Werner Schulz: Der Osten braucht Klärung  

Das Recht auf freie Meinungsäußerung gehört zum Wesen unserer Demokratie. Beim vermeintlichen Recht auf eigene Fakten hat unlängst der Bloggerdienst Twitter selbst seinem eifrigsten Nutzer, dem amerikanischen Präsidenten widersprochen. Von einem Leitmedium wie der ZEIT müsste man das erst recht erwarten. Bei sorgfältiger Vorbereitung auf das Interview mit Klaus Wolfram, der Wahrheitsüberprüfung seiner umstrittenen Rede in der Akademie der Künste und ein wenig Geschichtswissen über das NEUE FORUM wäre sein unwahres Narrativ nicht unhinterfragt verbreitet geworden. Leider reicht der mir vorgegebene Textumfang nicht aus, um seine Geschichtsklitterung zu entwirren. Heute spreizt sich Wolfram im politischen Glanz von Bärbel Bohley, um seinen verblichenen Traum einer eigenständigen neosozialistischen DDR aufleben zu lassen und diffamiert all die Bürgerrechtler, die seinen kruden Ideen nicht gefolgt sind. Damals wurde er Politkommissar genannt oder kurz Suslow, weil er mit dem Kreml-Chefideologen Michael Suslow nicht nur äußerliche Ähnlichkeit aufwies. Als das NEUE FORUM die Option zur deutschen Einheit ins Programm aufnahm, wollte Wolfram es verlassen. Der angebliche Basisdemokrat führte dann Geheimverhandlungen mit Gregor Gysi über eine Promiliste zur gesamtdeutschen Wahl. 

Der Wahlspruch der Bürgerbewegung hieß: ein Bein auf der Straße und eines ins Parlament. Doch als die wichtigsten Forderungen realisiert wurden, war das eine Bein weggebrochen und das andere stark geschwächt. Helmut Kohl gelang hingegen mit seinen Versprechen, seiner Dominanz und der Einbeziehung der CDU-Blockpartei in seine AfD (Allianz für Deutschland) ein fulminanter Wahlsieg. Diese Allianz klang nach einer großen Versicherungsgesellschaft, die für alle Schadensfälle aufkommt. Damit war der schnelle Beitritt der DDR zur BRD gewählt und unsere Vorstellung von einem verfassungsgebenden Prozess vom Tisch. Hier bestünde für die Nach-Mauerfall-Generation die große Aufgabe, den Anspruch des Grundgesetzes und das Vermächtnis der friedlichen Revolution zur Volksabstimmung über eine Verfassung als ihr Programm für sich zu entdecken und doch noch zu erfüllen. Auch das Treuhandgesetz der Bürgerrechtler, das viele Betriebe und Arbeitsplätze erhalten hätte, erhielt keine Chance.

Die heutige AfD ist keine Widerstandshaltung aus den West-Ost-Verhärtungen nach 1989, wie Wolfram behauptet, sondern sie erntet, was die PDS gesät hat. Anstatt die Verantwortung für die Diktatur, den Staatsbankrott und die verheerende Wirtschaftspolitik zu übernehmen hat sie Begriffe in Umlauf gebracht, die wie Phantomschmerzen wirken und sich als empfundene Benachteiligung ausgebreitet haben. Zum Beispiel die angebliche „Kohlonialisierung“, die mal als Übernahme oder Anschluss den gewollten Beitritt verbrämt. Oder die Siegerjustiz. Ein Begriff mit dem die Altnazis die Rechtsprechung der Alliierten diffamiert haben. Oder die besagten Bürger 2. Klasse. Dabei war es doch die Krux, dass die Bürgerrechtler einen demokratischen Aufbruch bewirkt haben und sämtliche Bürgerrechte errungen wurden, die heute garantiert sind. Bürger 2. Klasse gab es in der DDR. Das waren diejenigen, die keinen Reisepass und keine Devisen hatten. Oder deren Kinder wegen ihrer sozialen Herkunft benachteiligt waren. Die kein Verfassungsgericht kannten, sondern nur die Möglichkeit einer Eingabe an die Obrigkeit. Ein feudales Gnadenrecht und staatliche Willkür. Oder die Debatte über die abgehängten Regionen. Offenbar haben manche Ostdeutsche noch immer eine Illusion vom Westen vor Augen und nicht ihre eigene Ausgangssituation. Nur so lässt sich laut Umfragen ihr Unbehagen in der Zufriedenheit erklären.

Auch die beklagte Unterpräsenz von Ostdeutschen in Führungspositionen vermittelt ein schräges Bild. Dabei werden die beachtlichen Westkarrieren von DDR-Flüchtlingen großteils ausgeblendet. Selbst die 68er Studentenrevolte ist von Rudi Dutschke und Bernd Rabehl, von zwei Ostdeutschen, angeführt worden. Wie kompliziert die Sache ist zeigt ein Umkehrwitz von Gregor Gysi: Wonach die deutsche Einheit erst dann vollendet sei, wenn ein Ostdeutscher Ministerpräsident in einem westdeutschen Bundesland wird. Ausgerechnet seine Partei, die sich als Sachwalter der Ostdeutschen ausgibt, konnte den Stuhl des Thüringer Ministerpräsidenten wegen Mangel an integeren und kompetenten Persönlichkeiten nur mit einem Westdeutschen besetzen. Wer fehlende ostdeutsche Richter beklagt, bekommt gerade mit Barbara Borchardt als Landesverfassungsrichterin eine Ahnung, wo das Problem im Kern liegt. Mit einem Jura-Diplom des Unrechtstaates ausgestattet rechtfertigt sie selbst heute noch den Mauerbau. Andererseits zeigt die mögliche Wahl von Jes Möller ins Bundesverfassungsgericht, dass mittlerweile auch solide ostdeutsche Juristen zu finden sind (schließlich wurde Ines Härtel gewählt, ebenfalls aus dem Osten, d.R.). Ähnlich kompliziert ist die Besetzung höchster Hochschulämter. Als man 1991 nach dem Abgang von Rektor Heinrich Fink, alias „IM Heiner“, Jahre später wieder einen Ostdeutschen zum Präsidenten der Humboldt-Uni wählte, währte die Freude auch nicht allzu lange, da mit Jan-Hendrik Olbertz ebenso ein geschmeidiger Opportunist auf den Posten gehievt worden war. Unterschlagen werden in dem Dauerlamento über fehlende ostdeutsche DAX-Vorstände die vielen Wissenschaftler aus DDR-Akademien und Universitäten, die innovative Unternehmen im Osten gegründet haben und damit Zukunft gestalten. Dass mit Angela Merkel, Joachim Gauck und Thomas Krüger - dem Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung - Ostdeutsche in höchste Ämter der Bundesrepublik aufgestiegen sind, erweist sich nicht als Ausnahmen, sondern zeigt, dass auch der Westelite bisweilen geeignete Kandidaten fehlen und, außerdem, wie durchlässig diese Gesellschaft ist. Wohlan denn: Freie Ost-Deutsche Jugend streb auf!

Wir Bürgerrechtler organisierten eine Freiheitsbewegung für die Ostdeutschen, von Verachtung keine Spur. Im Gegenteil, die DDR-Opposition, die sich vorwiegend unterm Kirchendach organisierte, war offen für alle und warb öffentlich um Mitarbeit. Viele DDR-Bürger fanden dort Motivation und Zuspruch für ein anständiges Leben im falschen System. Skepsis bestand lediglich gegen Ausreisewillige, da sie kein Interesse an Veränderungen hatten und ihre Beteiligung meist als Beschleunigung ihrer Ausreise betrieben. Letztlich waren sie die Schwungmasse und die Kirchen das Basislager der friedlichen Revolution. Die Herablassung gegenüber Ostdeutschen, welche die Klappe hielten, aus dem Milieu von Ilko-Sascha Kowalczuk ist nicht repräsentativ. Er war kein Bürgerrechtler und auch nicht in der DDR-Opposition aktiv. Er hat als Historiker im vereinten Deutschland enorm wichtige Forschungsarbeiten zur SED-Diktatur und friedlichen Revolution geleistet. Allerdings neigt er mitunter auch zu drastischen Formulierungen. Dem damaligen Leiter der Stasi-Unterlagenbehörde, Joachim Gauck, stellte er sich mit den Worten vor, das er in der DDR „ein angepasstes kleines Arschloch“ gewesen sei.

Was Zivilcourage, Ausdauer, Mut und kreatives Agieren in bedrückenden Zeiten und trüber Aussicht anbelangt, bleiben die Bürgerrechtler zweifelsohne Vorbilder. Konstruktive Einmischung, beharrliches Durchhaltevermögen und ein Leben in der Wahrheit sind nach wie vor gefragt. Gerade die „fridays for future“-Bewegung z.B. braucht einen ebenso langen Atem und unverzagtes Engagement. Was wir nicht mehr brauchen, ist die Klagemauer im Kopf, die oft nur das Brett davor ist.