Aufbruch in die Nachkriegsmoderne- Willy Brand als Kommunalpolitiker

Von Ansgar Hocke[1]

 

WEST- BERLIN MUSS ERBE ANNEHMEN

Mit großem Abstand blicken wir heutzutage zurück auf eine Absurdität der Weltgeschichte namens West-Berlin. Doch es lohnt sich, den Rückblick zu wagen, auch wenn dies nachfolgend nur in Ausschnitten geschehen kann und dabei eine Person in den Mittelpunkt gestellt wird, nämlich Willy Brandt.

Was wären wir West-Berliner ohne das Erbe anzunehmen? Dann würde „West-Berlin einem Vergessen anheimfallen“, schrieb  zu Recht, der Autor Wilfried Rott in seinem Buch „Die Insel- eine Geschichte West-Berlins“. Und W. Rott fügte an, es sei im Westteil nicht sehr opportun, sich zum alten West-Berlin zu bekennen. Der Autor dieser Zeilen bekennt sich ausdrücklich dazu. Es geht dabei nicht darum so etwas wie einen Frontstadtgeist auferstehen zu lassen oder den Ostteil der Stadt  auszuschließen; es geht in der Rückschau darum, jedem Teil der Stadt seine Identität, seine Geschichte zu belassen und weder die eine noch die andere zu vernichten.

West-Berliner Bauboom

Ende der fünfziger Jahre wurde im Westteil der Stadt gebaut, gebuddelt, eröffnet und eingeweiht. Willy Brandt als Regierender Bürgermeister verstand es, diese Phase geschickt für sich zu nutzen, sich zu inszenieren, um der gespaltenen Nachkriegsmetropole mit seinen 2,3 Millionen Einwohnern eine Zukunft aufzuzeigen. Es herrschte so etwas wie der bauliche „Selbstbehauptungswille“ in der schon geteilten, immer noch Kriegs-zerstörten Stadt. Am 15. September 1960 um 19 Uhr 15 zum Beispiel weihte Brandt vor Tausenden Zuschauer*innen den Ernst- Reuterplatz, drückte den Knopf für die Inbetriebnahme  der 41 beleuchteten Wasserfontänen auf der Mittelinsel des Platzes und erklärte feierlich:“Heute wollen wir uns freuen über ein neues Stück unseres Aufbaus. Ich drücke jetzt hier auf den Knopf und als Ergebnis eines technischen Wunderwerkes werden wir in ein paar Sekunden den schönen Springbrunnen in der Mitte dieses Ernst Reuter Platzes in Funktion sehen.“

Die Mühen der Ebene

Der legendäre Bürgermeister Ernst Reuter lebte damals schon nicht mehr. Reuter war Vorbild und Lehrmeister für Willy Brandt gewesen, der im Alter von 44 Jahren im Jahr 1957 zum Regierenden Bürgermeister gewählt wurde. Damals der jüngste Regierungschef Deutschlands. Betrat die große bundespolitische Bühne erst später. Ende der Fünfziger ging es für ihn um das Tagesgeschäft, um die Mühen der Ebene: Brandt kümmerte sich um wirtschaftliche, finanzielle, soziale Probleme einer gespaltenen Nachkriegsmetropole. Er war geradezu zu einer kommunalpolitischen Nüchternheit gezwungen, um die Existenz der Stadt zu sichern und etwas für ihre städtebauliche Entwicklung zu tun. Die Ereignisse, die Nachrichten, die Schlagzeilen der Jahre 1957, 1958, die die Zeitungen prägten, klingen trotz aller Unterschiede, erstaunlich vertraut. Damals konnte man in den Tageszeitungen lesen: 150 000 Flüchtlinge nach Berlingekommen- Eier und Butter sollen teurer werden -Mangel an Richtern-Wohnungsbau: Schlüsselproblem für Berlin-Senat will 23 000 Wohnungen pro Jahr bauen-Kriminalität  sprunghaft angestiegen-Philharmonie wird noch eine Million DM teurer.

Gutes Verhältnis zu Wahlbürgern

Willy Brandt verkörperte in seinen West-Berliner Jahren erstens einen Kommunalpolitiker und zweitens einen Landespolitiker. Denn West- Berlin sollte ein normales zwölftes Bundesland werden und dafür machte er Politik. Doch West- Berlin blieb natürlich unter der Kontrolle der westalliierten Stadtkommandanten. Die „Frontstadt“ sollte aber wenigstens- so wollte es Willy Brandt-im Zusammenspiel der Bundesländer anerkannt werden, auch wenn die Stadt nicht von der Bundesrepublik regiert werden durfte. Dafür, dass West Berlin realpolitisch zwölftes Bundesland werden sollte, hat er sich unentwegt eingesetzt. Der gebürtige Lübecker wollte ganz bewusst Landespolitiker sein. So beschrieb es Nils Diederich, seit 71 Jahren Mitglied der SPD und ein Weggefährte und Parteifreund Willy Brandts. Diederich skizzierte Brandt als einen „Landespolitiker, der auch immer wieder gewählt werden wollte und wenn er Wahlerfolge haben wollte, musste er zu den Berliner einen direkten Draht entwickeln, von morgens bis abends war er unterwegs um Menschen oder auch Betriebe aufzusuchen. Und damit hat er es an der Berliner SPD vorbei  geschafft, ein gutes Verhältnis zu den Wahlbürgern herzustellen.“

Abhängig vom Bonner Tropf

1957 prägten die vier Sektoren das Leben in der Stadt. wobei der Ostsektor von den Sowjets abgeriegelt war und kontrolliert wurde. Die Macht in den Westsektoren übten die Briten, die Franzosen und die Amerikaner aus. An den Bundestagswahlen durften sich die „Insulaner“ nicht beteiligen. Die Blockade West- Berlins lag zwar zehn Jahre zurück, doch der Druck durch die Sowjetunion, durch den damaligen Regierungschef Nikita Chruschtschow auf West Berlin ließ nicht nach. Wie und woraus sollte dieses Berlin seine Zukunft schöpfen, die Industrie und die Wirtschaft voranbringen? Die Lage war beklemmend. Die Zentralen von Siemens, der AEG zogen weg, viele wichtige Spitzenverbände, Industriebetriebe, vor allem die Metallbranche, übersiedelten nach Westdeutschland. Berlin wurde abgehängt und man musste sehen, die verloren gegangenen Arbeitsplätze zu ersetzen. Keine Frage: Die Existenz West -Berlins- abgesichert durch den Schutz der Westalliierten- hing am Bonner Tropf, war angewiesen auf massive Bundeshilfe. Jeder neue Bundeshaushalt ein Kampf und Krampf mit den Bonnern.

Leitbild: „Die Moderne Stadt“

Die politische Spaltung der Stadt war seit dem 30 November 1948 vollzogen, die SED putschte damals die legale Gesamtberliner Regierung weg, diese floh ins Rathaus Schöneberg. Der Ostteil der Stadt schwang sich auf, Hauptstadt der DDR zu werden und West Berlin blieb nichts anderes übrig, als sich als Teil-Berlin zu „normalisieren“, sich einzurichten. Denn Bonn war inzwischen Regierungssitz geworden und Ost - Berlin verfolgte den eigenen sozialistischen Weg. Mit seinen Bauten an der Stalinallee setzte man ein Zeichen gegen den Städtebau des Westens. Für West Berlingalt wie selbstverständlich das Leitbild der Stadt der Moderne: West Berlin baute für seine Zukunft: Wohnungen, Kongressräume, Büros und breite Schneisen für die Autos. 1957 hatte sich die Zahl der zugelassenen Motorfahrzeuge gegenüber 1951 bereits verdreifacht. Die Großzügigkeit von Straßen wie der  Bundesallee, der Heerstraße, dem Kurfürstendamm, der Joachimstaler Straße und dem Hohenzollerndamm  ließ die Lust am Autofahren stetig anwachsen. Schnellstraßen, Autobahnen wurden gebaut, Straßen verbreitert. Immer mehr Bürohäuser entstanden nach und nach, zuerst rund um den Bahnhof Zoo und der Ruine der Gedächtniskirche. Die neue Randbebauung des Zoologischen Gartens, so können wir in einer damaligen Radioreportage hören, stellte eine einheitliche Neuanlage von 400 Metern Länge dar: “Viele Bauten der Wirtschaft, Versicherung, Geschäfte und Kaufhäuser sind am Kurfürstendamm und in der Tauentzienstraße in den letzten Jahren entstanden“,  berichtete der Reporter. Dies waren in erster Linie langgezogene Hochhäuser, durch den Marshallplan finanzierte Bauten im „amerikanischen Stil,“ wie das Hilton-Hotel und das Bikinihaus, das Telefunkenhaus sowie das Ernst Reuter-und das Corbusier Haus , das im Rahmen der internationalen Bauausstellung von 1957 entstanden war . West Berlin versuchte sich im Städtebau und in der Architektur ein internationales Flair zu geben.

„Gesunde Mischung“

Willy Brandt managte nicht nur  zehn Jahr lang als Regierender Bürgermeister die Geschicke West-Berlins, sondern er engagierte sich von 1958 an auch für die bundesdeutsche Stadtentwicklung. Fünf Jahre lang war er Präsident des Deutschen Städtetages. In diesem Amt musste er bundesweit städtebauliche Probleme bewältigen und formulierte Anforderungen an eine lebenswerte Stadt zusammen mit seinen Kollegen aus den anderen Städten der Bundesrepublik: Industrie mit Qualm und Lärm zwischen neuen Wohnungen, das war in Abkehrung der frühindustriellen Verhältnisse verpönt. Es galt der Grundsatz der räumlichen Trennung der Funktionen von Wohnen, Gewerbe, Einkauf, Industrie. Das zugehörige verkehrspolitische Leitbild der fünfziger Jahre war die autogerechte Stadt. Ausreichend Parkplätze sollte es geben, keine zu enge, zu dichte Bebauung. Eine wohlüberlegte, gesunde  Mischung von Geschäften, Büros, Kultur, Unterhaltungsstätten und Wohnungen sei notwendig, so lautete die Devise, für eine City, in der das Leben pulsieren sollte. Willy Brandt ging davon aus, dass sich die Städte durch Citybildung zu Dienstleistungsorten verwandeln würden. Für West- Berlin sah er darin eine große Chance. Natürlich waren Industrieansiedlungen wichtig für die Arbeitsplätze. Aber dass sich die Wirtschaft veränderte, der tertiäre Sektor anwuchs, bewertete der „Regierende“ als positiv für seine Stadt.

Glücksfall Hansaviertel

Es war ein Glücksfall für Willy Brandt, dass der Beginn seiner Amtszeit mit der Eröffnung der Internationalen Bauausstellung im Hansaviertelzusammenfiel, die noch unter seinem Vorgänger Otto Suhr akquiriert worden war. Denn die Bauten im Hansaviertel signalisierten einen Neubeginn:  Berlin öffnete sich der Welt, allen Existenznöten zum Trotz. Bekannte internationale Architekten der Nachkriegsmoderne, wie Walter Gropius, Oscar Niemeyer, Max Taut und andere lockten die Besucher an: Viel Grün, viel Luft und Sonne und alles nicht weit vom Tiergarten entfernt. Das Hansaviertel wurde ein einziges riesiges Ausstellungsstück: Denn die 54 Architekten aus verschiedenen Nationen der „freien Welt“  hatte sich bei den Baukosten die Zügel anlegen lassen. Sie durften nicht viel teurer bauen, als es im Rahmen des damaligen sozialen Wohnungsbaus üblich war.

„Auferstanden aus Ruinen-West....“

Diese Sentenz aus der DDR-Hymne galt natürlich auch für das Nachkriegsberlin. Willy Brandt kümmerte sich mit seinem Senat intensiv um den Wiederaufbau, um den Neubau von Westberlin. Doch in erster Linie galt es Arbeitsplätze zu sichern. Nicht vergessen werden darf, dass bis zum Mauerbau 60- bis 70tausend Menschen jeden Tag au aus Ost-Berlin in den Westteil kamen, um hier zu arbeiten. Der Wegfall der Arbeitskräfte konnte schnell durch die Zuwanderung westdeutscher Arbeiter*innen wettgemacht werden. Die Zugereisten erhielten viele Vergünstigungen wie Wohnungen, Steuervorteile und Ehestandsdarlehen und alle Beschäftigten erhielten zudem die Berlinzulage, die sogenannte „Zitterprämie“.

Es sollt zusammen wachsen, was zusammengehört

Trotz des Leitbildes von einer autogerechten Stadt den auch der SPD Politiker Brandt teilte, war der U- Bahnbau eine der wichtigsten Aufgaben unter den Verkehrsprojekten in seiner Ära. Linien wurden verlängert, nach Steglitz, Mariendorf und Tegel, teilweise auch als indirekte Folge des Mauerbaus, nachdem die Ostberliner S-Bahn von den Westberlinern boykottiert wurde. Der Regierende Bürgermeister hob des Öfteren die grüne Kelle, um feierlich wieder eine Strecke einzuweihen. Er nannte die U- Bahn ein Kind dieses Jahrhunderts: „jung, flink und zuverlässig.“Brandt entwickelte ganz in der Tradition von seinem Vorgänger Reuter ein klares Bewusstsein für die Perspektive des öffentlichen Nahverkehrs. Schon um 1960 herum hatte sich bei Willy Brandt die Überzeugung durchgesetzt, dass man Verkehrsprobleme nicht nur durch Straßenbau würde lösen können, sondern durch die Förderung des öffentlichen Nahverkehrs. Brandt war ein Politiker, der es dank seiner rhetorischen Fähigkeiten verstand, selbst bei der Einweihung des Teilstücks der U- Bahnlinie vom Kurt Schuhmacher Platz nach Tegel (1958), eine historische Bedeutung zu geben und die Freigabe eines U- Bahnabschnittes mit einer Perspektive von der Einheit Berlins zu verbinden. Er setzte gezielt bei derartigen Einweihungen auf prägnante Sätze, die eine mediale Wirkung über den konkreten Anlass  hinaus erzielen sollten. Brandt versuchte -und das zeichnet ihn als Charismatiker aus-, Allem eine größere Perspektive zu geben. Stets betonte er die besondere Bedeutung West -Berlins  für ganz Deutschland. Er ließ nicht locker, die Hauptstadttradition Berlins zu unterstreichen. So sprach er auf dem U Bahnhof Kurt Schuhmacher Platz feierlich folgende Sätze: „In der Hoffnung, dass der Tag nun doch näher rückt, trotz all der Schwierigkeiten , die uns in der Welt umgeben , an dem hier in Berlin wieder zusammengefügt sein wird, was zusammengehört . Der Tag, wo dann wieder ein einheitliches Verkehrsnetz Realität sein wird. In dieser Hoffnung, an diesen Tag gebe ich jetzt das Startsignal für den ersten planmäßigen Zug auf der neuen Bahnstrecke Tegel Kurt Schumacher Platz.“ Drei Jahrzehnte später- 1989, einen Tag nach dem Fall der Mauer, sollte Willy Brandt fast dieselben Worte –„es wächst zusammen, was zusammengehört"- wieder benutzen. Seine Prophezeiung auf dem U Bahnhof Kurt Schumacher Platz war Realität geworden.

Exodus blieb aus

Mit dem Bau der Mauer 1961 endete der Zuzug von Flüchtlingen aus Ostdeutschland. Die Einwohnerzahl West Berlins sank, aber der große Exodus blieb aus. Die Ausrichtung der Stadtpolitik auf eine wiedervereinigte Hauptstadt Berlin, die Idee eines Zentrums um das Reichstagsgebäude, um die alte Mitte eines Tages wieder aufleben zu lassen, diese Ausrichtung konnte nicht länger beibehalten werden. Lediglich das sogenannte City Band vom Architekten Hans Scharoun deutete den Weg gen Mitte an: Ausgehend vom Bahnhof Zoo in Nähe desPotsdamer Platzes schuf der Architekt die Philharmonie, später die Staatsbibliothek , um diese Repräsentativbauten wenigstens möglichst dicht in die Nähe der alten Berliner Mitte zu rücken. Zum wirklichen Zentrum West Berlins wurde dieses Kulturforum jedoch nicht. Der Mittelpunkt West -Berlins wurde mehr als je zuvor der Kurfürstendamm und die neue Gedächtniskirche.

Kultureller Glanz

Die Kultur der Stadt, die Kinos, die Theater konnte den Vergleich zu den meisten westdeutschen Städten wie Hamburg oder München aufnehmen. Brandt wollte kulturellen Glanz in seinem Berlin und die Abgeordneten subventionierten seine Kulturpolitik für all die  Maler, die Literaten, Bildhauer und  Schauspieler, die er nach Berlin einlud. Er setzte in seiner Amtszeit Maßstäbe und engagierte sich für den Konzertsaal der Hochschule der Künste ebenso wie für die Fertigstellung der Philharmonie und ließ es sich natürlich nicht nehmen die neue Deutsche Oper an der Bismarckstraße zu eröffnen. Das kulturelle Niveau der Vorkriegszeit war noch nicht erreicht und Berlin war noch nicht wieder der große Sammelpunkt für Künstler, für Intellektuelle und für Wissenschaftler wie in den zwanziger Jahren. So gelang es auch nicht, den Deutschlandfunk und das ZDF nach Berlin zu holen. Doch Willy Brandt forcierte den Ausbau der Universitäten und deren Institute, wie zum Beispiel des Max Planck Institutes oder des Institutes für Entwicklungspolitik. Er engagierte sich für die Berliner Festwochen, die Gründung der Film und Fernsehakademie, für die Filmfestspiele, für den Berliner Kunstpreis. Doch stand die Politik im Rathaus Schöneberg in diesen Jahren stets vor demselben Dilemma: Geld für das Kulturforum zur Verfügung stellen oder zuerst Krankenhäuser bauen? So verzögerten zum Beispiel die Landesparlamentarier im Hauptausschuss, die Mittelfreigabe für  den Bau  der „Galerie des 20 Jahrhunderts im Tiergarten“, die Neue Nationalgalerie, denn die Bezirke und Abgeordneten forderten vorrangig moderne Krankenhäuser, Universitätskliniken, eine Großmarkthalle und den Ausbau des öffentlich geförderten Wohnungsbau. Erst sechs Jahre nach der Auftragserteilung konnte daher der Museumsbau des Architekten Ludwig Mies van der Rohe eröffnet werden.

Preiswerter Wohnraum fehlt

Mit all dem Glanz der Kultur versuchte das Stadtoberhaupt Brandt dem Westteil Selbstbewusstsein und Anerkennung zu verschaffen; aber „zur Weltstadt reichte es einfach nicht und Hauptstadt durfte sie nicht sein“. Nils Diederich, der Sozialdemokrat an Brandts Seite , stellte rückblickend fest : „Kultur ist Überbau und Willy Brandt wusste wohl, dass man für eine Stadt den industriellen Unterbau brauche und deswegen gab es in der Berlinförderung massive Mittel für Umsatzsteuererstattung und Investitionshilfen, um Industrieansiedlungen nach Berlin zu bekommen, die übrigens zweifelhafter Natur waren und heftige Auseinandersetzungen zur Folge hatten; zum Beispiel Zigarettenindustrien, die von Bremen nach Berlin verlagert wurden, haben in Bremen den Berliner nicht nur Freunde geschaffen.“ Der Zuzug großer Betriebe nach West Berlin blieb trotz all derartiger Subventionen aus. Die Stadt wurde zu einer Metropole ohne die Zentralen der Industrie, der Wirtschaft und des Handels. Dem Selbstbehauptungswillen der Einwohner schadete dies offenbar nicht. Inzwischen hatte der Wiederaufbau ungeheure Fortschritte gemacht und die enorme Bautätigkeit setzte sich fort. In der Gropiusstadt, am Falkenhagener Feld, im Märkischen Viertel entstanden nach und nach Tausende von Wohnungen. Die Befürworter dieser Siedlungen lobten den dortigen hohen Wohnkomfort, die Kritiker sahen in ihnen eintönige Betonwüsten 

Der Kahlschlag

Neben den massiven Neubauten am Rande der Stadt begann ein Sanierungsprogramm in den Altbauquartieren von Kreuzberg über Neukölln bis nach Schöneberg und Wedding. Es kam in einigen Kiezen zum Kahlschlag, in anderen war dieser zumindest geplant. Rund um das Kottbusser Tor sollte alles dem Erdboden gleichgemacht werden, all die Hinterhöfe-mit dem Image und auch wirklich dreckig-dunkel- sollten verschwinden. Doch die Kahlschlagpolitik sollte auch viel Kritik herausfordern und hatte Auswirkungen auf die Städtebaupolitik bis in die heutigen Tage hinein. Der Abriss der Häuser kam dem Ideal der autogerechten Stadt entgegen. Berlins Straßennetz wurde massiv erweitert. Bis in die siebziger Jahre hinein galt zum Beispiel der Satz: Straßenbahnen haben auf der Straße nichts zu suchen. Ganze Straßenzüge, wie zum Beispiel die Oranienstraße, sollten zu einer breiten Tangente ausgebaut werden. Die Planer der Senatsbauverwaltung der 1950er und 1960er Jahre waren davon begeistert, Autobahnen quer durch die Stadt zu bauen, die sogenannten innerstädtischen Tangenten plus Innenstadtring. Wobei die Gesamtstadt also Ost-Berlin mit eingeplant war. Bei manchen Planungen schimmerten auch noch des NS-Planers Albert Speer durch. Die Strategie Willy Brandts richtete sich darauf aus, Berlin als internationale Metropole auszurichten, als einen Ort, der darauf vorbereitet werden musste, eines Tages die Hauptstadtfunktion zu übernehmen. Der Generalverkehrsplan, der Flächennutzungsplan mit seinen sogenannten Nord-,Süd-, West-,Ost-Tangenten war ausgerichtet auf die Zeit nach der Wiedervereinigung. Berlin auf die Rolle als Hauptstadt eines vereinten Deutschland vorzubereiten, dies war ein klares Credo des Politikers Brandt. Für den Zeitpunkt der Wiedervereinigung planten er und seine Senatoren  soweit es  ebenmöglich war. Erst ab den siebziger Jahren wurde die Flächen-Abrisspolitik, der Kahlschlag, gestoppt und diese Politik dann in den 1980ern durch eine „behutsame Stadterneuerung“ korrigiert , durch die Sanierung der Gründerzeithäuser, durch die Rettung der kaputten Kieze. Energisch vorangetrieben wurde diese Entwicklung jedoch erst im Jahr 1987 mit der Internationalen Bauausstellung und ihrem Programm „Innenstadt als Wohnort.“

Wo uns der Schuh drückt

Als Regierender Bürgermeister von Westberlin war Willy Brand ein Kümmerer. Der Kommunal und Landespolitiker im Rathaus Schöneberg kümmerte sich auch und gerade um die Alltagsprobleme der Bürger*innen, sei es der Fluglärm in Tempelhof, der Zustand des Berliner Waldes oder die verbilligten Theaterkarten für Schüler, die Schulmilch oder um eine Verordnung über das Steigenlassen von Drachen und immer wieder um die Lebensmittelreserven. Mit rauchiger, ruhiger Stimme ging er auf Alltagsprobleme der Stadt ein, ob auf die Industrie, den Städtebau, die Versorgung oder die Natur. Willy Brandt sprach regelmäßig darüber in seiner sonntäglichen Radiorubrik: “Wo uns der Schuh drückt.“ Er gab den Berlinern ein Gefühl der Geborgenheit, trotz der widrigen Umstände mitten im kalten Krieg. Das große Staatstheater begann erst später, in Bonn am Rhein in seiner Zeit als Außenminister und dann als Bundeskanzler. Als Regierender Bürgermeisterwar es Willy Brandt gelungen, West- Berlin nach dem Untergang des „Dritten Reiches“, der Zerstörung und Teilung wieder ein Gesicht zu geben, es fit zu machen für die Zukunft und dies bei einer komplizierten Balance zwischen Ost und West, 

 

 

 

 

 

 

 


[1]Ansgar Hocke, Journalist, Publizist, ehemaliger Reporter und Redakteur beim SFB/RBB)