Transit- Dreilinden und Helmstedt

Von Tanja Dückers[1]

Jedes Mal freute ich mich darauf, Berlin verlassen zu können, doch kaum waren wir an unserem Ferienort angekommen, wollte ich wieder nach Hause. …..

Oft ging es über die Grenzübergangsstelle Dreilinden-Drewitz (wir sagten nur Dreilinden), also zum Panzer. Dieser stand, wenn man aus Berlin kam, kurz vor dem DDR-Kontrollpunkt, man wurde also von ihm begrüßt. Der Panzer war so aufgestellt, dass sein Geschützrohr auf West-Berlin gerichtet war. Diese Symbolsprache verstand man auch als Kind, die Eltern redeten öfter und mit Unbehagen darüber. Der Panzer war der erste, der im Jahr 1945 Berlin erreicht hatte. Die sowjetische Militärverwaltung hatte dieses »Denkmal« hier (nach mehreren Umsetzungen ab 1969) errichtet. War man erstmal in Dreilinden, hatte man viel Zeit, den Panzer anzuschauen, denn man musste – immer – lange warten. Ich fand ihn ebenso eindrucksvoll wie beängstigend. Wir löcherten die Eltern, die sich mit Kriegsgerät wenig auskannten (der Vater war wegen seiner Kurzsichtigkeit nicht eingezogen worden), mit Fragen. Eines meiner Lieblingsquartettspiele, mit dem ich als Schülerin spielte, war kein Pferde- oder Katzen-, sondern ein Panzerquartett. Noch heute kann ich manchen ehe- maligen Wehrdienstler oder Soldaten mit Wissen über den Tiger, den Leopard 2 oder das eine oder andere Artilleriegeschütz (die Selbstfahrlafette wurde in die Liste der Lieblingsworte aufgenommen) überraschen.

Je älter ich wurde, desto weniger beängstigend wirkte der Panzer, der mit dem sich endlos hinziehenden Kalten Krieg doch etwas in die Jahre gekommen zu sein schien. Im Dezember 1990 wurde er von den abziehenden sowjetischen Truppen von seinem Sockel gehoben und mitgenommen…..Dem Thema »Warten an der Grenze« könnte man ein eigenes Buch widmen, aber man möchte den Leser ja nicht zu lange war- ten lassen. Das lange Warten hat jedenfalls viel Lebenszeit in An- spruch genommen. Waren wir an den Autoschlangen angelangt, begann das übliche Spiel: Jeder meinte, diese oder jene Schlange komme besonders zügig voran. Immer wenn unsere Mutter gerade die Spur gewechselt hatte, hörte die schnelle Schlange auf, sich zu bewegen, es war, als wäre man erstarrt, in der Zeit, in der Bewegung, in allem. Dann wechselten wir die Schlange, und das Gleiche begann von vorne. Wir entwickelten stets neue – meist falsche Theorien – darüber, welche Schlange am schnellsten vo-rankommen würde. Einmal stellte sich meine Mutter gleich an das Ende der längsten Schlange, was ich etwas fatalistisch fand, aber sie hatte genug von unseren Theorien. Damals gab es weniger Autos mit Klimaanlagen, und bei 35 Grad konnte es in den Sommerferien ziemlich unangenehm wer- den. Den Beweis hierfür erbrachten die vielen von der Hitze gewellten ARAL-Autoatlanten, die in jedem zweiten Auto hinter den Sitzen lagen und neben einer Toilettenpapierrolle vor sich hin schmorten. Gelegentlich versuchten die Eltern, uns zu trösten, indem sie sagten, dass die Ostdeutschen immer so lange warten müssten, auf alles. Man müsse im Osten beim Einkaufen warten, wenn man in ein Restaurant gehen wolle, warten, wenn man ein Auto kaufen, eine Wohnung mieten wolle – immerzu warten – und wir stünden ja nur heute, jetzt gerade, in der Schlange vor dem Grenzübergang. »Kommt von dem Warten der ›Wartburg‹?«, sinnierte mein Bruder einmal zum Spaß. Man spielte die üblichen Spiele, um sich die Zeit zu vertreiben, Autokennzeichen erraten, einander kitzeln und ärgern. Einmal warteten wir sieben Stunden am Grenzübergang, um  nach Prag zu fahren. Anschließend wurde unser Auto von oben bis unten durchsucht. Vielleicht waren wir verdächtig, weil wir alle ein bisschen wie Hippies aussahen, wobei mein Vater eher der elegante Typ »Hippie mit Krawatte« war. Es wurde wirklich alles aufgemacht und abgeschraubt, eine endlose und sinnlose Prozedur. Wir kamen erst nachts in Prag an. Wenn wir endlich dran waren, hatten wir es fast nie mit freundlichem Personal zu tun. Aber vielleicht lag dies weniger an politischer Voreingenommenheit uns gegenüber als an dem extrem langweiligen Beruf. Mehrfach versuchten die Eltern, uns Kindern besonders unfreundliches, herablassendes oder atemberaubend monotones Verhalten mit dem »schrecklich eintönigen Beruf« zu erklären. Man war »durch« und nun lag grau und scheinbar endlos, die aus Betonplatten zusammengeschusterte Transitstrecke vor einem. Sofort fühlte sich die Autobahn anders an, in Abständen von ungefähr fünfzig Metern fuhr man über Bruchnarben, ein im-mergleiches Gerumpel. Die Farben der Verkehrsschilder waren heller, blasser. Und man durfte nur Tempo Hundert fahren. Da war die DDR aus heutiger Sicht sogar fortschrittlich, wenn auch nicht aus ökologischen Gründen. Allerdings verlängerte sich die Fahrtzeit dadurch beträchtlich. Statt hell erleuchteter Bungalows standen auf den Rastplätzen nur ein paar karge Sitzgelegenheiten. Stieg man zurück ins Auto, flog draußen wieder die undurchsichtige Front aus grünen und anthrazitfarbenen Kiefern vorbei. Die zweieinhalbstündige Fahrt bis zum Grenzübergang Helmstedt kam mir ewig vor: Kiefern, Kiefern, Kiefern, blas se Schilder, Autokolonnen, die Bruchnarben im Asphalt, in der Ferne gelegentlich große Häuserblocks, Industrie. Nur wenn wir an dem Hinweis Magdeburg vorbeifuhren, änderte sich etwas. Jedes Mal rief unsere Mutter hocherfreut: »Guckt mal, der Mag- deburger Dom!« Und wir drei drehten synchron unsere Köpfe in Richtung Dom. Wie er da düster und riesig aus der Landschaft ragte, hatte er etwas ebenso Imponierendes wie Unheimliches und erinnerte mich ein bisschen an unsere Gedächtniskirche, nur eben »ohne Stumpf«. Über den Hinweis auf Helmstedt haben wir uns stets gefreut. Jetzt war es gleich vorbei mit dem Betonplattengerumpel. Das kleine Helmstedt hatte während der Deutschen Teilung eine enorme Steigerung seines Bekanntheitsgrades erlangt. Helmstedt war der wichtigste Übergang zwischen der Bundesrepublik und der DDR sowie der westliche Endpunkt einer der Transitstrecken nach West-Berlin.

Wenn wir wieder durch beide Grenzen und über die Transitstrecke gekommen waren, brach immer wieder für einen Mo ment Hochstimmung bei uns aus. Endlich: Avus, man brauchte nicht mehr hundert zu fahren, unsere Mutter gab beschwingt Gas, und der Tacho unseres alten Benz kletterte auf hundertvier- zig. Bald waren wir zu Hause!

Jedes Mal, wenn wir die Grenze passiert hatten, fiel eine kleine Last von uns ab, als hätten wir doch irgendwo im Hinterkopf die Furcht, eines Tages nicht mehr zurück nach Berlin gelangen  zu können.

 

 


[1] Auszug aus Tanja Dückers:  „Mein altes West-Berlin“, be.bra, Berlin 2016, jetzt in 4. erweiterter Auflage auch als Hardcover. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.

 

 

 

 

 

 


[1] Auszug aus Tanja Dückers:  „Mein altes West-Berlin“, be.bra, Berlin 2016, jetzt in 4. erweiterter Auflage auch als Hardcover. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.