Die religiöse Dimension des Ukraine-Kriegs nach viereinhalb Monaten

Die religiöse Dimension des Ukraine-Kriegs nach viereinhalb Monaten

Von Sebastian Rimestad[1]

Nach dem brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine Ende Februar 2022 ist noch immer kein Ende der kriegerischen Handlungen in Sicht. Der Krieg hat tiefe geopolitische Hintergründe und militärische und wirtschaftliche Expertise sind wichtig, um ihn umfassend zu analysieren. Diereligiöse Dimension des Konfliktes, die Anfangs ab und zu heraufbeschworen wurde, ist nicht mehr so relevant, da es sich nicht um einen religiösen Konflikt handelt. Es geht um Machtpolitik und militärische Strategie und die Religion spielt dabei keine bedeutende Rolle, obwohl sich vor allem auf der russischen Seite die Orthodoxe Kirche von Putins Regime vor den ideologischen Karren spannen lässt. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass russische Soldaten, die in der Ukraine kämpfen, die religiöse Rhetorik des Moslauer Patriarchen Kirill überhaupt irgendwie wahrnehmen oder sich gar davon leiten lassen. Viele der Soldaten stammen aus den nicht-christlichen Regionen Russlands und selbst die Christen gehören mehrheitlich der areligiösen post-sowjetischen Gesellschaft an.

Dennoch gibt es eine religiöse Dimension dieses Konfliktes, wenngleich diese nicht besonders ausschlaggebend ist. Religion wird von allen Seiten irgendwie bemüht, um dem Krieg eine besondere Brisanz zu geben oder auf dessen Ende hinzuarbeiten. Dabei gibt es drei Arenen, in denen Religion eine Rolle spielt. Das ist einerseits der schon erwähnte Diskurs in Russland, andererseits die Aktivitäten der religiösen Vertreter in der Ukraine und drittens die religiöse Reaktion auf den Krieg im westlichen Ausland.

Der religiöse Diskurs in Russland

Die erste Ebene, der religiöse Diskurs in Russland, ist nach wie vor von der Einstufung des Geschehens als einen metaphysischen Kampf zwischen gut (Russland) und böse (der Westen) geprägt. Patriarch Kirill von Moskau hat dieses Bild ins Leben gerufen und bleibt in seinen Predigten standhaft beim Mantra, dass Russland in seiner Geschichte nie jemanden angegriffen, sondern immer nur das wahre Christentum und die russischen Werte verteidigt habe. Obwohl diese Idee nicht bei den in die Ukraine abkommandierten Soldaten ankommt, ist es unmissverständlich ein wichtiger Eckstein der weiterhin vorwiegend positiven Einstellung der russischen Bevölkerung zur „militärischen Sonderoperation“.

Aber nicht nur das Kirchenoberhaupt hält diesen Diskurs aufrecht, sondern die Rhetorik zieht sich durch die kirchliche Hierarchie. Am 3. Juli, nachdem ein ukrainischer Raketenangriff drei Menschen in der russischen Grenzstadt Belgorod getötet haben soll, veröffentlichte der dortige Metropolit Ioann ein kurzes Statement. Dort beklagt er die Brutalität der ukrainischen Streitkräfte, die auf friedliche Bürger Belgorods schießen würden. Außerdem erwähnte er, dass auch ukrainische Flüchtlinge, die im „friedlichen Belgorod dem Krieg in der Ukraine entflohen sind“, von dem Angriff betroffen seien. Obwohl er lapidar um ein Ende des Blutvergießens betete, wurde das Statement gleich als naiv von russischen Exiltheologen in den Social Media abgestempelt, als ob der Metropolit nicht wüsste, was einige Kilometer entfernt auf der ukrainischen Seite seit Februar passiert. Die wenigen Stimmen, die in Russland konkret den Krieg als Krieg benennen und sein Ende fordern, werden nach wie vor angeklagt und mehr oder weniger hart bestraft. Daher sind es auch im kirchlichen Dienst nicht viele, die sich öffentlich dazu äußern.

Der Diskurs hat einen viel schwierigeren Stand außerhalb der Russischen Föderation. Seit Anfang des Krieges haben sich einige Gemeindn von der Zugehörigkeit des Moskauer Patriarchats gelöst, vor allem die Gemeinde in Amsterdam. Auch in Litauen gibt es Streit, weil fünf orthodoxe Priester – immerhin fast 15 % der dortigen Kleriker – von Metropolit Innokenti von Vilnius wegen Proteste gegen den Krieg entlassen worden sind. Das wirft kein gutes Licht auf die orthodoxe Kirchenleitung in Litauen. Auch in Deutschland gab es unter den Russisch-Orthodoxen Kritik an der Linie des Patriarchen. Erzbischof Mark von Berlin und Ganz Deutschland, ein gebürtiger Chemnitzer, hat in einem Interviewein relativ klares Statement gegen den Krieg geliefert. Er bezeichne diesen Krieg als ein Verbrechen, das durch den russischen Angriff ausgelöst sei. Dennoch hält er sich mit einer pauschalen Schuldzuweisung an die russische Seite zurück, denn es seien immer zwei Seiten in einem Konflikt. Allerdings gibt es in Russland keinen Bischof, der auch nur annähernd so konkret wie Mark werden würde.

Entwicklungen in den ukrainischen Kirchen

Die zweite Ebene ist die der ukrainischen Kirchen. Wie ich anderswo erläutert habe, gibt es in der Ukraine zwei parallele, sich bekämpfende orthodoxe Kirchen. Das sind die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK), die bis vor kurzem unter dem Patriarchat von Moskau als Teil der Russischen Orthodoxen Kirche fungierte und die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU), die vom Ehrenoberhaupt der Weltorthodoxie, Patriarch Bartholomäus von Konstantinopel, 2018 ins Leben gerufen war. Am 27. Mai diesen Jahres gab es eine Bischofsversammlung in der UOK, bei der eine Loslösung aus der Unterordnung unter Moskau beschlossen wurde. Die Statuten wurden dahingehend geändert, dass alle Hinweise auf Moskau, über die spirituelle Verbundenheit hinaus, gelöscht wurden.Das Oberhaupt der UOK, Metropolit Onufri von Kyjiw, benutzt seitdem eine neue Kommemorationsformel. Das bedeutet, er erinnert in den dafür vorgesehenen Platz der Sonntagsliturgie nicht an Patriarch Kirill als sein kirchliches Oberhaupt, sondern stattdessen an alle Oberhäupter der selbständigen Orthodoxen Kirchen der Welt, um dadurch das Selbstverständnis der UOK als einer dieser unabhängigen Kirchen zu unterstreichen.

Die Euphorie in der westlichen Presse über diesen Schritt ist wohl ewas verfrüht gekommen, aber auch der Pessimismus, den ich damals zur Sprache gebracht habe, entspricht nicht ganz den Tatsachen. Die Trennung scheint tatsächlich Wirkung gezeigt zu haben, denn eine Reihe von Entwicklungen sind seitdem passiert. Darunter ist die Errichtung eigener ukrainischer Auslandsgemeinden zu nennen, die der UOK unterstehen. Das wird bei der OKU nicht passieren, denn die Entstehungsurkunde begrenzt ihre Tätigkeit ausdrücklich auf das ukrainische Territorium. Welchen Status diese Auslandsgemeinde der UOK im Einzelfall haben, ist natürlich noch ein offener Punkt. Es ist auch unklar, inwieweit sie auch nach einer eventuellen Beilegung der Kampfhandlungen weiterhin bestehen werden, aber sie bieten momentan den Kriegsflüchtlingen außerhalb der Ukraine zum ersten Mal die Gelegenheit, eine Gemeinde der „eigenen“ Orthodoxie zu besuchen, ohne in den russisch geprägten Krichen gehen zu müssen.

Ein anderer Schritt wurde mit einem Treffen am 5. Juli in Kyjiw gemacht, bei dem Priester der UOK mit solchen der OKU zum ersten Mal überhaupt direkt miteinander geredet haben. Das Treffen wurde von Olena Bohdan einberufen und moderiert, einer Frau, wie in den Social Media gleich betont wurde. Es hatte einen informellen Charakter, aber war ein wichtiger erster Schritt zu offiziellen Gesprächen zwischen den beiden bisher verfeindeten Kirchen. Diese könnten eventuell in eine einheitliche orthodoxe Kirche für die Ukraine münden.

Ein dritter Aspekt betrifft die Reaktion auf die Selbständigkeitserklärung der UOK aus Moskau. Diese viel auffallend unspektakulär aus, wenn man von der sofortigen Abspaltung der Bistümer in den von Russland besetzten Gebieten absieht, die sich lieber direkt der Russischen Kirche unterstellten. Metropolit Hilarion Alfejew, der Außenamtsleiter des Moskauer Patriarchats, erklärte die Entscheidung als Folge des gegenwärtigen nationalistischen Druckes in der Ukraine. Allerdings wurde er wenige Tage später unerwartet von seinem Amt entlassen und stattdessen als Metropolit nach Budapest in Ungarn geschickt. Diese Umsetzung kann als Strafe für seine gescheiterten Bemühungen um den Erhalt der UOK innerhalb der Russischen Kirche gedeutet werden. Andererseits ist es ein Schachzug, der es ihm ermöglicht, seine skeptische Position zum Ukraine-Krieg in einem sichereren Umfeld (innerhalb der EU) beizubehalten. Da das Ungarische Bistum der Russischen Orthodoxen Kirche verschwindend klein ist, kann er sich zudem als „Botschafter“ des Patriarchen bei Viktor Orban, dem stärksten Befürworter weiterer Russland-Beziehungen innerhalb der EU, profilieren. Vielleicht erhofft er sich auch dass die Distanz zu den Moskauer Kriegstreibern ihm nach Abschluss des Krieges als unbescholtener Bischof Karrieremöglichkeiten eröffnet. Sein Nachfolger als Außenamtsleiter in Moskau, Metropolit Antoni, ist jedenfalls ein viel weniger aufmüpfiger Bischof, der sich eher unterordnen wird.

Externe religiöse Sicht auf den Ukraine-Krieg

Auch in der Außenwahrnehmung des Krieges aus religiöser Sichtgibt es mehrere parallele Entwicklungen, die teilweise widersprüchlich sind. Zum einen die Position des Vatikans, die vielfach kritisiert wird. Dabei sind vor allem die Aussagen Papst Franziskus zu erwähnen, der an derIdee, ein Mittler zwischen Moskau und Kyjiw sein zu können, weiterhin festhält. Er versucht, den Kontakt nach Moskau und nach Kyjiw gleichermaßen aufrecht zu erhalten. Obwohl das für Anfang Juni  geplante Treffen mit Patriarch Kirill letztlich abgesagt wurde, ist schon die Planung für ein solches Treffen im September in Kasachstan in Gang. Es gab schon Mitte März ein Treffen zwischen den beiden Kirchenoberhäuptern per Videokonferenz. Danach spreizten die Medienberichte dazu allerdings gewaltig. Während westliche und päpstliche Medien darauf bestanden, der Papst habe dem Patriarchen klare Worte der Warnung ausgesprochen, meldete dieser in den russischen Medien, der Papst hätte sich seiner Sicht der Dinge anschließen können. Daraufhin ermahnte Papst Franziskus dem Patriarchen Kirill Anfang Mai, er solle sich nicht zu „Putins Messdiener“ machen.

Dennoch ging der Papst aus der Sicht vieler Kommentatoren nicht weit genug. Vor allem die Katholischen Kirchenführer aus der Ukraine selbst verzweifeln an einem Papst, der sich scheinbar mehr um das gute Verhältnis zur russischen Kirche als um eine angemessene Reaktion auf die Gräueltaten kümmert. Erst Ende Juni kritisierte Kardinal Kurt Koch, der Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Patriarch Kirill für seinen Versuch, den Krieg theologisch zu rechtfertigen. Es ginge nicht an, dass die Kirche sich für einen solchen Krieg missbrauchen lasse, so Koch. Dennoch wollte der Kardinal am Dialog mit der russischen Kirche festhalten, wobei er den Nutzen eines Treffens zwischen Papst und Patriarch in Kriegszeiten anzweifelte.

Dasselbe ist in den Vorbereitungen zur Vollversammlung des Wetkirchenrates (ÖRK) in Karlsruhe im September diesen Jahres zu beobachten. Im ÖRK ist die Katholische Kirche nicht Mitglied, aber die meisten orthodoxen und protestantischen Gemeinschaften schon. Es gibt vermehrt Stimmen, die einen Ausschluss der Russischen Orthodoxen Kirche fordern, wie zum Beispiel ein offener Briefvon Anfang Juni an den Zentralausschuss der ÖRK von 62 namhafte evangelischen Theologen aus dem deutsch-sprachigen Raum. Daraufhhin meldeten sich andere Theologen zu Wort, die für eine Aufrechterhaltung des Dialogs mit der russischen Kirche plädierten. Dabei ist klar zu erkennen, dass die Unterschreiber des Aufrufes tatsächlich mit der kirchlichen Situation in der Ukraine und den Grundlagen der Orthodoxen Kirchen einigermaßen vertraut sind, während die Gegenstimmen sich oft nicht so gut auskennen und ihre Meinung auf Grundlage einer abstrakten Friedenstheologie kundtun, die im gegenwärtigen Konflikt keine Aussicht auf Erfolg hat.

Seitdem haben auch andere Kirchenvertreter und institutionelle Stimmen die russische Kriegsrhetorik verurteilt und vom ÖRK klare Konsequenzen gefordert, wie zum Beispiel die Synode der Evangelisch-reformierten Kirche der Schweiz. Die Reaktion des ÖRK-Zentralausschusses, der Mitte Juni tagte, blieb allerdings verhalten. Ein Statement zum Ukraine-Krieg wurde verabschiedet, das allerdings nicht sonderlich eindeutig und progressiv ausfiel. Da ist zum Beispiel die Passage, wo der Ausschuss sich bei der Russischen Orthodoxen Kirche bedankt, da sie sich als Vertreterin sowohl Russlands als auch der Ukraine im ÖRK in diesem Rahmen um einen Dialog über die Situation in der Ukraine bemühe. Immerhin habe der ÖRK eine Delegation aus der Ukraine für die Vollversammlung zugelassen, denn bisher war tatsächlich nur die russische Kirche dabei.

Zuletzt muss noch erwähnt werden, dass die religiös begründete Ablehung kriegerischer Auseinandersetzungen natürlich auch eine Rolle in der Außenwahrnehmung auf den Ukraine-Konflikt spielt. Die Vorstellung von einer Welt friedlicher Kommunikation und dialogischer Konflikt-Deeskaliation ist immerhin eines der Kernthemen der Nachkriegstheologie, vor allem im deutschsprachigen Raum gewesen, wo keine nennenswerte militärische Konflikte sich ereignet haben. Es ist daher leicht verständlich, dass die Theologie der Friedensethik und Gewaltfreiheit für viele immer noch die Grundlage ihrer Bewertung des Krieges ist. Dabei ist dieser Konflikt nicht durch Dialog und Friedensgespräche lösbar, denn es handelt sich eben nicht um zwei Seiten, die sich gegenseitig bekämpfen. Aufrufe zur Gewaltfreiheit kann keine Lösung sein, wenn ein Part wiederholt gezeigt hat, dass ihm Friedensvereinbarungen nur so lange kümmern, bis er sie nicht mehr einhalten möchte. Man kann mit einer Atommacht, die mit brutalen Methoden Kriegsverbrechen nicht nur begeht, sondern sich sogar damit brüstet, inmitten einer Gefechtssituation nicht über Friedensethik sprechen.Erst wenn die Kampfhandlungen aufhören ist Friedenstheologie und Gewaltfreiheit gefragt. Dann geht es darum, eine gebietsweise am Boden zerstörte Gesellschaft wieder friedlich aufzubauen und eine Wiederholung oder Vergeltung der Gräueltaten zu verhindern. Diese Arbeit wird vor allem in der Ukraine nötig sein, aber auch Russland braucht einen Neuanfang. Wie dieser aussieht und wann es so weit ist kann keine Friedenstheologie voraussagen. Dabei hilft nur die abschreckende Wirkung moderner Waffensysteme und internationale Solidarität mit der angegriffenen Ukraine.

 

Weiterführende Links:

Sebastian Rimestad, „Drei Narrative über das Christentum in der Ukraine“, Cursor_ 7, 22.05.2022

Nachrichtendienst Östliche Kirchen

Der Ukraine-Krieg und die Orthodoxe Kirche, H-und-G.info 2022

 


[1] Sebastian Rimestad, Universität Leipzig