Von Sebastian Rimestad[1]

Wie ich schon im März[2] und im August 2022[3] argumentiert habe, ist es nicht korrekt, den russischen Angriffskrieg in der Ukraine als religiösen Konflikt zu stilisieren. Patriarch Kirill (Gundjajew) von Moskau versucht nach wie vor, dem Konflikt eine religiöse Deutung zu verleihen.Allerdingsnimmt ihm das niemand ab, der nicht ohnehin schon von der russischen Kriegs-Propaganda verblendet ist. In gewissen Kreisen hat sich das Verb „kirillit“ (oder „gundet“) im russischen Sprachgebrauch etabliert, mit der Bedeutung eine nicht-religiöse Tatsache durch religiöse Deutung unerkenntlich zu machen. Einige Kommentatoren, besonders Exil-Russen und Ukrainer, weigern sich, Kirill mit seinem Weihenamen zu bezeichnen und sprechen stattdessen von „Genosse Gundjajew“[4].

Als integraler Bestandteil des sozialen und kulturellen Zusammenlebens spielt Religion dennoch weiterhin eine Rolle im Konflikt, auf beiden Seiten. Wie meine bisherigen Kommentare für h-und-g ist auch dieser in drei Hauptteile eingeteilt: die Entwicklungen in Russland, in der Ukraine und in der restlichen Welt.

Religion in Russland

Die russischen Entwicklungen sind schnell erklärt. Wie in allen anderen Bereichen werden auch im religiösen Diskursalternative Meinungen schnell und effektiv ausgeschaltet. Jeder Gemeindepriester läuft jederzeit Gefahr, von seinen Gemeindemitgliedern denunziertzu werden, wenn er sich nicht ganz an die von Patriarch Kirill vorgegebene Linie hält. Sie laufen beispielsweise auf dünnem Eis, wenn sie für den Frieden beten und nicht den russischen Sieg. Deshalb gibt es wenige dissidierende Priester und die Verbliebenen halten sich verdeckt.

Eine Ausnahme bildete der bekannte Priester Aleksey Uminsky von der Gemeinde der Heiligen Dreifaltigkeit in Moskau.[5] der weiterhin öffentlich für Frieden betete und eine lebendige Dissidentengruppe um sich geschart hatte. Am 5. Januar 2024 wurde Uminsky aber auf höchstem Befehl seines Amtes enthoben und die Gemeinde an den ultra-loyalen Hardliner Andrei Tkache verteilt. Dadurch verlor sie ihren liberalen und herzlichen Ruf und ist seitdem massiv geschrumpft. Andere konkrete Entwicklungen in der russischen Kirche waren am 27. Dezember 2023 vorgenommene Kader-Verschiebungen, über deren Anlass und Auswirkung allerdings bisher nur spekuliert werden kann. Zu den Weihnachtsgottesdiensten in Russland, die sonst immer sehr gut besucht waren, kamen am 7. Januar 2024 laut offizieller Statistik 1,4 Millionen Besucher, was nur um die Hälfte der Anzahl von 2019 entspricht.[6]

Die wenigen russischen Geistlichen, denen es gelingt, ins Ausland zu fliehen,stehen vor einem Dilemma: sie können nicht mehr guten Gewissens in der Kirche arbeiten, aber das Priesteramt ist dennoch ihre Berufung. So versuchen sie, in einer anderen orthodoxen Kirche aufgenommen zu werden, was allerdings nicht so einfach ist. Darüber berichtete aktuell der russisch-orthodoxe Publizist Sergei Chapnin aus dem amerikanischen Exil.[7]  Obwohl die anderen orthodoxen Kirchen nach Möglichkeit solche Geistlichen unterstützen möchten, hat sich, bis auf das Patriarchat von Konstantinopel, keinekeine orthodoxe Kirche öffentlich kritisch über die Repressionen der russischen Kirche geäußert.

Ukrainische Entwicklungen

Die Entwicklungen in der Ukraine wurden über das gesamte Jahr 2023 von einem Konflikt zwischen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) und der politischen Mehrheit geprägt. Die UOK war  zweifelsohne ein Teil der Russischen Orthodoxen Kirche, bis sie sich am 27. Mai 2022 selbständig erklärte. Diese Loslösung war Kritikern zufolge nur halbherzig, denn es gab keinerlei Bemühungen, dieanderen orthodoxen Kirchen zu informieren oder um Zustimmung zu bitten. Außerdem gibt es bis heute kaum offiziellen Dokumente, die die beschlossene Selbständigkeit konkretisieren. Das negative Bild der UOK in der öffentlichen Meinung als eine „russische“ Einrichtung schien damit bestätigt. Ende 2022 gab es mehrere polizeiliche Razzien[8] in Kirchen, Klöstern und anderen Einrichtungen der UOK. Das geistliche Zentrum der Kirche, das Höhlenkloster in Kyiw, ist seit Sommer 2023 von staatlicher Seite abgeriegelt. Das ist möglich gewesen, weil die Kirche den Klosterkomplex seit der sowjetischen Konfiskation in den 1920er Jahren nicht als Eigentum wiedergefordert hat. Stattdessen blieb das Klostergelände Staatseigentum, welches der Staat für eine symbolische Summe auf unbestimmte Zeit an die UOK verpachtete. Dieser Vertrag ist gekündigt worden und der Klostervorsteher, Metropolit Pavel (Lebed), wurde zu Hausarrest wegen finanzieller Untreue und Kriegspropaganda verurteilt. Das ist vor allem für die renommierte Geistliche Akademie von Kyiw ein herber Schlag, denn ihr gesamter Campus befindet sich im Höhlenkloster.

Dieses staatliche Vorgehen ist bisher erfolgreich gewesen, obwohl die UOK nach wie vor die größte religiöse Gemeinschaft in der Ukraine ist. Das bezieht sich allerdings nur auf die Anzahl der Gemeinden, denn Kirchenmitgliedschaften werden in der orthodoxen Kirche nicht erhoben. Es gelingt also dem Staat, die UOK als feindlich darzustellen, ohne dabei die Bevölkerungsmasse gegen sich aufzubringen. Es gibt seit Anfang des Angriffskrieges auch den Versuch, die UOK gesetzlich zu verbieten. Die Gesetzesvorlage, die inzwischen in der zweiten Lesung genehmigt wurde, zielt auf ein Verbot religiöser Organisationen, die Beziehungen zu einem von einem  Gericht als feindlich eingestuften Land unterhalten.[9] Das Projekt hat zwei Schwachstellen: Einerseits gibt es in der Ukraine keine Rechtsform für Religionsgemeinschaften über der Gemeinde hinaus. Somit müsste bei Inkrafttreten eines solchen Gesetzes jede einzelne Gemeinde individuell geprüft werden, ob sie dagegen verstößt. Andererseits würde das Gesetz die UOK kaum zerstören können, sondern lediglich in den Untergrund treiben, wo eine Radikalisierung zu erwarten wäre. Die Verzögerung der entsprechenden Legislation kann auch ein Spiel auf Zeit sein, denn es ist schwer zu erkennen, welche Vorteile ein solches Verbot mit sich bringen könnte. Derzeit tobt international ein bitterer Streit darüber, ob und wie staatlich geprüfte Juristen überhaupt die Struktur einer orthodoxen Kirche adäquat und kontextfrei prüfen können.[10] Als sich am 10. Januar 2024 die Oberhäupter der christlichen Kirchen in der Ukraine trafen, um die Doktrin der „russischen Welt“ zu verurteilen, war die UOK dort gar nicht eingeladen.

Die andere ukrainische orthodoxe Kirchenstruktur, die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU), die nur von wenigen orthodoxen Kirchenvertretern als rechtmäßige Kirche anerkannt wird, hält sich in der ganzen Affäre auffällig still. Sie übt sich offiziell nicht in Schadenfreude, obwohl es auf lokaler Ebene weiterhin zu gewaltsamen und dubiosen Kirchenübernahmen kommt. Die vermeintliche Annäherung zwischen den beiden Kirchen auf der Laienebene, die 2022 zu sehen war, ist allerdings durch das staatliche Vorpreschen in den Hintergrund gedrängt worden. Es ist wohl während der Kriegshandlungen nicht mit einer einvernehmlichen Lösung desukrainischen Kirchenstreits zu rechnen.

Während die Weltöffentlichkeit sich also mit inner-ukrainischer Kirchenfragen auseinandersetzt, werden in den von Russland besetzten Gebieten weitaus gravierende Religionsverfolgungen und Rechtsverletzungen begangen. Das religiöse Leben in den Regionen Donezk und Luhansk ist fast komplett zum erliegen gekommen und der vorher lebendige religiöse Pluralismus ist durch ein Monopol der Russischen Orthodoxen Kirche ersetzt worden. Die lokalen Bischöfe, die vorher der UOK angehörten sind im Zuge der Inkorporation in die russische Föderation direkt Moskau unterstellt worden und dürfen keine Kontakte mehr nach Kyiw unterhalten.

Religiöse Reaktionen aus der restlichen Welt

Auch auf der internationalen Ebene ist keine signifikante Bewegung in der festgefahrenen Situation zu erkennen. Die oft kritisierte abwartende Grundhaltung der globalen kirchlichen Akteure (vor allem Vatikan und Weltkirchenrat) hat sich nicht geändert, obwohl vereinzelte neue Töne zu hören sind. Der vom Weltkirchenrat für Oktober 2023 anvisierte Runde Tisch mit den drei betroffenen Kirchen (Russische Orthodoxe Kirche, UOK und OKU) ist gescheitert. Offiziell hieß es, dassdie UOK „Aggressionen“ von Seiten der OKU befürchtete. Die russische Kirche sei aufgeschlossen und würde eine solche Initiative begrüßen, wobei sie sie wahrscheinlich wieder für selbstdarstellerische Zwecke missbrauchen würde. In Bezug auf den Konflikt zwischen Israel und der Hamas hat der Weltkirchenrat übrigens eine ähnlich zwanghafte Neutralität offenbart. Die Weigerung, jegliche Wertung der Konfliktschuld zu unternehmen zieht sich durch die Stellungnahmen hindurch.

Mit seiner deutlich russlandkritischen Haltung steht auch der Ökumenische Patriarch Bartholomäus von Konstantinopel dahernoch ziemlich alleine da. Der bulgarische Patriarch Neophytos hat immerhin in seiner Epiphaniasansprache vom 6. Januar 2024 auf die verheerenden Folgen des „brudervernichtenden Krieges in der Ukraine“ hingewiesen, aber konkreter in Bezug auf die Rolle Russlands und der russischen Kirche wurde er  nicht. Als im September 2023 das Oberhaupt der russischen Auslandsgemeinde in Sofia von der bulgarischen Regierung ausgewiesen wurde, weil er die geopolitischen Interessen Moskaus vertreten würde, gab es keine offizielle Reaktion von Seiten des Patriarchats.

Anders als in der religiösen Weltszene, wo es kaum Bewegung in der Frage nach der Bewertung des Ukraine-Krieges gibt, wachsen die ukrainischen orthodoxen Auslandsgemeinden rasant. In Deutschland gibt es inzwischen mehr als zwei Dutzend explizit ukrainische orthodoxen Gemeinden. Dabei gilt es zu beobachten, dass die OKU in ihrer Gründungsurkunde von 2019 auf die Errichtung eigener Gemeinden außerhalb der Ukraine explizit verzichtet hat. Es gibt in Deutschland daher nur eine Gemeinde, die der OKU nahesteht (in Berlin), die sich dem griechischen Erzbischof in Deutschland unterstellt hat. Alle anderen ukrainischen Gemeinden sind als Auslandsgemeinden der UOK gegründet,[11] teilweise sogar in direkter Konfrontation mit den schon bestehenden russischen Gemeinden. Das führt hin und wieder zu Kritik, wie ein öffentlicher Schlagaustausch auf Russischüber den letzten Jahreswechsel zwischen Vertreter der beiden russischen Diözesen in Deutschland und der UOK bezüglich einer neuen Gemeinde in Konstanz.[12] Die UOK-Gemeinden wachsen aufgrund der weiter steigenden Anzahl in Deutschland sesshaft werdender Ukrainer stetig an. Zum orthodoxen Weihnachtsfest am 7. Januar 2024 wurde in der leerstehenden St. Michaelskirche zu Berlin eine neue Gemeinde gegründet, die den Kirchenraum beim ersten Gottesdienst komplett ausfüllte (siehe Foto).

Auch der religiöse Aspekt des Ukraine-Krieges leidet also unter einer gewissen Kriegsmüdigkeit. Für die Ukrainer ist er aber nach wie vor lebendig. In Russland lässt der Kirchenbesuch seit zwei Jahren merkbar nach, was auf eine Unzufriedenheit mit dem kirchlichen Umgang der Lage hindeuten kann. In der Ukraine, die schon immer religiös vitaler war als die übrige Sowjetunion, ist Religion zu einem Abgrenzungsmerkmal gegenüber dem Feind geworden, ob dieser nun als die Russen oder die säkulare Regierung aufgefasst wird. Für viele Ukrainer in Deutschland und anderswo im Exil ist die Kirche ein Zufluchtsort, eine Art verlorene Heimat geworden. So sind die Auslandsgemeinden der UOK teilweise konservativer und unnachgiebiger als diejenigen in der Heimat, die sich in einem misstrauischen Umfeld behaupten müssen. Was mit den ukrainischen Auslandsgemeinden nach einem Ende des Krieges passiert, bleibt unklar. Das hängt vom Ausgang des Konfliktes ab, sowie davon, inwiefern Religion in der Ukraine als Frieden schaffende Kraft wiederauferstehen kann. Wenn der Druck auf die immer noch größte Religionsgemeinschaft der Ukraine (die UOK) bestehen bleibt, könnte diese in den Untergrund getrieben werden, was dieses Potential gefährden könnte. Angesichts des Aufflammens weiterer Konfliktherde in traditionell auch mit der Orthodoxen Kirche verbundenen Regionen (wie Armenien und Palästina) wird eine Vorhersage zunehmend schwierig, aber ich hoffe dennoch, dass die Religion sich zur gegebenen Zeit als Friedenskraft behaupten kann.

Anmerkungen


[1] Universität Leipzig

[2] Sebastian Rimestad, „Der Ukraine-Kireg und die Orthodoxe Kirche“, 18.03.2022, h-und-g.info/texte-zu-ukraine/sebastian-rimestadt

[3]Sebastian Rimestad, „Die religiöse Dimension des Ukraine-Kriegs nach viereinhalb Monaten“, 11.2022, h-und-g.info/default-title-2/rimestadt

[4]Siehe, zum Beipsiel, Ivan Valiushko, „Russian Orthodox Church’s Crusade against Humanity“, 27.03.2023, rubryka.com/en/blog/roc-crusade-against-humanity/

[5]Kerstin Holm, „Das Christentum, die Religion der wenigen“, FAZ 17.09.2016, www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/begegnung-mit-dem-russisch-orthodoxen-priester-alexej-uminski-14437317.html

[6]„Ein Prozent der Russen besuchen orthodoxe Weihnachtsmessen“, domradio.de 08.01.2024, www.domradio.de/artikel/ein-prozent-der-russen-besuchen-orthodoxe-weihnachtsmessen

[7]Sergei Chapnin, „Спасительный Халкидон. Как священники бегут из официальной Церкви“ [Das rettende Chalcedon. Wie Priester aus der offiziellen Kirche fliehen], 12.01.2024, istories.media/opinions/2024/01/12/spasitelnii-khalkidon-kak-svyashchenniki-begut-iz-ofitsialnoi-tserkvi/

[8]Ernest Kadotschnikow udn Sebastian Rimestad, „Nachgefragt: Was hat es mit der „Offensive“ gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche auf sich?“, Wortmelder Universität Erfurt 12.01.2023, www.uni-erfurt.de/forschung/aktuelles/forschungsblog-wortmelder/nachgefragt-was-hat-es-mit-der-offensive-gegen-die-ukrainische-orthodoxe-kirche-auf-sich

[9]„Ukraine ebnet Weg für Verbot pro-russischer Kirchengemeinden“, domradio.de 20.10.2023, www.domradio.de/artikel/ukraine-ebnet-weg-fuer-verbot-pro-russischer-kirchengemeinden

[10]Siehe z.B. Kirill Aleksandrov, „Theses by Bremer on the UOC: Europe’s response to Ukrainian ‚Sovietism‘“, UOJ 08.11.2023, spzh.media/en/zashhita-very/76886-theses-by-bremer-on-the-uoc-europes-response-to-ukrainian-sovietism

[11]„Fragen und Antworten zur Ukrainisch Orthodoxen Kirche in Deutschland“, katholisch.de 06.01.2024, www.katholisch.de/artikel/50101-fragen-und-antworten-zur-ukrainisch-orthodoxen-kirche-in-deutschland

[12]„UOC responds to accusations of ROC clerics in Germany“, UOJ 28.12.2023, spzh.media/en/news/77673-uoc-responds-to-accusations-of-roc-clerics-in-germany