus in Deutschland“ von Klaus Schroeder und Jochen Staat, München/Zürich 2010.

5Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band 2, Tübingen 1992, S. 277.