Kommunalpolitik statt Symbolpolitik. Otto Ostrowskis Scheitern als Oberbürgermeister Berlins (1946/47)

Von Arthur Schlegelmilch[1]

Am 5. Dezember 1946 wurde der Sozialdemokrat Otto Ostrowski durch Berlins Stadtverordnetenversammlung einstimmig zum Oberbürgermeister gewählt. Als er am folgenden Morgen sein Amtszimmer betreten wollte, fand er es indes verschlossen vor, da sein Vorgänger und mit ihm sämtliche SED-Stadträte der Auffassung waren, dass die Bestätigung des neuen Magistrats durch die Kommandantur abgewartet werden müsse und bis dahin der alte Magistrat noch in Verantwortung sei.[2] Diese Episode, Ostrowski ließ die Tür schließlich durch den Hausmeister öffnen, war ein Vorgeschmack auf die Schwierigkeiten, vor denen der neue Mann an der Spitze der noch ungeteilten Kommune stehen würde. Sie betrafen namentlich das Verhältnis der Selbstverwaltungsorgane zur Kommandantur und den einzelnen Besatzungsmächten sowie die Gestaltung der Beziehungen zur SED als Koalitionspartner im Magistrat einerseits und als politischem Hauptkontrahenten des zurückliegenden Wahlkampfes andererseits.

Der neue Oberbürgermeister betonte in seiner Antrittsrede, dass er „den Berliner Aufgabenkreis im Wesentlichen als ein recht schwieriges Verwaltungsproblem“ auffassen und sich selbst in der Rolle eines „Verwaltungsbeamten mit politischer Grundhaltung“ verstehen wolle. Im Zentrum der künftigen Magistratsarbeit sollte nach seiner Überzeugung die Bewältigung der anstehenden praktischen Aufgaben, insbesondere die Winterfestmachung der Stadt und die Stabilisierung und Verbesserung derLebensbedingungen in allen Sektorenstehen. Dies erschien ihm auch dadurch geboten, dass die mit den Wahlen von 20. Oktober 1946 in Kraft getretene „Vorläufige Verfassung für Groß-Berlin“ den vier zugelassen Parteien (SPD, CDU, SED, LDP) das Recht gab, an der Magistratsarbeit mitzuwirken, mithin eine Art großer Zwangskoalition vorsah.Hinzu kam dieBeschwörungsformel, als ehemalige Reichshauptstadt und als Sitz vonKontrollrat und Kommandantur„moralische Eroberungen zu machen“ und ein Beispiel für die Wiedervereinigung der Besatzungszonen abzugeben.[3]

Fast alles, was Ostrowski in seinem neuen Amt in Angriff nahm, führte zu Irritationen und trug in letzter Konsequenz zu seinem Scheitern bei. Zunächst kam aus den Reihen einiger neu gewählter SPD-Stadträte der Wunsch, führende Mitarbeiter zu entlassen, die sie aus dem alten, kommunistisch dominierten Magistrat „geerbt“ hatten. Allerdings existierte ein älterer Befehl, wonach Entlassungen von „leitenden Personen der Stadtverwaltung“ nur mit Zustimmung der Kommandantur erfolgen könnten. Der neue Oberbürgermeister wandte sich daraufhin mit der Bitte um Klärung an die Kommandantur. Die Anfrage erfolgte Ende Dezember, die ntwort ließ zwei Monate auf sich warten und bestätigte den alliierten Vorbehalt, so dass eine andauernde Pattsituation drohte.Alsdie SED in dieser Situation Gesprächsbereitschaft signalisierte, fand am 22. Februar 1947 in der Neuköllner Wohnung des zur SED übergegangenen ehemaligen Sozialdemokraten Karl Litke (jetzt Ko-Vorsitzender des SED-Bezirksvorstands) ein informelles Treffen statt, an dem neben Ostrowski Polizeivizepräsident Johannes Stumm (SPD) sowie neben Litke zwei weitere führende SED-Funktionäre teilnahmen. Letztere erklärten sich bereit, einige der beanstandeten Personen zurückzuziehen, wenn ein auf drei Monate befristetes gemeinsames Arbeitsprogramm zwischen SPD und SED zustande kommen und gegenseitige Angriffe unterbleiben würden. Ostrowski informierte Franz Neumann, den Vorsitzendendes Berliner SPD-Landesverbandes, von diesem Angebot, was Neumann wiederum zu einer öffentlichen Erklärung veranlasste, derzufolge derartige Verhandlungen grundsätzlich nur auf Parteienebene, mithin nicht durch den OB, geführt werden könnten, Sondervereinbarungen mit der SED aber ohnehin nicht in Betracht kämen.[4]

Damit hätte die Angelegenheit eigentlich beendet sein können, doch war genau das Gegenteil der Fall – vermutlich auch, weil nun die amerikanische Besatzungsmacht in Person eines einflussreichen Beraters dezidiert Front gegen den Oberbürgermeister machte. Es handelte sich um Dr. Ulrich Biel, Leiter der politischen Abteilung der amerikanischen Militärregierung für Berlin und enger Vertrauter des US-Sektorkommandanten Frank Howley. Biel war in einem jüdisch-assimilierten Elternhaus in Berlin-Charlottenburg aufgewachsen und hatte Deutschland 1934 verlassen müssen. Als amerikanischer Offizier kam er bei Kriegsende zurück, zunächst mit dem Auftrag, Verbindungen zu führenden deutschen Persönlichkeiten herzustellen, darunter u.a. zu Konrad Adenauer in Rhöndorf, Kurt Schumacher in Hannover sowie Ernst Reuter, Ernst Lemmer und weiteren antikommunistisch eingestellten Berliner Politikern. Ein Kontakt zu Oberbürgermeister Ostrowski, den Biel intern als „Spinner“ apostrophierte, bestand hingegen nicht. Ernst Reuter, Franz Neumann und der als norwegischer Offizier nach Berlin gekommene Willy Brandt wurden dagegen von ihm gefördert.[5]

Mit großer Wahrscheinlichkeit hat Biel durch eine direkte Intervention bei Franz Neumann entscheidend dazu beigetragen, dass der Berliner SPD-Vorstand bereits kurz nach der Konstituierung des neuen Magistrats gegen den eigenen Mann an der Spitze der Stadtverwaltung Front machte. Teilweise nachweisbar sind auch gegen Ostrowski gerichtete Kontakte Biels zu anderen einflussreichen Sozialdemokraten, darunter Kurt Schumacher und Ernst Reuter, der, aus seinem türkischen Exil über Hannover anreisend, am 29. November 1946 Berlin erreicht hatte und am 19. Dezember als Stadtrat für Verkehr und Versorgungsbetriebe vereidigt worden war. Sie alle waren sich im Grunde darin einig, dass die Fortsetzung einer auf Berlin als Brücke zwischen Ost und West gerichteten Politik aussichtslos sein würde – und sie gingen in dieser Einschätzung konform mit dem sich gerade vollziehenden Wandel der gesamten amerikanischen Deutschland- und Weltpolitik. Wie groß Biels Einfluss auf die berlinpolitische Entwicklung der damaligen Zeit wirklich war, lässt sich nicht genau sagen. Biel selbst ging in eigener Rückschau von einer sehr bedeutenden Einflussnahme aus; sein Biograph Martin Otto folgt ihm und schreibt pointiert dazu: „Eine hypothetische Geschichtsschreibung ohne Biel würde ein Berlin ohne SPD und Ernst Reuter bedeuten“ … und weiter: „damit war nicht nur West-Berlin, sondern in einem gewissen Rahmen ebenso die Bundesrepublik auch das Werk von Biel.“[6]

Am 6. September 1946 hielt der amerikanische Außenminister Byrnes seine berühmt gewordene Stuttgarter „Hoffnungsrede“, die einerseits die Forderung beinhaltete, eine gesamtdeutsche Regierung zu bilden (Nationalrat der Ministerpräsidenten), andererseits, falls dies nicht gelingen würde, den Schlüsselsatz formulierte: „Wenn eine völlige Vereinigung nicht erreicht werden kann, werden wir alles tun, was in unseren Kräften steht, um eine größtmögliche Vereinigung zu sichern.“ Schon für die Zeitgenossen konnte dies als Ankündigung einer Bizonen- und Weststaatsgründung verstanden werden. In der Folgezeit verdichteten sich die entsprechenden Anzeichen, umso mehr als Truman die nach ihm benannte Doktrin, allen freiheitsbedrohten Völkern beistehen zu wollen, ausgerechnet am 12. März 1947 verkündete und damit parallel zur Moskauer Außenministerkonferenz, auf der der noch immer ausstehende Friedensvertrag mit Deutschland behandelt werden sollte. Auf dem Rückflug von Moskau legte der neue US-Außenminister George Marshall einen Zwischenstopp in Berlin ein, um Militärgouverneur Clay eindringlich zu ermahnen, mit der Bizonen-Gründung voranzuschreiten.[7] Die Zeichen standen mithin auf Eindämmung („Containment“) und Weststaatsgründung – was aber sollte vor diesem Hintergrund aus der Viermächtestadt Berlin werden?

Otto Ostrowski stand mit seinem Ansatz, die Berlin-Frage in erster Linie als Verwaltungsproblem, also unpolitisch, aufzufassen , nunmehr auf verlorenem Posten. Hätte man einen solchen Kurs weiterverfolgt, wäre Berlin, so jedenfalls die – wohl zutreffende – Überzeugung seiner Kritiker, zu einer „fünften Zone“ geworden, die auf mittlere Sicht für die Westmächte belastend geworden und aufgegeben worden wäre – vielleicht im Austausch gegen ein paar Gebiete in Thüringen oder Sachsen-Anhalt, vielleicht aber auch geräuschlos und schleichend. Bald schon stellte die Wochenzeitung „Die Zeit“ die Frage, ob womöglich bereits „das sechste Land der Ostzone“ im Entstehen begriffen sei.[8]

Die markanteste personelle Alternative zu Ostrowski stellte Ernst Reuter dar. Ursprünglich Sozialdemokrat, hatte er sich, durch den ersten Weltkrieg in russische Kriegsgefangenschaft geraten, den Bolschewisten zugewandt und war zum Volkskommissar im Siedlungsgebiet der Wolgadeutschen aufgestiegen. Von 1919 bis 1922 gehörte er der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) an und fungierte von August bis Dezember 1921 als ihr Generalsekretär. 1922 wurde er aus der KPD ausgeschlossen und kehrte zur SPD (zunächst USPD) zurück. Ab 1926 amtierte er als Stadtrat für Verkehr und Betriebe in Berlin, ab 1931 war er für knapp zwei Jahre Oberbürgermeister von Magdeburg. Nach Verhaftung und kurzem Konzentrationslager-Aufenthalt konnte er sich nach London und ab 1935 nach Ankara absetzen undwar dort als Hochschullehrer tätig.

Ostrowski und Reuter waren seit langem in inniger Feindschaft verbunden; privat sprach Ostrowski vom „Hoelz-Banditen Reuter“ (als Hinweis auf Reuters Mitverantwortung für einen gescheiterten kommunistischen Aufstandsversuch in Mitteldeutschland unter Max Hoelz im März1921), Reuter hielt Ostrowski wiederum seine unstete und unfähige Amtsführung vor; der Mann an der Spitze sei im Grunde „eine Unmöglichkeit“ heißt es in einem privaten Brief vom März 1947.[9]

Trotz aller Kritik an Ostrowskis politischer Naivität im Umgang mit der SED erscheint es doch überraschend, wie rasch und rigoros er zum Rücktritt gezwungen wurde. Entsprechend verblüfft zeigte sich die sozialdemokratische Stadtverordnetenfraktion, als sie in ihrer Fraktionssitzung am 10. April erstmals über den Ernst der Lage informiert wurde. Letztlich trug aber auch sie die Maßnahmen gegen Ostrowski mit, ebenso wie die kurz nach Ostrowskis Rücktritt am 17. April erfolgende Nominierung und Wahl Ernst Reuters zum Nachfolger Ostrowskis.[10]

Wilhelm Külz, der Zonenverbandsvorsitzende der Liberaldemokratischen Partei, notierte dazu: „Behoben ist damit die völlig unbegründet von der SPD heraufbeschworene Oberbürgermeister-Krisis nicht. Reuter wird zweifellos von den Alliierten nicht bestätigt werden, und so bleibt gerade in einer Zeit, in der alle Kräfte zusammengefasst werden müssten, Berlin oberbürgermeisterlos. Die Wahl Reuters ist nur eine Demonstration und bringt uns praktisch nicht weiter“.[11]

Külz` Prophezeiung war im Wesentlichen zutreffend, wobei die erste Schwierigkeit schon darin bestand, den vorangegangenen Rücktritt überhaupt bestätigt zu bekommen. Als dies endlich gelungen war, blockierte der sowjetische Kommandant durch sein Veto die beantragte Bestätigung Reuters, der zwar von der großen Mehrheit der Stadtverordnetenversammlung, nicht jedoch mit den Stimmen der SED gewählt worden war. Franz Neumann behauptete öffentlich, dass die SED unter Umständen sogar bereit gewesen wäre, Reuter mitzuwählen; in Anbetracht der Vorgeschichte war ein entsprechender Deal für die SPD aber natürlich undenkbar – ebenso wie eine Rücknahme der Reuter-Nominierung. Es lief darauf hinaus, dass die Regierungsverantwortung kommissarisch an die zweite stellvertretende Oberbürgermeisterin, Louise Schröder, ging, während Ernst Reuter als „gewählter, aber nicht bestätigter Oberbürgermeister“ auftrat – durchaus nicht nur im Hintergrund, sondern wenn es um die große Berlinpolitik ging, an erster Stelle. Das heißt aber nicht, dass damit schon alle Weichen im Sinne der späteren „Frontstadt Berlin“ oder West-Berlins als des Schaufensters des Westens gestellt waren. Louise Schröder agierte, teilweise auch zum Ärger Reuters, ihrerseits eher pragmatisch als symbolpolitisch; als sie schwer erkrankte, übernahm der Erste Stellvertretende Bürgermeister, Ferdinand Friedensburg von der CDU die kommissarische Leitung des Magistrats. Berlinpolitisch stand Friedensburg dem geschassten Ostrowski deutlich näher als dem kämpferischen Reuter – einschließlich der Vorstellung, doch noch mit Berlin und von Berlin aus zu gesamtdeutschen Lösungen zu kommen.[12]

In solchem Sinne agierte im Grunde auch die Stadtverordnetenversammlung als Legislative. Es wurde dort darauf geachtet, Gesetze mit möglichst breiten Mehrheiten zu verabschieden, um das Kommandanturveto zu vermeiden. Wo es irgend ging, versuchte man die SED einzubeziehen. Für den einstigen Pädagogen und Schulreformer Ostrowski, der als 27jähriger selbst eine Freiluftschule am Rand Berlins gegründet hatte, dürfte es schließlich eine gewisse Genugtuung gewesen sein, dass noch kurz vor dem Ende der Viermächte-Kommandantur ein Schulgesetz mit großer Mehrheit verabschiedet und ohne Veto genehmigt werden konnte, das ein humanistisch-demokratisch ausgerichtetes einheitliches Schulsystem mit achtjähriger Grundschule, ausgegliedertem Religionsunterricht und restriktiver Privatschulzulassung vorsah. Verweigert hatte sich nur die CDU – SPD, SED und LDP hatten hingegen zugestimmt. Die meisten der in der Legislaturperiode1946/48 verabschiedeten Reformgesetze waren auf vergleichbare Weise als Kompromisspakete zustande gekommen, es war ihnen aber doch anzumerken, dass sie im Kontext linker Mehrheitsverhältnisse ausverhandelt worden waren und die Zukunftserwartung eines heraufziehenden sozialistischen Zeitalters eine prägende Rolle spielte. Als sich im Spätherbst 1948 die endgültige Trennung von Magistrat und Stadtverordnetenversammlung vollzog und sich damit die Halbstadt „West-Berlin“ konstituierte, taten sich dann viele Berliner Sozialdemokraten mit dem klassenbewussten Franz Neumann an der Spitze außerordentlich schwer, die erzielten Errungenschaften: Schulgesetz, Sozialisierungsgesetz, Wirtschaftskammergesetz, Versicherungsanstalt Berlin, Abschaffung des Berufsbeamtentums, aufzugeben und damit den Preis für die von Ernst Reuter geforderte maximale Westintegration West-Berlins zu bezahlen.[13]

Einen Tag nach Ostrowskis Rücktritt berichtete Franz Neumann nach Hannover an Kurt Schumacher. Die Angelegenheit sei nun zu einem „einigermaßen erträglichen Ausgang“ gekommen. Um zu einer endgültigen Bereinigung zu kommen, machte Neumann den Vorschlag, Ostrowski irgendwo außerhalb Berlins unterzubringen, zum Beispiel auf einer Professur oder „irgendeinem Bürgermeisteramt“: „Wenn er schnellstens wieder in die Arbeit gespannt wird, hat er auch keine Gelegenheit, seinem Nachfolger schaden zu können“ lautete das Argument, das freilich in Hannover auf keinerlei Resonanz stieß.[14] Wenn es eines Beweises für Neumanns Befürchtungen bedurft hätte, erbrachte ihn Ostrowski umgehend damit, dass er bei der ersten großen Berliner Jugendweihefeier im Metropol (damals „Neue Scala“) am Nollendorfplatz die Festrede hielt und sich als möglicher Bezirksbürgermeister­kandidat für Neukölln oder Tempelhof ins Spiel brachte. Als schnelle Lösung bot sich in dieser angespannten Lagenur die Leitung des so genannten „Hauptprüfungsamts“ beim Magistrat an, in etwa dem heutigen Rechnungshof von Berlin vergleichbar. Nachdem Ostrowski das Amt am 8. Oktober 1947 übernommen hatte, verwendete er viel Energie darauf, seinen Posten möglichst dominant und selbständig zu gestalten. Ihm schwebte eine Art „Vierter Gewalt“ jenseits des Magistrats ohne Unterstellung unter den Oberbürgermeister vor; intern sollte der Präsident das uneingeschränkte letzte Wort haben, d.h. keine kollegiale Entscheidungsstruktur bestehen. Damit begann ein zähes Ringen bis zur endgültigen Verabschiedung im Jahr 1951; in den wesentlichen Punkten konnte sich Ostrowski nicht nur nicht durchsetzen, sondern wurde anschließend – gegen seinen Widerstand - in den Ruhestand versetzt.[15]

Davor schon hatte es so etwas wie einen „zweiten Fall Dr. Ostrowski“ gegeben, nachdem der geschasste OB zusammen mit seinem Amtsvorgänger Arthur Werner am 9. November 1948 an einem offiziellen Empfang der Sowjetischen Militärverwaltung aus Anlass der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution teilgenommen hatte. Erst kurz vorher hatte man ihn– im Nebenamt -zum Stadtwahlleiter für die kommenden Stadt- und Bezirksverordnetenwahlen bestellt – auf öffentlichen und parteiinternen Druck hin musste er jetztseinen Rücktritt erklären. Davor hatte er sich bei den West-Berliner Landesverbänden von CDU und LDP unmöglich gemacht, als er deren Berechtigung anzweifelte, überhaupt bei den kommenden Wahlen antreten zu dürfen.[16]

An den erlittenen Niederlagen hatte Ostrowski schwer zu arbeiten; im Nachlass finden sich zahlreiche Entwürfe und Kopien von Protestschreiben und Rehabilitationsforderungen. Um der zunehmenden Isolation zu entkommen, suchte er schließlich sogar Anschluss an Franz Neumann, zunächst mit dem Ziel – mit 75 Jahren – doch noch einmal auf den Posten des Rechnungshofpräsidenten zu kommen, später versuchte er, sich an Intrigen gegen den neuen Landesverbandsvorsitzenden und Oberbürgermeister Willy Brandt zu beteiligen. Parallel unternahm er aber auch immer wieder den Versuch, führende Sozialdemokraten zu Gesten der Wiedergutmachung zu bewegen – wenn schon nicht durch die Übergabe einer Leitungsfunktion, so doch wenigstens durch die Ernennung zum Stadtältesten oder die nachträgliche Heraufsetzung seiner Altersbezüge. Meist erhielt es nur eine lapidare oder gar keine Antwort.[17]

Immerhin erschien im SPD-Organ „Berliner Stimme“ zu seinem 80. Geburtstag am 28. Januar 1963 eine differenzierte Würdigung, die allerdings vor allem auf Ostrowskis Leistungen als Bezirksbürgermeister von Prenzlauer Berg (1926-1933) einging. Als Oberbürgermeister sei er freilich ein Opfer seiner „Eigenwilligkeit“ geworden und selbst verschuldet in Konflikt mit Landesvorstand und Fraktion geraten. Abschließend heißt es: „Die Tatsache, dass Otto Ostrowski die politischen Gegebenheiten damals anders eingeschätzt hat als die übergroße Mehrheit seiner Partei, ist kein Hinderungsgrund, dem um den Sozialismus verdienten Kommunalpolitiker unseren Dank und unsere Glückwünsche zu übermitteln“. Man muss annehmen, dass der Jubilar nicht allzu große Freude an diesem Geburtstagsgruß hatte. Als er wenig später am 18. Juni 1963 starb, änderte sich an seiner Bewertung nichts Wesentliches. So heißt es im Nachruf des „Tagesspiegel“, dass Ostrowski als Oberbürgermeister zwar von guten Absichten geleitet gewesen wäre, er aber „nicht den für einen Oberbürgermeister Berlins notwendigen allgemeinen politischen Blick, um nicht zu sagen, Instinkt besaß.“[18]

Es wird verständlich, dass es aus der Perspektive der Halbstadt West-Berlin schwer fiel, einen erinnerungskulturellen Bezug zu Ostrowski herzustellen. Erst nach dem Mauerfall eröffneten sich neue Möglichkeiten, zunächst auf der bezirklichen Ebene mit einer Straßenbenennung im Bereich eines neu entstehenden Wohnquartiers im Bezirk Prenzlauer Berg, per Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung im Jahr 2000. Am 9. November 2006 enthüllten Staatssekretär André Schmitz (Senatskanzlei) und Inge Deutschkron dann eine Gedenktafel am Haus Westfälische Str. 64, woInge Deutschkron mit ihrer Mutter zeitweilig von Ostrowski und seiner Lebensgefährtin Margarethe Sommer vor dem Zugriff der Gestapo versteckt worden war.[19] Schließlich hat der Senat von Berlin unlängst, im August 2021, beschlossen, Ostrowskis Grabstelle auf dem Friedhof Wilmersdorf als Ehrengrabstätte auszuweisen. Zur Begründung wird auf die Beteiligung an der Novemberrevolution, die Bürgermeistertätigkeit in Prenzlauer Berg und den Schutz der Familie Deutschkron verwiesen. Die uns hier besonders interessierende Oberbürgermeisterzeit wird nur kurz gestreift: „In seiner Amtszeit verfolgte er einen pragmatischen und humanistischen Ansatz bei der gemeinsamen Anstrengung, Berlin wiederaufzubauen“ heißt es dort ebenso wohlwollend wie nichtssagend.[20]

Aus dem westlichen Historikerlager kamen zunächst biographische Deutungsansätze, die in etwa auf der Linie des Tagesspiegel-Nachrufs von 1963 bzw. der Würdigung der Berliner Stimme vom Januar desselben Jahres entsprachen. Für die Zeithistoriker der DDR war Ostrowski hingegen eine labile und um Orientierung ringende Figur, die letztlich dem US-Imperialismus zum Opfer gefallen war. Dies änderte sich nach dem Ende der Ost-West-Konfrontation insofern, als nun stärker der Gesichtspunkt des „Zentrowski“ aufgegriffen wurde, mit dem Ostrowski selbst zu seinen Lebzeiten sympathisiert hatte. Selbst ehemals stramme Propagandisten, wie der einst als „schärfstes Schwert der SED“ geltende Historiker Gerhard Keiderling entdeckten nun ihre Sympathie für gescheiterte Ost-West-Brückenbauer wie Otto Ostrowski und Ferdinand Friedensburg. Deren Weg des Ausgleichs von sozialistischen und demokratischen Prinzipien sei nicht an sich selbst gescheitert, sondern durch den zugespitzten Antikommunismus Schumachers, Reuters und Adenauers unmöglich gemacht worden. Damit aber sei auch die DDR in immer größere Abhängigkeit von der Sowjetunion geraten und seien diejenigen entscheidend geschwächt worden, die für einen „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ gekämpft und eine Stalinisierung der DDR zu vermeiden versucht hätten. Dies ist dann auch der Grundtenor der bislang einzigen Ostrowski-Biographie, die 2004 von dem ehemaligen SED-Funktionär und Historiker Norbert Podewin vorgelegt wurde. Podewin hat sorgfältig recherchiert und kommt in vielen Punkten zu nachvollziehbaren Ergebnissen, freilich eingebunden in eine Erzählung, die Ostrowski zerrissen sieht zwischen einer auf konstruktive und pragmatische Zusammenarbeit gerichteten, formal korrekt handelnden SED und einervon außen gelenkten Berliner Sozialdemokratie, als deren wichtigster Agent Ernst Reuter gewirkt habe. Die Gegenmaßnahmen der östlichen Seite bis hin zur Blockade Westberlinserscheinen vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. Otto Ostrowski wird zu einem tragischen Helden, der mit unzureichenden Kräften für das Wohl Gesamtberlins eingetreten ist –gegen eine Übermacht von Feinden.[21]

Zweifellos muss bei aller Würdigung der Bemühungen Ostrowskis um die Wahrung der gesamtstädtischen Einheit bedacht werden, dass eine Politik der Herabstufung des Berlin-Problems notwendigerweise scheitern musste. Berlin war eben weitaus mehr als eine ambitionierte Verwaltungsaufgabe. Ohne die reale oder wenigstens symbolische Übernahme größerer Aufgaben konnten weder die Viermächtestadt als Ganze noch ihre beiden Hälften dauerhaft überleben. Während dem östlichen Teil die Rolle der „Hauptstadt der DDR“ wie selbstverständlich zuwuchs, blieb für West-Berlinletzten Endes nur die politische Symbolik.

Dies als erste erkannt zu haben, war das Verdienst der sozialdemokratischen Einheitsparteiverweigerer von 1946. Die SPD mit ihrem neuen Hauptprotagonisten Ernst Reuter wurde damit zur Symbolpartei des Protests gegen die sowjetische Berlin- und Deutschlandpolitik und gegen die SED.

Jenseits akuter Krisenlagen, im Windschatten von Deutschland- und Weltpolitik und in Übergangskonstellationen, wurde es komplizierter – natürlich auch für die Stadtoberhäupter. Die größte Herausforderung bestand dann darin, der Gefahr der Provinzialisierung West-Berlins zu begegnen, die letztlich wohl unausweichlich und endgültig spätestens nach dem Mauerbau über die Halbstadt hereingebrochen wäre, wenn nicht mit der Politik des „Wandels durch Annäherung“ seit 1963 ein politischer Paradigmenwechsel, heute würde man sagen: eine neue Meistererzählung, geschaffen worden wäre, die ihren Ausgangspunkt in Berlin hatte – mit den Initiatoren und Hauptakteuren Willy Brandt und Egon Bahr (in Verbindung mit Heinrich Albertz und Klaus Schütz im Hintergrund).Dennoch hielt sich die Sorge, doch noch zur fünften Zone oder zur „Selbständigen Politischen Einheit Westberlin“, wie es im DDR-Jargon lautete, herabzusinken –  und ging es immer auch darum, die Zugehörigkeit Berlins zum Westen wenn schon nicht formell, so doch materiell und symbolisch zu unterstreichen. „Berlin muss regiert, nicht verwaltet werden“ lautet ein Wahlslogan des ansonsten allerdings eher farblosen Regierenden Bürgermeisters Otto Suhr, der 1954 dem noch farbloseren Walther Schreiber im Amt folgte. Willy Brandt sah sich hingegen dem Ruf ausgesetzt, zu hoch über den Niederungen der Stadtpolitik zu schweben und mit seiner eigenständigen Berlinpolitik möglichweise sogar den Status quo der faktischen Zugehörigkeit Westberlins zur Bundesrepublik zu gefährden. Heinrich Albertz scheiterte an der Balance zwischen Symbol- und Kommunalpolitik schon nach 285 Tagen, auch nur 142 Tage mehr als Ostrowski, während Klaus Schütz davon profitierte, mit dem Viermächteabkommen über Berlin sowie dem Transitabkommen von 1971als erster Regierender Bürgermeister auf gesicherter Grundlage arbeiten und sich im Glanz der Entspannungspolitik sonnen zu können. Die neue Verheißung lautete, dass West-Berlin zu einer „normalen Metropole“ und zum „Modell einer Großstadt“ werdenwürde, was sich vielleicht nach internationaler Geltung anhörte, in Wirklichkeit aber nur ambitionierte Kommunalpolitik war, die noch dazu in erheblichem Maße auf Subventionen aus der Bundesrepublik beruhte. Kommunalpolitik und große Politik miteinander zu verbinden, lautete auch das Mantra der auf Klaus Schütz folgenden Regierenden bis 1989: Dietrich Stobbe (1977-1981), Hans-Jochen Vogel (100 Tage im Amt!), Richard von Weizsäcker (1981-1984), Eberhard Diepgen (1984-1989, 1991-2001) und Walter Momper (1989-91). Großen Ansprüchen standen Provinzpossen, Skandale und Querelen gegenüber; stets war es eine Gratwanderung, auf der man schnell abstürzen konnte, wenn sich die Rahmenbedingungen änderten und sich die vermeintlichen Weggefährten und Bundesgenossen abwandten – Otto Ostrowski hat dies am eigenen Leib erfahren, im Grunde aber bis an sein Lebensende nicht verstanden, warum mal als „Zentrowski“ im gespaltenen Berlin keine Zukunft haben konnte.

Anmerkungen:


[1] Historiker und Professor an der Fernuniversität Hagen.

[2] Vgl. Berlin-Chronik, Online-Version, hrsg. vom Landesarchiv Berlin. - URL: www.berlin-chronik.de (Stand: 17.03.2023), 5./6.12.1946; Die Sitzungsprotokolle des Magistrats der Stadt Berlin 1945/46, Tl. 2: 1946, bearb. u. eingel. v. Dieter Hanauske, Berlin 1996, S., 34f.

[3] Vgl. Berlin. Quellen und Dokumente 1945-1951, 1. Hlbd., hrsg. im Auftrag d. Senats v. Berlin, Berlin 1964, S. 1153f.; Otto Ostrowski und die Neuorientierung der Sozialdemokratie in der Viersektorenstadt Berlin, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, Bd. 14 (1993), S. 59-80, hier: S. 64, 69.

[4] Vgl. Norbert Podewin. Otto Ostrowski – der gelöschte Oberbürgermeister. Ein Schicksal im Berlin des Kalten Krieges, 2. Auf. Berlin 2005, S. 176f.

[5] Martin Otto, „Ein stiller Diplomat“. Ulrich E. Biel im Gespräch über die Berliner Nachkriegsrepublik (Ernst-Reuter-Hefte, 8), Berlin 2017, S. 15.

[6] Vgl. Martin Otto, „Ich hab` die Stadt Berlin regiert“. Ulrich Biel – ein stiller Stratege auf der Weltbühne, Berlin 2022, S. 82ff.; William Stivers and Donald A. Carter, The City becomes a Symbol. The U.S. Army in the Occupation of Berlin, 2017, S. 191-193.

[7] Vgl. Lucius D. Clay, Decision in Germany, New York 1950, S. 174.

[8] Das „sechste“ Land der Ostzone, in: Die Zeit v. 12.6.1947, S. 2. Zum allgemeinen Presseecho in Bezug auf den Status Berlins vgl. Arthur Schlegelmilch, Die Viersektorenstorenstadt Berlin in der deutschen Presseöffentlichkeit 1945-1949, in: Otto Büsch (Hg.), Beiträge zur Geschichte der Berliner Demokratie 1919-1933/1945-1985, Berlin 1988, S. 176f.

[9] Vgl. N. Podewin, Otto Ostrowski…, S. 83.

[10] Vgl. Berlin-Chronik, Online-Version, hrsg. vom Landesarchiv Berlin. - URL: www.berlin-chronik.de (Stand: 17.03.2023), 10./11.4.1947, 17.4.1947, 

[11] Wilhelm Külz, Notiz v. 24.6.1947, Bundesarchiv Koblenz, N 1042, Nr. 146, S. 127.

[12] Vgl. Ferdinand Friedensburg, Es ging um Deutschlands Einheit. Rückschau eines Berliners auf die Jahre nach 1945, Berlin 1971, S. 259-306.

[13] Vgl.Arthur Schlegelmilch, Hauptstadt im Zonendeutschland. Die Entstehung der Berliner Nachkriegsdemokratie 1945 – 1949 (= Schriften der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 4). Berlin 1993, Kap. 4, S. 384ff., zum Schulgesetz S. 470ff.; zur weiteren Entwicklung: Wolfgang Haus, Georg Kotowski, Hans J. Reichhardt, Berlin als Hauptstadt im Nachkriegsdeutschland (= Berliner Demokratie 1919 - 1985, Bd. 2), Berlin New York 1987, S. 71ff.

[14] Vgl. N. Podewin, Otto Ostrowski…,S. 212-214.

[15] Vgl. Ulrich Müller, Finanzkontrolle im Stadtstaat Berlin, in: Heinz Günter Zavelberg (Hrsg.) Die Kontrolle der Staatsfinanzen. Geschichte und Gegenwart, 1714 – 1989, Berlin 1989, S. 388ff.

[16] Vgl. N. Podewin, Otto Ostrowski…,S. 234ff., 243ff.

[17] Vgl.N. Podewin, Otto Ostrowski…, S. 262ff.

[18] Vgl. N. Podewin, Otto Ostrowski…,S. 285ff.

[19] https://www.berlin.de/ba-charlottenburg-wilmersdorf/ueber-den-bezirk/geschichte/persoenlichkeiten-und-gedenktafeln/artikel.125732.php; vgl. Dennis Riffel‚ Unbesungene Helden – Die Ehrungsinitiative des Berliner Senats 1958 bis 1966, Berlin 2007, S. 117.

[20] www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2021/pressemitteilung.1103356.php.

[21] Vgl. Gerhard Keiderling: Um Deutschlands Einheit. Ferdinand Friedensburg und der Kalte Krieg in

Berlin 1945–1952, Berlin 2009. Dazu: Daniel Koerfer: Freund der Sowjetunion. Das einst schärfste Historikerschwert der SED würdigt Ferdinand Friedensburg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.07.2009, S. 6. N. Podewin: Otto Ostrowski…, z.B. S,.10. Norbert Podewin hatte zeitweise führende Positionen im ZK der SED und im Staatsrat der DDR inne, 1971-1975 diente er als persönlicher Referent für den Stellvertretenden Staatsratsvorsitzenden Friedrich Ebert.