Editorial

Mit dem 24. Februar 2022, dem Tag der völkerrechtlichen Invasion Putins in der benachbarten Ukraine, musste auch dem Letzten klar sein: Der Bogen war überspannt. Die einen sind zu vertrauensselig gewesen, die anderen haben das brutal ausgenutzt. Das Konzept der Entspannung war endgültig am Ende. Die europäische Sicherheitsarchitektur, die selbst lange im Kalten Krieg gehalten hatte, verloren.

Es hagelte Distanzierungen und Kritiken an entspannungsseligen Positionen gegenüber Russland und Männerfreundschaften zu Putin und Co. Erst kürzlich hat noch einmal der FDP-Politiker Gerhardt Baum gegen den Entspannungs-Guru Egon Bahr und dessen übergroße Kompromissbereitschaft gegenüber der DDR in den 1980er Jahren ausgeteilt. Insofern wird es vielleicht Manchen verwundern, dass H-und-G.info ausgerechnet das Thema Entspannung als Schwerpunkt aufgerufen hat. Aber es sei nicht vergessen: Manche Kritiker der Elche, kommen aus dem Rudel derselben. Es sei daran erinnert, dass auch die CDU-Regierung Helmut Kohls bei allen Differenzen und Unterschieden im Grundsatz die Ostpolitik der Vorgängerregierungen fortsetzte. Ganz zu schweigen von den Milliardenkrediten, die der CSU-Vorsitzende Franz-Joseph Strauß Anfang der 1980er Jahre vermittelte, die den finanziellen Untergang der DDR im Gegenzug für Grenzregime-Milderungen und Familienzusammenführungen verhinderte. Auch an den ersten, wenn auch noch zaghaften Vorläuferbemühungen zur neuen Ostpolitik, wie dem Gefangenenfreikauf, waren Politiker aller damaligen Bundestagsparteien beteiligt. Allerdings, so arbeitet Herrmann Wentker in seinem Artikel heraus, war diese damals immer gepaart mit militärischer Stärke an der Seite der Nato-Verbündeten. Unter Angela Merkel, auch keine Sozialdemokratin, nahm die Erdgasabhängigkeit von Russland sogar noch zu und der Protest dagegen, beispielweise die Überlassung von Erdgasspeicherkapazitäten an Gasprom, hielt sich durchaus in Grenzen. Der Gedanke des entspannten Miteinander mit einem Land, was Deutschland 1941 wie zuvor Polen und andere überfallen hatte, war in Deutschland lange populär - keineswegs nur aus Sorglosigkeit, sondern auch weil die Entspannungspolitik jahrzehntelang spürbare Fortschritte für viele Menschen gezeitigt hatte.

Beginnend mit der Kuba-Krise Anfang der 1960er Jahre, startete im Westen der US-Präsident John F. Kennedy eine Politik der Deeskalation, um die Gefahr der nuklearen Eskalation zu bannen.  Es ist schon erstaunlich, dass die atomare Bedrohung heute von Manchen nur noch als quasi russische Propaganda abgetan wird. Der Film "Oppenheimer" von Christopher Nolan, der gerade in Deutschland angelaufen ist, kommt zur rechten Zeit und ruft die Erinnerung an die Anfänge der Atomrüstung im Zweiten Weltkrieg und zu Beginn des Kalten Krieges in Erinnerung. Vieles, wie auch die heute umstrittene Konstruktion der UN-Sicherheitsrates, ist anders nicht verständlich.

Der Beginn der Entspannungspolitik, im Ostblock Politik der  "friedlichen Kooexistenz" genannt, bannte die Gefahr der direkten militärischen Konfrontation der beiden Blöcke in Europa. Allerdings schloss dies keineswegs militärische Stärke aus. Im Gegenteil, diese war geradezu Voraussetzung des Arrangements von USA und UdSSR.

Im geteilten Deutschland, was mit  Willy Brandt die Zeichen der Zeit erkannte, brachte die Entspannung letztlich eine Unzahl von Lockerungen, die das Leben für die Menschen vor allem nach dem Mauerbau 1961 leichter machten. “Was den Menschen nützt, nützt der Nation!“, brachte Willy Brandt seine Politik auf den Punkt. Gerade in ihren Anfängen ist deutlich, wie die deutsche Entspannungspolitik pragmatisch Fortschritte erzielte, dass sie also realpolitisch nicht ideologisch angegangen wurde. (s. Artikel von Siegfried Heimann) Da ging es angesichts der Mauer darum, dass getrennte Familien zusammengeführt wurden oder ganz praktisch, die Oma ihren Enkel sehen konnte. Der Transit durch die DDR wurde verlässlicher. Es gab mehr Austausch von Personen und Informationen, der vom Ende betrachtet, das gesamtdeutsche Zusammengehörigkeitsgefühl am Leben hielt - eine Voraussetzung für den Mauerfall und die Deutsche Einheit. Fast vergessen ist, dass in dem Manifest der Entspannung, der Tutzinger Rede von Egon Bahr 1963 (s. Dokument), keineswegs der Erhalt des Status Quo gefordert wurde, sondern das Ziel die Wiedervereinigung war. Insgesamt gilt als ausgemacht, dass die deutsche Entspannungsaussenpolitik auf der soliden Basis der zuvor angelegten Westintegration „einen maßgeblichen Beitrag“[1] zur Beendigung des Kalten Krieges leistete.

Damalige Akteure: die Zweite Weltkriegsgeneration

Zu gering eingeschätzt wird m.E. eine wichtige Basis der seinerzeitigen Verständigung im Unterschied zu heute. Sie fand damals zwischen einem politischem Personal statt, was den zerstörerischen zweiten Weltkrieg z.T. sogar aktiv erlebt hatte. Harmonische Bade-Bilder vom sowjetischen Lenker Leonid Breschnew mit dem Deutschen Politiker Willy Brandt (s. Cover von H-und-G.info), Brandts Kniefall in Warschau, sowie Helmut Kohls Verständigung mit Gorbaschow am Kaukasus, machen das Bemühen um die Vermeidung des Rückfalls in die Barbarei des NS-Expansionismus sinnfällig deutlich. Die Angehörigen der heutigen Generation der Solowiki um Putin, sind Nachkriegsgeborene. Für die heutige Oberschicht aus Geheimdienstler und Wirtschaftslauten sind die heutigen Orte des Todes wie Mariupol, Butscha oder Bachmut nur Felder auf einem Schachbrett, sie agieren, wie es scheint, bar jeder Empathie für menschliches Leid und eben ohne eigene Erinnerung, was solch ein Leiden für Länder, die Menschen und die eigenen Familien bedeutet. Während es damals also durch ein „Nie wieder“ einen gemeinsamen Draht gab, funken die Eliten in Russland und im Westen heute offenbar auf vollkommen unterschiedlichen Kanälen.

Institutionalisierung der Entspannung in Europa

In den 1970er Jahren wurde die Entspannung zunehmend institutionalisiert - in Europa vor allem in der Konferenz für internationale Zusammenarbeit (KSZE). Der berühmte Deal von Helsinki 1975 stabilisierte die Grenzen des Nachkriegseuropas, was vor allem im Interesse der Sowjetunion lag, um die Nachkriegsgrenzen zu fixieren. Andererseits hoffte der Westen auf die Wirkung des Austauschs und der gemeinsam niedergeschriebenen Menschenrechte. Ohne die bis heute umstrittene Wirkung von Helsinki überstrapazieren zu wollen, dynamisierten sich die Ostwestbeziehungen in der KSZE gegen Ende der 1980er Jahre, nachdem in der Sowjetunion der Reformer Gorbaschow an die Macht gekommen war. Dies wirkte sich zivilisierend auf die  Transformationskonflikte 1989 aus und bewirkte mit, dass auch die Revolution in der DDR friedlich blieb.(s. Matthias Uhl).

Allerdings gab es v.a. in Mittelost- und Osteuropa und entsprechenden Emigrantengruppen auch immer scharfe Kritik an diesem Vertragswerk, dass man nach kommunistischer Lesart als eine Stabilisierung des eigenen Herrschaftsbereiches ansehen konnte. Die Menschenrechtscharta weckte in Mittelost und Osteuropa aber auch Hoffnungen. (s. Uta Gerlant und Wanda Jarząbek ) Menschenrechtsgruppen wurden dort stimuliert, auch wenn derartige zivilgesellschaftliche Regungen nicht nur auf die KSZE zurückzuführen sind und grotesker Weise sogar im Westen von Manchem als potentiell destabilisierender Faktor angesehen wurden. Dass letztlich der kommunistische Block zusammenbrach, scheint denen Recht zu geben, die die Diktatur-zersetzenden Tendenzen der KSZE herausstreichen.

Ambivalente Wirkungen auch in der DDR

Auch in der DDR waren die Folgen der institutionalisierten Entspannung nach Helsinki und den deutsch-deutschen Verträgen ambivalent. Es wirkte sich beispielsweise positiv für inhaftierte Bundesbürger aus, dass die „Botschaft“ der Bundesrepublik in Ostberlin, die nach westlicher Lesart nur „Ständige Vertretung“ heißen durfte, diese nun in der Untersuchungshaft besuchen konnten. Auch die Ausreisebewegung, bezog sich teilweise direkt auf die Helsinki-Charta. (Beitrag Günter Jeschonnek) Zwar konnte gerade dies in den 1970er Jahren zu einer Kriminalisierung von Ausreiseinteressierten führen. Doch der Freikauf von Häftlingen und die Übersiedlung von Ausreiseantragstellern wurde -unterbrochen von Krisenphasen während der Entspannung zur fast schon fließbandmäßigen Routine. (s. Beitrag von Hendrick Bispinck). Dieser Freikauf von Häftlingen wirkte sich auch mildernd auf die Haft aus, da auf diese Weise frei Gekommene nach ihrer Ankunft im Westen über ihre Haftbedingungen berichten konnten. Anstößiges konnte bei der sogenannten zentralen Erfassungsstelle der Bundesrepublik in Salzgitter oder beim KSZE-Apparat dokumentiert und später entsprechend publiziert werden oder in die Medien gelangen. Die wachsende Rücksichtnahme der SED-Machthaber auf die Meinung der Weltöffentlichkeit und internationale Vereinbarungen hat sich, wie Tobias Wunschik zeigt, insgesamt zum Vorteil der Gefangenen ausgewirkt, besonders bei inhaftierten Bundesbürgern. Allerdings nicht in steter Weiterentwicklung, sondern immer wieder wurden „Daumenschrauben“ angezogen. Von der wirklichen Einhaltung der Menschenrechte war man in der DDR auch in den 1980er Jahren immer noch weit entfernt. Der Fluchthelfer Hartmut Richter oder der widerständige Siegmar Faust in der DDR in Haft saßen, wurden zwar freigekauft, doch ihre Hafterfahrung lässt sie verständlicher Weise deutlich skeptischer auf jene Zeit blicken als die meisten Historiker.

Manche schreiben Milderungen im Justiz- und Strafvollzugssystem eher der wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeit der DDR als internationalen Vereinbarungen wie der KSZE zu. Ein nicht zu vernachlässigender Punkt. Er verweist darauf, wie wichtig die materiellen Interessenlagen bei Kompromissen und Arrangements sind. Eine Lehre, die in späteren Jahren nach der Jahrtausendwende wohl vergessen wurde, als sich zumindest bei der russischen Energiezufuhr nach Deutschland, die Abhängigkeiten umkehrten, wie sich zu Beginn des Ukraine-Krieges dann überdeutlich zeigte. Zu gering eingeschätzt wurden wohl auch die Ambivalenzen der damaligen Veränderungen.

Wie sich die Entspannung in der DDR geradezu gegensätzlich auswirkte, zeigen exemplarisch die Artikel von Peter Pragal und Lothar Tautz. Journalisten wie Pragal konnten seit den 1970er Jahren ständig in der DDR akkreditiert sein. Überregionale Printmedien, die Fernsehanstalten von ARD und ZDF, eröffneten in Ostberlin Büros und konnten trotz Schikanen über das Leben im Osten berichten. Insbesondere die elektronischen Medien strahlen in die DDR zurück. Sie wurden damit auch zu einem Sprachrohr der ostdeutschen Gesellschaft, auch und gerade ihres kritischen Teils. Einige Ostberliner Oppositionelle pflegten ganz ungehindert Kontakte mit westdeutschen Korrespondenten, was auch der Stasi nicht verborgen blieb. Das MfS überlegte sich – zumal in der „Hauptstadt der DDR“– dreimal, ob es nach der Protestaktion eines Aufmüpfigen, diesen verhaften solle. Denn es wusste, dass eine solche Verhaftung möglicherweise schon tags darauf in einer westdeutschen Zeitung gestanden hätte oder sogar im Westfernsehen gesendet worden wäre. Diese Beißhemmung der Stasi gegenüber der Opposition in Ostberlin ermöglichte dieser oftmals, freche Aktionen ohne ein größeres Risiko eingehen zu dürfen.

Andererseits wurden die Repressionsorgane, voran das MfS, aus Furcht vor den Folgen der Entspannungspolitik deutlich aufgerüstet. Die Massenüberwachung der DDR-Bevölkerung ist geradezu eine verquere Reaktion auf die Entspannung. Die Folgen der Westkontakte, ideologische Beeinflussung, Abwerbung, Fluchtvorbereitung, Spionage etc. sollten abgefangen werden. Das ganze Ausmaß dieser Massenüberwachung, die nicht ganz zutreffend als flächendeckende Überwachung bezeichnet wird, wurde aber erst nach der Stasi-Aktenöffnung offenbar. Geradezu besessen verfolgte „Horch und Guck“, wie Lothar Tautz es beschreibt, in dieser Zeit eigenständig denkende und handelnde junge Leute, die sich auch gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann artikulierten. Die Stasi fürchtete die Bildung von sogenannten Helsinki-Gruppen und schlug dabei auf Biermann und seine Anhänger. Eine Zeitlang war gerade die Geheimpolizei der DDR keineswegs erfolglos, den Helsinki-Bazillus mit repressiven Maßnahmen anders als in Polen und der Tschechoslowakei einzudämmen. Allerdings gelang dies nicht dauerhaft. (s. Douglas Selvage)

In Zeiten der institutionellen Routinen wurden von manchen Entspannungseuphorikern realpolitische Veränderungen übersehen, als sich v.a. in Polen mit der Gewerkschaftsbewegung Solidarnocz, die sich zur Fundamentalopposition mauserte, aber auch in der DDR Basisbewegungen artikulierten. (s. Wolfgang Templin). Der propagierte „Wandel durch Annäherung“ fand in den 1980er Jahren mehr unten als oben statt. Und dennoch setzte die Spitzenpolitik v.a. die Mehrheits-SPD mit einer Art „Nebenaußenpolitik“ (Creuzberger) nach wie vor primär mehr auf Kontakte mit der SED-Führung als auf die Graswurzelbewegung in Kirchenkreisen und darüber hinaus. Das Prinzip, Gespräche mit den Führungseliten zu suchen, was angeblich den Wandel garantierte, entkoppelte sich von der Analyse der Realität. Allerdings, wirkungslos waren die Spitzenkontakte nicht. Es sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass ein Gorbaschow in der Sowjetunion wohl auch deswegen auf dem Westen zuging, weil über die Jahre eine gewisse Vertrauensbasis gewachsen war.

Friedensdividende oder blinde Euphorie nach Ende des Kalten Krieges

Die Euphorie über das Ende des Kalten Krieges machte blind- auch für innere Entwicklungen im ehemaligen Sowjetreich. Übersehen wurde, dass weder Gorbaschow noch Jelzin die Sicherheitsapparate der Sowjetunion wirklich transformierten. Der KGB behielt z.B. seine exekutiven Befugnisse, was den Kern der Restauration der politischen Repression, wie wir sie heute erleben, in sich trug. Die Faszination über die Privatisierungsreform unter Jelzin übersah die Gefahr, die aus der Verbindung von korruptem Wolfskapital mit den Resten der Sicherheitsapparate entstand, wie sie für das System Putin kennzeichnend ist. Die Devise des damaligen Außenministers Frank Walter Steinmeier (SPD), "Annäherung durch Verflechtung“, eine eher verballhornte Fortschreibung von Bahr/Brands Formel „Wandel durch Annäherung“ mutet angesichts der Erkenntnis der Rolle, die die deutsche Energieabhängigkeit bei Putins Kriegskalkül spielte, geradezu naiv an. Ganz zu schweigen von der Unterschätzung des eurasisch-imperialen Gedankengutes in Teilen der russischen Gesellschaft. Die Signale hätten schon vor den kriegerischen Auseinandersetzungen am Kaukasus auf orange stehen müssen (und können).

Das Prinzip, dass Gespräche, Kontakte und Wirtschaftsbeziehungen per se gut und erfolgreich seien, dass nicht realpolitisch hinterfragt wurde, führte zu einem heute naiv anmutenden deutsch-russischen Pele Mele. Männerfreundschaften und Eitelkeiten, wie sie heute vor allem gegen manche SPD-Kreise gewendet werden, sind allenfalls die Spitze dieser Entwicklung. Dahinter steckte aber auch ein bundesdeutscher Mainstream, der mit Modernisierungstheorien hoffte, dass wirtschaftlicher Wandel automatisch zu mehr Demokratie führe. Eine Gleichung aus der Tradition der 1960er Jahre, die spätestens seit dem ökonomischen Aufwuchs des autoritär verharrenden China nicht mehr als gesicherte Grundannahme gelten sollte.

Heute wollen Manche, diese „peinliche“ Phase vor und nach der Jahrtausendwende von der „guten“ Vorzeit abtrennen, um die klassische Entspannungspolitik für sich zur retten. (s. Stefan Müller). Andere vermeiden von Entspannung zu reden, obwohl sie eine derer Grundideen, den Versuch der Zusammenarbeit und der Konsensbildung in internationalen Gremien, nicht aufgeben wollen (s. Marcel Schmidt). Sehr pointiert lehnt es der Bundespolitiker Roderich Kiesewetter (CDU) ab, der sich engagiert für die militärische Verteidigung der Ukraine einsetzt, das Wort Entspannung in den Mund zu nehmen.

Die institutionellen Instrumentarien der Entspannung wurden zwar nach dem Ende des Kalten Krieges weiterentwickelt. Die KSZE wandelte sich zur OSZE. Etwas widersinnig anmutend, verlor die Organisation in den relativ konfliktarmen Jahren an Bedeutung, was sich dann mit Großkonflikten wie dem Krieg in Ex-Jugoslawien und später der Donbas/Krim-Auseinandersetzung änderte, als OSZE-Missionen gefragt waren. Aus der Perspektive vom Februar 2022 erwiesen sich diese als zu schwach, um die Ukraine-Invasion zu verhindern. Spätestens seither liegt die Frage auf dem Tisch, ob die OSZE überhaupt noch eine Berechtigung hat und wenn dann welche, und dann, ob mit oder ohne das Mitglied Russland. (s. Artikel von Jan Asmussen und Andreas Werkmeister). Eine Rede der Angehörigen des parlamentarischen Rates der OSCE, (de Ridder, SPD) zeigt immerhin, wie die Grundwerte der KSZE/OSCE, die damals sogar die Sowjetunion mittrug, sich heute gegen Putins imperialistische Aggression richten.

Was bleibt? Entspannung als Modell

Dies verweist auf eine generelle Nachdenklichkeit, die mit Pate bei diesem Schwerpunkt stand. Auch wenn aus heutiger Perspektive die Entspannungspolitik als eine fast absurd anmutende Periode aus dem fernen Vorgestern erscheint, wird sie als klassisches Modell der Konfliktdeeskalation erhalten bleiben. Auf dieses wird man -zumindest in Teilen- eines Tages immer wieder zurückgreifen, wenn die Vorzeichen weniger ausschließlich konfrontativ sind. Das werden viele derzeit nicht gerne hören wollen, da die Zeichen eher auf Eiszeit, sogar heißem Krieg stehen. Vor allem auf ukrainischer Seite ist eine solche Abwehrreaktion emotional verständlich, dennoch muss über den Tag hinaus gedacht werden.

Interessanter Weise gibt es inzwischen sogar auf dem Höhepunkt des Ukraine-Krieges Konzeptionen, die auch Elemente dieses Politikansatzes enthalten (Anne Holper/Lars Kirchhoff). Prinzipen sind mit Pragmatismus gepaart. Friedenssicherung ist das Endziel ohne Aufgabe von Grundpositionen. Beiderseitig legitime Sicherheitsinteressen sind respektvoll von irrationalen Ideologemen zu unterscheiden. Alles das aber nicht als sich selbst benebelnde Glaubenssätze, sondern aus einer Position der Stärke und gekoppelt an kontinuierliche realpolitischen Einschätzungen. Denn das ist wohl eine der bleibenden Lehren aus der Zeit der Entspannungspolitik. Man darf sich nicht in naiven Träumereien ergehen, den Instrumentenkasten mit Bestecken wie „Handel und Wandel“ zum Selbstzweck oder Glaubenssatz erheben, nur weil die Instrumente in bestimmten Phasen der Geschichte einmal erfolgreich waren. Politik muss jeweils realpolitisch neu verortet werden. In diesem Sinne hoffen wir, dass der vorliegende Schwerpunkt anregt.

 

Christian Booß, Martin Böttger, Herausgeber im Juni 2023

Redaktion dieser Ausgabe: Christian Booß, Susan Schmidt-Ehrlich, Uta Gerlant, Sabine Auerbach, redaktionelle Mitarbeit. Matthias Sengewald

Zu den Kontroversen

Auch diesmal sind mit dem Schwerpunkt zwei aktuelle Kontroversen verlinkt.

Kontroverse: Forum für Opposition und Widerstand

Die Diskussion um das Forum auf dem ehemaligen Stasi-Gelände in Berlin geht weiter. Der Deutsche Bundestag hat zwar zum 17. Juni 2023 ein Bekenntnis zu diesem Forum abgegeben. Was aber viele verwundert, dass der Bundestag schon in den vergangenen Jahren die Erstellung eines mehrere 10.000 €uro teuren Architekten- und Baugutachtens finanzierte, noch bevor es jemals eine öffentliche Debatte über den Sinn und die Ausgestaltung des FOW gegeben hätte. Der Ruf eine solche Debatte zu führen, wird immer lauter.

Link: http://h-und-g.info/editorial/kontroverse-forum-fuer-opposition-und-widerstand

 

Kontroverse: Wie war die DDR und was ist Ostidentität?

Zwei Bücher haben z.T. scharfe Reaktionen hervorgerufen, die von Katja Hoyer und Dirk Oschmann. Diesen wird vorgeworfen, die DDR zu beschönigen bzw. allein den Westen für Probleme im Osten anzuprangern? So berechtigt die Kritiken zum Teil sein mögen. Es wundert freilich, die zuweilen geradezu reflexhafte Reaktion vor allem von Ostdeutschen, die eher dem ehemaligen bürgerrechtlichen oder SED-Opfer-Spektrum zuzuordnen sind. Fühlen auch sie sich in ihrer Identität bedroht oder gar ertappt? Jahrelang wurde(zurecht) ein Diskurs über den repressiven Charakter der DDR geführt. Aber Gesellschaften von Diktaturen sind vielschichtiger. Es gibt auch immer Menschen, die sich dort arrangieren und solche System überleben oft länger, wenn sie zumindest einem Teil der Bevölkerung ein passables, angenehmes, sogar fideles Leben ermöglichen. Das gilt sogar und gerade, wie Götz Aly es beschrieben hat, für Hitlers „Volksstaat“[2]. Und Viele von denen, die es in einer Diktatur nicht so genau wissen wollten, wollen es auch danach gar nicht so genau wahrhaben, fühlen sich daher auch heute in den reinen Repressionsgeschichten nicht aufgehoben. Ein Feld, was geradezu darauf wartete, nur besetzt zu werden. Die Integration einer Alltags- und Repressionsgeschichte wie es Aly am NS vorgemacht hat, steht für die DDR wohl noch aus. Vorerst daher Texte zur Kontroverse. (Wir hatten auch den umstrittenen Autoren, Katja Hoyer und Dirk Oschmann, und deren Verteidigern angeboten, Artikel beizusteuern, bisher ohne entsprechende Resonanz.)

Kontroverse X: Wie war die DDR und was ist Ostidentität ?

 


[1] Creuzberger, Sebastian: Westintegration und neue ostpolitik. Die Aussenpolitik der Bonner Republik. Berlin-Brandenburg 2009, S. 157

[2] Götz Aly: „Hitlers Volksstaat“, Frankfurt am Mai 2005