Wem gehört die Friedliche Revolution? Eine Debatte zur richtigen Zeit

Demonstration im November 1989 in Erfurt
Foto: Matthias Sengewald

in der „Berliner Zeitung“, dem „Neuen Deutschland“ und in der „Zeit“.

Einleitung (Rüdiger Rosenthal)

Es ist so eine Sache mit Erbschaften. Die Nachkommen streiten sich nicht selten darüber, wem was vom Nachlass zuvor Lebendiger gehören soll und wem was nicht. Manchmal streiten sie auch „wie die Kesselflicker“ – nicht nur im übertragenen Sinne. So geschieht es derzeit mit dem politischen Erbe des Umbruchs in Ostdeutschland in den Jahren 1989/1990. Wir fassen zusammen:

Nachdem der Religionssoziologe Detlef Pollack 2019 in der FAZ den Text "Es war ein Aufstand der Normalbürger" publizierte, entwickelte sich eine bis heute andauernde Debatte über die Frage, wer die friedliche Revolution von 1989/1990 angestoßen bzw. verantwortlich gestaltet hat. 

Pollack behauptete: "In diesen Tagen wird uns wieder die Mär der Oppositionellen in der DDR erzählt, deren Widerstand gegen die Diktatur zu deren Sturz geführt habe." Die Oppositionsgruppen seien zwar "Kristallisationspunkte für den Massenprotest" gewesen, mehr aber auch nicht. Pollack: „Das aber war’s auch so ziemlich, denn externe Faktoren dürften für den Umbruch weitaus bedeutsamer gewesen sein." Seine Sätze, „In diesen Tagen wird uns wieder die Mär der Oppositionellen in der DDR erzählt“ und „Das war`s aber auch so ziemlich“ sind eine klare Herabsetzung der Verdienste vieler Oppositioneller nicht nur in der DDR, sondern im gesamten Ostblock, die teils jahrzehntelang widerständiges Denken und Handeln in ihren jeweiligen Ländern lebendig hielten und die für ihr demokratieverteidigendes Engagement teils mit jahrelangen Überwachungen, Verfolgungen, Zersetzungsmaßnahmen und Haftstrafen zu bezahlen hatten.

In die gleiche Kerbe schlug Klaus Wolfram, ein Vertreter der linken DDR-Opposition, in seiner Rede in der Akademie der Künste, die dann in der ZEIT dokumentiert wurde. Zitat: "Die Revolution haben alle gemacht. Die Bürgerrechtler haben nur angefangen.“ Wolfram sieht die Revolution im Ursprung zwar demokratisch und vor allem links motiviert, Erwartungen, die seit der Vereinigung jedoch enttäuscht worden seien. Diesen Tenor hatte dann auch Wolframs Artikel im Neuen Deutschland vom 27.06.2020. Auf Wolfram bezugnehmend schrieb der DDR-Experte Ilko-Sascha Kowalczuk in der BERLINER ZEITUNG schließlich einen Essay, der die Wolframschen Thesen auseinandernahm. Hier die Links zu den genannten Texten:

Klaus Wolfram. In Neues Deutschland

Klaus Wolfram. In Die Zeit

Ilko Sascha Kowalczuk. In der Berliner Zeitung 

Zu den Thesen wurden zunächst mehrere DDR-Bürgerrechtler, Annette Hildebrandt, Ilko-Sascha Kowalczuk, Werner Schulz, Matthias Rößler, Elke Witt, Günter Nooke, Rainer Eckert und Petra Morawe von der Zeit befragt:

Bürgerrechtller In Zeit Online

Auszug

Die Interviews wurden redaktionell eingekürzt und auf die Frage nach der Elitenrolle der ehemaligen Oppositionellen eingeengt, dass dies Widerspruch hervorrief. Werner Schulz lieferte uns seinen kompletten, ungekürzten Beitrag für die Zeit.

Werner Schulz. Der Osten braucht Klärung

Seine Fortsetzung fanden die Pollackschen und Wolframschen Herabwürdigungen schließlich in Thesen wie jener der Autorin Jana Hensel, die unter dem Motto "1989 habe ich die Bürgerrechtler sehr bewundert, heute bin ich enttäuscht, wie wenig sie für den Osten tun" in der ZEIT am 10. Juli 2020 einen erneuten Rundumschlag gegen die früheren DDR-Oppositionellen ausführte:

Jana Hensel. Sie gehört euch nicht allein

Zusammengefasst: Mit diesem Aufsatz zeigt Jana Hensel nur, wie wenig sie über die Rolle und das Tun „der Bürgerrechtler“ damals und heute weiß und welche schrägen Deutungen, was das Engagement dieser Menschen in jener Zeit und der meisten auch derzeit bedeutet, aus diesem Unwissen herauswachsen können. Nun gut, sie war damals wohl 8 oder 9 Jahre jung. Klaus Wolfram aber könnte es besser wissen, er war schließlich erwachsen und in manche Vorgänge persönlich involviert. Trotzdem kommt er zu schrägen Behauptungen wie jener, die DDR-Oppositionellen hätten die einfache Bevölkerung vor allem verachtet. Einer der bekannteren Vertreter der DDR-Opposition, Werner Schulz, gibt hierzu beiden im Folgenden seine Antworten.

Werner Schulz. Offener Brief an Jana Hensel, Juli 2020

(Vorläufiges) Fazit: Im 30. Jahr der Deutschen Vereinigung steht hier eine Debatte im Raum, die sicher ihre Fortsetzung finden wird. Auch bei uns. Das Pro und Contra für oder gegen die verschiedenen Deutungen der Geschichte hat zumindest einen klaren Vorteil: Die Feierlichkeiten zum 3. Oktober 2020 werden nicht übertünchen können, dass das Erbe der Friedlichen Revolution umstritten scheint wie nie zuvor. Lasst uns also weiter darum streiten.