Mit der Besatzung auf Du und Du

Von Ronnie Golz2

Der Inhalt dieses Artikels vom Oktober 1987 galt bis zum 3. Oktober 1990. Mit dem Vier-plus-Zwei-Vertrag vom 12. September 1990 endete die eingeschränkte Souveränität der beiden deutschen Staaten, die mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reichs am 8.Mai 1945 begann.

Das Grundgesetz erklärt Großberlin zum Land der Bundesrepublik (Artikel 23). In der Berliner Landesverfassung heißt es, Berlin sei ein Land der Bundesrepublik und das Grundgesetz gelte in Berlin (Art. 1 & 2). Beiden Äußerungen wurde von den Alliierten widersprochen, d.h. beide Artikel durften bis zum heutigen Tag nicht in Kraft gesetzt werden. Höchste Machtorgane und somit Souverän in Berlin sind die drei Stadtkommandanten. Hinter ihnen stehen drei Militärregierungen, bestehend aus Beamten der jeweiligen Außenministerien und Offizieren des Militärs.

Pünktlich morgens um 8 Uhr werden in der Kaiserwerther Straße in Dahlem drei der vier Fahnen der alliierten Mächte von Militärpolizisten gehisst und um 6 Uhr abends wieder eingeholt. Die Zeremonie ist pompös (bei den Amis) bis lässig (bei den Franzosen). Die vierte Fahne wird seit dem Auszug der Russen 1948 nicht mehr gehisst, was aber nicht bedeutet, dass die Russen nicht dazu gehören. Solange sie nicht teilnehmen, werden in Dahlem fast nur Beschlüsse betreffend West Berlin gefasst. Findet ein Treffen der drei Westkommandanten statt, wird jedes Mal die Abwesenheit der Russen protokollarisch als »unentschuldigtes« Fehlen aufgefasst, d.h. bei Abstimmungen (die immer einstimmig erfolgen müssen) gilt: Drei »Ja«, keine »Nein« und eine »Enthaltung«, eben die der Russen. Würden also heute oder morgen die Russen wieder in der Kaiserwerther Straße vorfahren, so würde das Besatzungsgebiet GROSSBERLIN wieder vollständig von den Alliierten verwaltet. Das Erscheinen der Russen ist also denkbar unwahrscheinlich!

Der Kontrollrat am Schöneberger Kleistpark, der das höchste Gremium der Besatzungsmächte Deutschlands verkörpert, hat zwar seine Tätigkeit vorläufig eingestellt, aber Unterabteilungen arbeiten weiter. Da wären zu nennen: die Luftsicherheitszentrale im Kontrollratsgebäude am Kleistpark und die Akkreditierung der Leiter der in Westberlin befindlichen Militärmissionen. Auch bei dieser Zeremonie wird protokollarisch das» Fehlen « der Russen festgehalten.

Foto: Vom Krieg bis zur Deutschen Einheit: Viermächtestatus. Hier die Fahnen der Alliierten am Kontrollratsgebäude in Schöneberg.

Von der Öffentlichkeit zwar unbemerkt, aber durchaus nicht, nur rein formal, stehen die Alliierten unserem Regierenden Bürgermeister bei seinen Amtsgeschäften zur Seite. Neben seinem Zimmer im Schöneberger Rathaus befinden sich die Räume der britischen, französischen und amerikanischen LIASON OFFICERS (Verbindungsoffiziere). Sie steIlen den unmittelbaren Kontakt zwischen dem Senat und den Militärregierungen her. Jeden Dienstagmittag findet im Rathaus ein Treffen zwischen diesen Offizieren und den Senat statt. Über Ablauf und Inhalt- wird strengstes STILLSCHWEIGEN gewahrt. Über den Ablauf kann aber folgendes vermutet werden: Der Westberliner Senat präsentiert den Offizieren seine Pläne für die nächste Zeit. um vorzufühlen, ob dieses oder jenes Gesetz bzw. Verwaltungsakt von den Alliierten akzeptiert wird. Umgekehrt kommen die Verbindungsoffiziere mit Antworten bzw. höflich gefassten Anweisungen über Themen vorangegangener Sitzungen zurück. Es sollen nach Möglichkeit Unstimmigkeiten im Vorfeld des Parlaments ausgeräumt werden, damit eine Interessenkollision, die immer zu Gunsten der Alliierten ausgehen würde, von vornherein vermieden wird. Das Treffen ist also zentral für die Durchsetzung der alliierten Interessen; und die Sitzungen, obwohl sicherlich sehr freundlich, dokumentieren, dass der Senat und das Abgeordnetenhaus letztendlich nur eine sehr eingeschränkte Souveränität besitzen.

Bestimmte Bundesgesetze gelten bis heute nicht in Westberlin. Normalerweise setzt sich die Bundesregierung bei der Gesetzesplanung in Bonn mit Vertretern der drei westlichen Botschafter zusammen, um die Möglichkeiten der Übernahme eines Gesetzes in Berlin zu klären.

Bevor diese Gesetze vom Abgeordnetenhaus verabschiedet werden, müssen sie den Alliierten zur Zustimmung vorgelegt werden. Wird innerhalb von zwei Wochen kein Einspruch erhoben, so gehen sie in das Abgeordnetenhaus. Einsprüche der Alliierten werden entweder von vornherein aus den Gesetzen vor der Veröffentlichung getilgt, oder die Alliierten erklären durch einen Berlin “Kommandantur Order“ (Befehl!) - die sogenannten BK/O - diesen oder jenen Absatz, Artikel von der Verabschiedung ausgeschlossen. Der Ausschluss wird im "Gesetz- und Verordnungsblatt“ zeitgleich mit dem verabschiedeten Gesetz veröffentlicht. Neben der deutschen Gesetzgebung und Verwaltungsvorschriften existieren ca. 3.000 alliierte Anordnungen, die nur zum Teil veröffentlicht worden sind. Bekannt werden diese Eingriffe der Alliierten höchstens durch parlamentarische Anfragen. Beispielsweise ist die kostenlose Benutzung der BVG für Soldaten in Uniform einer BK/O (63)11. vom 27 .12.1963 zu verdanken. Ebenfalls auf eine BK/O ist die Tatsache zurückzuführen, dass Kontrolleure der BVG nur in Uniform und nicht in Zivilkleidern kontrollieren dürfen (Tagesspiegel vom 3.9.1986). Selbst die Bezirksämter müssen mit der für sie zuständigen Stadtkommandanten Konsultationen durchführen. wenn alliierte Belange berührt werden.

Falls jemand auf der Straße von der Polizei angehalten und kontrolliert wird, lohnt sich unbedingt ein Blick in den Polizeiausweis. Links befindet sich die deutsche Ausführung mit Foto und Unterschrift des Polizeipräsidenten. Im anderen Teil des Ausweises sind die Eintragungen von den SICHERHEITSOFFIZIEREN der Westalliierten. Im vierten Feld ist alles auf Russisch und hier fehlen Unterschrift und Stempel, d.h. die Berliner Polizei darf nur in den Westsektoren im Auftrag der Westalliierten ihren Dienst ausüben. Die gesamte Bewaffnung der Polizei unterliegt der Zustimmung der Alliierten. Die Berliner Polizei ist ein ORGAN der Alliierten und ähnlich den Zimmern im Rathaus Schöneberg befinden sich im Polizeipräsidium am Tempelhofer Damm die Räume eben diese Sicherheitsoffiziere. Hinter den Kulissen arbeiten sie eng mit dem Polizeipräsidenten zusammen. Seine Ernennung als auch die der höheren Polizeioffiziere erfolgt zwar durch den Senat, aber nur NACH Zustimmung der Alliierten. Jede alliierte Anordnung an die Polizei steht über jede Anweisung des Innensenators.

So ist z.B. zu hinterfragen, inwieweit die Absperrung von SO 36 während des Reagan-Besuches eine Alliierte Anordnung zugrunde lag. Bei den jährlich im Sommer stattfindenden alliierten Paraden auf der Straße des 17. Juni erlässt der britische Stadtkommandant als Zuständiger einen Befehl, der die Gegend zu einem Sperrgebiet für Demonstrationen erklärt. Eingriffe der Polizei erfolgen im Auftrag dieses Stadtkommandanten, und falls es zum Prozess vor Gericht kommen sollte, so wird nach alliierten Anordnungen verhandelt und abgeurteilt.

Bei der Sitzblockade vor der amerikanischen Andrews Kaserne in Lichterfelde im Herbst 1983 erfolgten die Anklagen wegen einer Anweisung des Amerikanischen Stadtkommandanten. Manchmal dämpfen die Alliierten aber auch den Übereifer der deutschen Amtskollegen, Bei dem ersten Besuch Ronald Reagans in der Stadt (1982) begann die Polizei plötzlich Autos mit der Aufschrift »Reagan Go Home!" anzuhalten und die Aufkleber zu entfernen. Schnell griffen die Alliierten über den Polizeipräsidenten ein und untersagten dieses »eigenständige« Unternehmen. Es ist auch bekannt geworden, dass die Berliner Staatsanwaltschaft sich an die Alliierten gewandt hatte, um Anzeigen wegen »Beleidigung der Schutzmächte« gegen Sprüher von Wandparolen durchsetzen zu können. Auch in diesem Fall wurde das Ansinnen zurückgewiesen.

Foto: Die Vier Alliierten gaben faktisch jeweils auf ihrer Seite von Berlin den Ton an. Aber nominell waren sie noch für ganz Berlin verantwortlich. Die Westalliierten durften durch Ostberlin fahren und auch die Sowjetischen Militärs waren in Westberlin auf Patrouille und mit einem Ehrenmal zur Erinnerung an die Krieg im Tiergarten präsent.

Der umgekehrte Fall ergab sich bei der Klage von Anwohnern gegen den Schießplatz Gatow. Hier musste das Berliner Verwaltungsgericht um Genehmigung nachsuchen, die Klage anzunehmen. Der zuständige britische Stadtkommandant verbot dies und somit war der Rechtsweg für die Betroffenen versperrt. Inzwischen sind sie nach einem fehlgeschlagenen Versuch, beim High Court in London zu ihrem Recht zu gelangen, beim europäischen Gericht für Menschenrechte in Straßburg gelandet. Es geht um die Frage, wie sich Bewohner Westberlins rechtlich gegen Maßnahmen der Alliierten wehren können, wenn kein Gericht sich mit der Angelegenheit befassen darf. Die Einführung einer souveränen deutschen Gerichtsbarkeit ist durch den Besatzerstatus der Stadt verhindert. Die Einsetzung eines alliierten Gerichts ist aber auch juristisch undenkbar, denn Berlin befindet sich letztendlich unter militärischem Befehl.

Zu Besuch im Osten.

Einreisepunkt der Westalliierten nach Ostberlin ist der Checkpoint Charlie. Sein Name entstammt dem amerik. Militäralphabet. A - für Alpha (Kontrollpunkt der Westalliierten in Helmstedt), B - für Beta (Dreilinden) und eben C - für Charlie.

Befinden sich die Insassen eines Alliierten-Fahrzeuges in Uniform, so weisen sie sich in keiner Weise weiter aus. Der DDR-Soldat umschreitet das Auto, notiert Kennzeichen und Uhrzeit und öffnet die Schranke. Befinden sich Freunde bzw. Angehörige des westlichen Militärs im Auto in Zivilkleidung, so müssen sie bei GESCHLOSSENEM Fenster ihre Militärausweise bzw. ihre Reisepässe mit der Namensangabe und das Foto des Betreffenden gegen das Fenster drücken. Der DDR-Grenzbeamte darf diese Ausweise nicht anfassen, sondern darf sich nur Notizen am geschlossenen Fenster machen. Der Grund für diese strenge Handhabung ist die westliche Auffassung, dass es sich an der innerstädtischen Grenze nicht um eine Staatsgrenze handelt und dass ihnen der freie und unkontrollierten Zugang von den Russen garantiert worden ist.

Natürlich haben sämtliche russische Militärangehörige, deren Verwandte und Freunde die gleichen Rechte auf freien Zugang zu den Westsektoren der Stadt. Die Tatsache, dass hauptsächlich nur Militärpatroullien und ab und zu mal ein Bus voll russischem Militär durch Westberlin kreist, geht auf die Selbstbeschränkung der Verantwortlichen auf russischer Seite zurück. Sie könnten jederzeit am Kurfürstendamm bummeln, einkaufen oder sonstigen Vergnügungen nachgehen, ohne der Westberliner Gerichtsbarkeit oder der Zollgesetzgebung zu unterliegen.

Geschieht ein Unfall, oder ein sonstiges Unglück, so ist die jeweilige Militärpolizei des Sektors allein zuständig, nicht die Westberliner Polizei. Vor gut einem Jahr wurden in Zivil gekleidete Angehörige des russischen Militärs beim Stehlen von Kosmetika in einem Kaufhaus am Kurfürstendamm erwischt. Der Hausdetektiv musste sich nun überlegen, in welchem Sektor er sich befand. um dann die »richtige« Militärpolizei zu rufen. in diesem Fall die Engländer. Die britische Militärpolizei begleitete ihrerseits die Russen zurück zum Checkpoint Charlie und ließ sie ungehindert nach Osten zurückkehren, denn es gibt vereinbarungsgemäß keinerlei gegenseitige Gerichtsbarkeit unter den vier »Souveränen« in Berlin.

Oh HOHER Kommissar, Du Göttlicher!

Mit dem Ruhen der Tätigkeit des Alliierten Kontrollrats nach der Blockade 1949, entschlossen sich die Westalliierten und später auch die Sowjetunion, vier »hohe« Kommissare für »Deutschland als Ganzes « zu berufen. In Bonn sind es die drei westlichen Botschafter. Sie sind somit nicht nur GÄSTE der Bundesrepublik, sondern zugleich SOUVERÄN über die Bundesrepublik, wenn es um die Rechte der Alliierten, sich in Deutschland aufzuhalten, geht.

Was weitgehend unbekannt sein dürfte, ist, dass sich diese vier Kommissare während des »kalten « Krieges weiterhin unregelmäßig trafen und es auch heute noch tun. Zum Beispiel wird jährlich der Tag der KAPITULATION (am 8. Mai 1945) durch einen Empfang in der sowjetischen Botschaft in Ostberlin gewürdigt, wobei die Vertreter der westlichen Alliierten zu dieser Feier eingeladen werden und auch hinfahren.

Nicht nur die »hohen Kommissare< auch die Soldaten wollen untereinander in Kontakt bleiben. Mit der Errichtung von 4 Zonen in Deutschland am Ende des Krieges gab es analog auch 4 Besatzungsarmeen in Deutschland. Ihre Verbindungsstellen nennen sich Militärmissionen. Also eröffnete die Rote Armee 3 Missionen bei den Hauptquartieren der Westalliierten in der heutigen Bundesrepublik. Sie befinden sich für die Franzosen in Baden- Baden, für die Amis in Frankfurt-Niederrad und für die Briten in Bünde/Westfalen.

Im Gegenzug wurden den drei Westalliierten drei große Villen in Potsdam zur Verfügung gestellt; sie befinden sich kaum 500 Meter hinter der Glienicker Brücke in Zehlendorf. Die drei Missionen in Potsdam sind der »GRUPPE der sowj. STREITKRÄFTE in DEUTSCHLAND. Zugeordnet (ähnlich einer Botschaft bei einer Regierung), Die Angehörigen dieser 'Missionen bewegen sich innerhalb der ganzen DDR mit Ausnahme der von den Russen bestimmten Sperrgebiete. Sie unterliegen keinerlei Weisungen der DDR-Behörden. Wenn man sich eine Weile an der Glienicker Brücke aufhält, wird man irgendwann eines dieser Autos im Wechselverkehr mit Westberlin zu Gesicht bekommen. Sie sind meistens in Tarnfarben gestrichen, haben öfter zugezogene Gardinen im hinteren Teil der Wagen, und vor allem haben sie große gelbe, russisch beschriftete Nummernschilder.

Soldaten leben gefährlich.

In den letzten Jahren ist jeweils ein Angehöriger der französischen und amerikanischen Militärmission in Potsdam bei Dienstfahrten in der DDR ums Leben gekommen. Öfter kommt es zu Anrempeleien zwischen den westlichen Autos und Wagen der DDR-Volksarmee oder der Sowjettruppen. Aber hin und wieder gehen die Westalliierten auch nicht zimperlich mit den Russen um, wenn sie in einem Sperrgebiet erwischt werden (siehe Tagesspiegel vom 22.3 .85 / 5.9.86 / 9.2 .87). Manchmal könnte man glauben, der Alltag der Militärmissionen käme einem Hollywood-Film verdammt nahe, nur dass mit echten Waffen »gespielt« wird. Die 'International Herald Tribune' sprach in einem Artikel vom 23. April 1984 unumwunden von »Legaler Spionage der Missionen in beiden Teilen Deutschlands«. Völkerrechtlich ist der Besatzungsstatus ein befristeter Zustand und müsste schon längst aufgehoben worden sein, denn er sollte nur als Übergangstadium dienen - zwischen Kapitulation und einem Friedensvertrag.

Vor kurzem hat die Stadt Rom als »Rechtsnachfolger« des römischen Reiches einen Friedensvertrag mit Karthago in Tunis geschlossen. Er war etwa 2.000 Jahre verspätet! Wir können also noch hoffen!

1 Erstmals erschienen in der taz vom 29.10.1987 / neu editiert am 24.01.2023

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