Jana Hensel: Sie gehört euch nicht allein

Am Abend des 1. Dezember 1989, also wenige Wochen nach dem Mauerfall, kletterte das 13-jährige Mädchen, das ich war, in der Messehalle 7 auf eine Säule mit Scheinwerfern, um den Sänger auf der Bühne besser sehen zu können. Draußen, über dem alten Leipziger Messegelände, strahlte ein roter Sowjetstern. Drinnen gab der 1976 ausgebürgerte Liedermacher Wolf Biermann zum ersten Mal wieder ein Konzert in der DDR. Er war nicht zufällig nach Leipzig gekommen. Sein Auftritt war ein Dank an all jene, die hier, Montag für Montag, auf die Straße gegangen waren. Meine Mutter und ich hatten zu ihnen gehört. Leipzig, die Heldenstadt. Sie empfing den so lange Vermissten wie einen Messias.

In dem Jahr, in dem Biermann die DDR verlassen musste, bin ich geboren. Und nun sang ich, so laut ich konnte, mit: "Ach, Sindermann, du blinder Mann, du richtest nur noch Schaden an". Wie fast alle in der Halle mitsangen.

Dabei stammte ich keineswegs aus einer oppositionellen Familie. Eher aus einer ziemlich normalen. Mein Vater war in den Achtzigerjahren aus Karrieregründen ein paar Jahre in der SED gewesen, meine Mutter hatte dagegen stets auf Distanz geachtet. Während er, Sohn einer Vertriebenen, mich anwies, die Regeln zu befolgen, bat sie mich um Zurückhaltung. Mal folgte ich meinem Vater, mal meiner Mutter. Im Frühjahr 1989 gehörte sie zu denen, die den Stimmzettel bei den Kommunalwahlen durchstrichen, später schloss sie sich den Montagsdemos an und nahm mich, ihre ältere Tochter, nur deshalb mit, weil sie nicht allein gehen wollte. Mein Vater blieb lieber zu Hause.

Ich erzähle das, weil seit Längerem eine Debatte läuft, die für den Osten von Bedeutung ist. Es geht auf den ersten Blick darum, wer die Revolution gemacht hat. Waren es viele? Oder wenige?

2019 veröffentlichte der Soziologe Detlef Pollack in der FAZ den Text "Es war ein Aufstand der Normalbürger". Pollack, der lange in Leipzig gelebt hat und in Münster lehrt, schrieb: "In diesen Tagen wird uns wieder die Mär der Oppositionellen in der DDR erzählt, deren Widerstand gegen die Diktatur zu deren Sturz geführt habe." Eigentlich jedoch seien die Oppositionsgruppen lediglich "Kristallisationspunkte für den Massenprotest" gewesen. Er folgerte: "Das aber war’s auch so ziemlich, denn externe Faktoren dürften für den Umbruch weitaus bedeutsamer gewesen sein." Klaus Wolfram, ein Vertrauter von Bärbel Bohley sagte kürzlich in der ZEIT: "Die Revolution haben alle gemacht. Die Bürgerrechtler haben nur angefangen. Und Bärbel Bohleys große Leistung war, die Dialogsehnsucht, die die Gewaltlosigkeit begründete, erfühlt und ihr mit dem Neuen Forum eine Plattform organisiert zu haben."

Pollack und Wolfram ernteten von einigen Bürgerrechtlern Kritik. Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk meldete sich in beiden Fällen zu Wort. Zu Pollack schrieb er unter dem Titel "Eine Minderheit bahnte den Weg": "Die DDR veränderte sich von unten, weil Oppositionelle, Bürgerrechtler, Widerständler nach vielen Jahren der Enge nun Mittel und Wege gefunden hatten, zu mobilisieren, Tausende Menschen dort abzuholen, wo sie standen. Die meisten von Pollacks 'Normalbürgern' aber blieben hinter der Gardine stehen und warteten ab." Wolfram ließ er wissen: "Die Revolution von 1989 ist von einer kleinen Minderheit politisch Engagierter ›gemacht‹ worden. Sämtliche Zahlen von Demonstrationsteilnehmern und Unterzeichnern von Aufrufen wurden im September und Oktober aus guten Gründen hochgejazzt."

Warum wird 30 Jahre später noch einmal mit so großer Vehemenz über eine solche Frage gestritten? Warum kann sich die ostdeutsche Öffentlichkeit nicht darauf einigen, dass die Friedliche Revolution von beiden gemacht wurde: einerseits von mutig voranschreitenden Oppositionellen – und andererseits von lange nur beistehenden, aber schließlich aktiv werdenden Teilen der DDR-Gesellschaft? Unbenommen ist, dass zahlreiche äußere Faktoren ebenfalls eine große Rolle spielten. Warum reicht man sich nicht einfach die Hand?

Politische Bewegungen brauchen stets Vorreiter, erfolgreich aber können sie nur sein, wenn sich viele anschließen. Fridays for Future brauchte eine Greta Thunberg ebenso wie Hunderttausende Schüler. Die Black-Lives-Matter-Bewegung kann sich auf Bürgerrechtler stützen, die seit Jahrzehnten bedeutsam sind. Aber wahre Wirkmacht beginnt, wenn aus ihnen so viele werden, dass sich das gesellschaftliche Klima verändern lässt.

Also, noch einmal, wo liegt das Problem, bezogen auf 1989? Ich glaube, dass die Frage, wie viele Menschen die Revolution gemacht haben, nur an der Oberfläche diskutiert wird. Im Kern geht es um noch mehr. Es geht um die Frage, wie viel Deutungsmacht einer kleinen Gruppe ehemaliger Bürgerrechtler, die seit Jahrzehnten in den Medien als Deuter der Ostdeutschen auftreten, zugestanden wird. Zwischen den Deutern und den Gedeuteten hat sich im Laufe der Jahrzehnte eine Kluft aufgetan. Klaus Wolfram bezeichnet die Bürgerrechtler als "Moralisten, Karrieristen und Opportunisten". Und er nennt die Namen von Joachim Gauck, Ehrhart Neubert, Freya Klier, Gerd Poppe oder Werner Schulz und "noch ein paar weiteren Damen und Herren". Ein unzweifelhaft hartes Urteil, das mir als Nachgeborener nicht zusteht.

Bürgerrechtler, für die der Osten vor allem demokratiedefizitär ist

Doch will ich versuchen, die Rolle näher zu beschreiben, die diese heute in völlig verschiedenen, mitunter konträren politischen Lagern ansässigen Bürgerrechtler im gegenwärtigen Diskurs spielen. Ich nenne die Gruppe, um die es geht, "mediale Bürgerrechtler", weil sie einerseits nur einen kleinen Teil der damaligen DDR-Opposition ausmachen und andererseits ihren Einfluss auch aus ihrer heutigen Medienpräsenz beziehen. 

Ein wachsendes Unwohlsein

Im Revolutionsherbst und den ersten Nachwendejahren liebte und verehrte ich die (ehemaligen) Oppositionellen. Ich hing an ihren Lippen, las ihre Texte und Bücher, hörte ihre Platten und sang ihre Lieder auf dem Teppichboden meines Kinderzimmers. Als ich aber älter wurde und im Laufe der Neunzigerjahre sah, dass der Osten in eine große Katerstimmung fiel, dass immer mehr Menschen ihre Jobs verloren und in den Westen gingen, war außer Regine Hildebrandt und Bärbel Bohley kaum jemand mehr da, der diese neuen Probleme wirklich kritisch thematisierte. Damals konnte ich die Enttäuschung nicht so genau beschreiben, aber in mir wuchs ein Unwohlsein. Ich fühlte mich von den Bürgerrechtlern alleingelassen. Ausgerechnet von jenen, die meine ersten wirklich glaubwürdigen Autoritäten gewesen waren.

Dieser Vorwurf betrifft nicht alle. Neben Bärbel Bohley und Regine Hildebrandt gab es auch Menschen wie Friedrich Schorlemmer, Jens Reich, Hans-Jochen Tschiche oder Hans Misselwitz. Sie versuchten, der Rolle eines Bürgerrechtlers auch im vereinten Land treu zu bleiben, übten sich gegenüber den neuen Verhältnissen in kritischer Distanz und erhoben für die Ostdeutschen dort Einspruch, wo sie es für nötig hielten.

Ein anderer Teil jedoch, und um den geht es mir hier, ließ sich immer stärker in die Erinnerungsarchitektur und letztlich Repräsentationskultur des wiedervereinten, westlich geprägten Landes einweben. Nicht nur an Feiertagen standen sie auf großen Bühnen und sangen das Hohelied der Einheit. Nicht, dass die Einheit nicht etwas Wunderbares wäre. Aber all die Zumutungen, Brüche und Herausforderungen, die mit diesem Prozess für die ostdeutsche Gesellschaft einhergingen, haben sie – wenn schon nicht ignoriert – doch als kleinlich oder nebensächlich betrachtet. In der Tendenz kommen die Ostdeutschen in den Erzählungen dieser medialen Bürgerrechtler als eine defizitär anzunehmende Bevölkerung vor, die sich entweder dem Diktaturcharakter der DDR willenlos unterwarf oder ihn nachträglich verharmloste. Eine Gesellschaft, die bis heute die Demokratie nicht ganz versteht.

Es ist unbestreitbar, dass es solche Menschen in der DDR wie auch im heutigen Osten gab und gibt. Der Rechtsruck der vergangenen Jahre hat das überdeutlich und beängstigend sichtbar gemacht. Eine ganze Gesellschaft jedoch stets mit einem besonderen Augenmerk auf ihre autoritären Milieus zu beschreiben kommt einer Abwertung ihrer selbst gleich. Es treibt sie beharrlich in jene Stagnation hinein, gegen die viele aktive Menschen heutzutage ebenso kämpfen, wie die Oppositionellen einst gegen die Stagnation in der DDR gekämpft haben. Warum suchen die medialen Bürgerrechtler nicht nach solchen Linien, Fortschreibungen und Analogien? Warum erzählen sie nicht wenigstens gleichberechtigt von den positiven wie negativen Entwicklungen?

Als die WELT 2019 in ihrer Titelgeschichte "Seht ihr nicht, was unser Leben wert ist?" Marianne Birthler, Werner Schulz, Wolfgang Tiefensee Britta Albrecht-Schatta, Wolfgang Templin, Konrad Weiß und die Schriftstellerin Ines Geipel an einen Tisch holte, war es nur der SPD-Politiker Tiefensee, dem zu den Ostdeutschen etwas Positives einfiel. Konrad Weiß sagte: "Mein Traum, dass die Menschen in Ostdeutschland mündiger, dass sie selbstbestimmter werden, hat sich nicht ganz erfüllt." Marianne Birthler sagte über die Bundesrepublik: "Aber ich bekomme gerade sehr viele Mails von Leuten, die kein gutes Haar an diesem Land lassen, die alles schlechtreden. Und da lehne ich mich natürlich zur anderen Seite und sage: Habt ihr sie nicht mehr alle?" Konrad Weiß: "Das ist ein Stück DDR-Mentalität, die ihnen eingepflanzt ist, der Glaube auch an einen Sozialismus, den sie nie überwunden haben." Hier versucht Tiefensee zu widersprechen: "Ich würde nicht immer auf die 20, 25 Prozent schauen wollen, die in Richtung AfD tendieren. Wir haben immerhin 75 Prozent, die nicht so denken ..." Woraufhin Ines Geipel entgegnet: "Der Osten ist längst gekippt und in weiten Teilen antidemokratisch, antiwestlich, rassistisch."

Es versteht sich von selbst, dass jede demokratische Gesellschaft eine engagierte Öffentlichkeit braucht. Sie braucht Interventionen von Intellektuellen, Künstlern, Wissenschaftlern oder Zeitzeugen. Öffentliche Intellektuelle funktionieren wie ein Korrektiv, eine Art Über-Ich, und treten in Debatten stellvertretend in einen Aushandlungsprozess über die Verfasstheit einer Gesellschaft. Solche Debatten sind im besten Falle durch Pluralität geprägt.

Die DDR hatte ein progressives Milieu jenseits der Opposition

Eine "normale" demokratische Öffentlichkeit aber ist die ostdeutsche nach der Wiedervereinigung nicht geworden. Dafür verfügt sie über zu wenige eigene, auch überregional einflussreiche Medien. Ostdeutsche Publizisten stehen vor der Herausforderung, sich in eine traditionell westdeutsch geprägte Öffentlichkeit hineinzubegeben, aus ihr heraus in den Osten hineinzusprechen. Sie agieren also nicht aus der eigenen Mitte, sondern immer von einem peripheren Punkt aus. Der Osten oder die Ostdeutschen geraten dabei schnell zu den defizitär angenommenen Anderen. Es sei denn, man hinterfragt diese Setzung, problematisiert sie und setzt sich in ein kritisches Verhältnis zur Perspektive der Mehrheitsgesellschaft. 

Der gekippte Osten

Diese Auseinandersetzung aber scheuen die medialen Bürgerrechtler größtenteils. Die Mehrheitsgesellschaft kommt, wie Werner Schulz, Joachim Gauck zitierend, sagt, oftmals "als das beste Deutschland, das es je gab" vor. Derart läuft man Gefahr, die westdeutsche Perspektive nicht nur zu übernehmen, sondern gleichsam ihre Vorurteile zu reproduzieren. Wie in dem großen Welt-Interview: Da ist also auf der einen Seite das beste Deutschland, das es je gab, und da ist auf der anderen Seite Geipels Klage vom gekippten Osten, der als "in weiten Teilen antidemokratisch, antiwestlich, rassistisch" gezeichnet wird.

Vor dem Hintergrund solch starker Gegensätze kann die Beschäftigung mit Widersprüchen, Komplexitäten oder gar positiven Entwicklungen des Nachwendeostens leicht als Verharmlosung oder Bagatellisierung des Unrechts vor 1989 oder des heutigen Rechtsrucks diffamiert werden.

Ich komme wieder auf meine Ausgangsfrage zurück: Warum streitet man noch einmal, wie viele 1989 die Revolution gemacht haben? Warum kann man nicht sagen, dass es die Bürgerrechtler und eine gesellschaftliche relevante Gruppe von DDR-Bürgern zusammen waren? Dass es gemeinsam gelang, die Stagnation der DDR binnen Wochen aufzubrechen?

Weil man dafür zugeben müsste, dass es auch in der DDR ein progressives Milieu jenseits der Opposition gab, das seit spätestens Mitte der Achtzigerjahre ihren Wunsch auf Veränderung, auf einen Wandel immer stärker zu artikulieren bereit war. Wie meine Mutter, die plötzlich handelte und nicht mehr nur zuschaute. Weil man dafür jene enorme gesellschaftspolitische Bewegung beschreiben müsste, die, beginnend mit Solidarność in Polen und den Reformversuchen von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion, den gesamten osteuropäischen Kontinent erfasste. Eine Bewegung, die die Trennung zwischen Oppositionellen und Normalbürgern aufhob und dadurch die Verhältnisse zum Umsturz brachte.

Der beharrliche Verweis auf jene hinter der Gardine jedoch erneuert die Vorurteile gegenüber einem angeblich größtenteils passiven Osten immer wieder. So werden Millionen Ostdeutsche zu Ewiggestrigen, Protestwählern und Wutbürgern gemacht. Von denen hinter der Gardine zu den AfD-Wählern von heute?

Alle Anfänge, erfolgreiche wie gescheiterte, alle Brüche, reflektierte oder unreflektierte, alle Versuche, gelungene oder misslungene, werden dagegen in eine große Erzählung der Vergeblichkeit gegossen. Die medialen Bürgerrechtler haben mit für diese Erzählung gesorgt. Genau darin liegt ihr historisches Versäumnis, liegt die Kluft zwischen ihnen als Deutern und den Gedeuteten begründet. Genau das ist der Grund für meine Enttäuschung. Im Osten ist vieles schiefgegangen, im Osten ist vieles gelungen. Aber eine ganze Bevölkerung kann man nicht über einen Kamm scheren. Warum die medialen Bürgerrechtler es dennoch tun? Dazu kann ich nur Fragen stellen: Müssen sie sich ihrer zweifellos großen historischen Rolle noch heute selbst vergewissern? Glauben sie daran, dass man die Ostdeutschen weiterbringt, indem man sie schonungslos mit ihren Defiziten konfrontiert? Oder genießen sie die Aufmerksamkeit der westdeutschen Öffentlichkeit einfach so sehr?

Vermutlich werden sich viele der Bürgerrechtler über diesen Text ärgern. Wahrscheinlich wird man mir vorwerfen, das Unrecht vor 1989 und den Rechtsruck der Gegenwart zu verharmlosen. Ich höre diese Vorwürfe seit vielen Jahren, sie verletzen mich jedes Mal aufs Neue. Dennoch bin ich davon überzeugt, dass es wichtig ist, nach den emanzipativen und progressiven Bewegungen in der DDR und in der ostdeutschen Nachwendegesellschaft ebenso zu suchen wie nach den reaktionären. Sie in ihren Widersprüchen und in ihren Überschneidungen zu beschreiben. Ich jedenfalls tue das, weil ich für den Osten trotz all der Risse noch immer das Beste zu hoffen versuche.

Diese Hoffnung habe ich 1989 gelernt. Den immerwährenden Aufbruch zu suchen, das haben die Oppositionellen mir einst beigebracht. Und genauso verstehe ich ganz persönlich das Erbe der Revolution.