Die Wirtschaft in West-Berlin – ein Rückblick

Von Karl Brenke[1]

 

Auf das Ende des 2. Weltkrieges folgte die deutsche Teilung. Es entstanden zwei Staaten unterschiedlicher Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. In der sowjetischen Besatzungszone sollte ein Sozialismus aufgebaut werden. Das tatsächlich angestrebte Ziel war aber nicht die von Marx ins Auge gefasste „Assoziation freier Menschen“ oder der Utopismus der Klassiker vom „Absterben des Staates“, sondern eine auf Lenin und Stalin zurückgehende, ausgeprägte Bürokratie- und Parteienherrschaft. Der Staat wurde Eigentümer der Produktivkräfte – zunächst jedenfalls derjenigen von größeren Unternehmen. Was produziert wurde, bestimmte die Obrigkeit. Denn die verstieg sich in dem Wahn, besser darüber Bescheid zu wissen, was die Leute wollten und brauchten, als die Leute selbst.

Im Westen wurde auf den Kapitalismus gesetzt. Da der Begriff nicht so beliebt war, sollte es lieber Marktwirtschaft heißen. Und, um der damaligen Stimmung weiter entgegen zu kommen: „soziale“ Marktwirtschaft. Weil die Welt nun eine andere war, wendete man sich von all dem kriegswirtschaftlichen Dirigismus der Nazis ab und setzte grundsätzlich auf das Regiment der „unsichtbaren Hand“ (Adam Smith). In der Realität lagen die Dinge aber anders. Denn auch im Westen gab es politisch-bürokratische Apparate wie Parteien, die immer um Herrschaftssicherung bemüht waren. Und es gab widrige Umstände, die zu berücksichtigen waren. Gerade das fand man in West-Berlin.

Kriegsende und schlimme Ausgangslage

Was für Deutschland insgesamt galt, traf für Berlin im Kleinen zu. Auf engem Raum existierten zwei unterschiedliche Wirtschaftssysteme. Als das Deutsche Reich noch bestand, war Berlin bedeutender Industriestandort und Hauptstadt eines eher zentralistisch ausgerichteten Staates. Es gab zahlreiche private Unternehmen mit ihren Zentralen und Produktionen. Im staatlichen Sektor waren neben der Reichsregierung auch viele andere zentrale staatliche Einrichtungen sowie bedeutende private Institutionen wie Verbände, Parteien, etc. in Berlin angesiedelt. Überdies mussten diverse Funktionen, die mit der Lenkung und Verwaltung des Landes Preußen verbunden waren, ausgeübt werden.

Die Industrie Berlins hatte während des Krieges erhebliche Schäden infolge von Bombardierungen hinnehmen müssen. Um kriegswichtige Produktionen zu schützen, wurde ein Teil der Industrieanlagen an andere Standorte verlagert – zum Teil ins Berliner Umland, zum Teil in weiter entfernte Regionen. Als sich zudem die Verstaatlichung im sowjetischen Sektor abzeichnete, haben nicht wenige Firmen und Unternehmer die Stadt Richtung Westen verlassen – zumal angenommen wurde, dass der Westen Berlins über kurz oder lang auch dem sowjetischen Sektor zugeschlagen würde. Verfügte die Industrie im Westen Berlins nach Kriegsende noch über 94% des Anlagevermögens von 1943, so war es nach den Demontagen ab 1945 nur noch die Hälfte. Die Industrie im Osten der Stadt war auch, aber in geringerem Maße, von Demontagen betroffen. Hier spielten auch Reparationen für die Sowjetunion eine Rolle.

Foto: Das Währungsgefälle zwischen Ost und Westberlin führte zum Schmuggel von billigen Nahrungsmitteln aus dem Osten. Beschlagnahmtes Geflügel am Grenzübergang.

Als im Juni 1948 nach der bundesdeutschen Währungsreform auch im Westteil Berlins die D-Mark eingeführt wurde, setzte die sowjetische Seite auf die Blockade der Teilstadt. Die Gas- und die Stromversorgung wurden stark gedrosselt und die Verkehrsverbindungen unterbrochen. West-Berlin musste fast ein Jahr lang allein über die Luftbrücke der West-Alliierten versorgt werden. Für die Industrie hatte das drastische Folgen, denn durch die Blockade waren auch die Lieferketten unterbrochen. Als die Blockade beendet wurde, blieb eine nachhaltige Wirkung zurück: Denn es stand danach immer die Drohung im Raum, dass bei einer Zunahme der Spannungen zwischen dem West- und dem Ostblock erneut West-Berlin ins Visier genommen werden könnte. Für Investoren ist solch eine Unsicherheit schwer erträglich – und üblicherweise werden solche Standorte strikt gemieden.

Die Ausgangslage für den Westen Berlins war mithin sehr schwierig. Zu den Kriegsschäden und den Demontagen kam die politische Unsicherheit hinzu. Überdies waren die angestammten Bezugs- und Absatzmärkte im sowjetischen Sektor weitgehend weggefallen, so dass neue Kunden und Zulieferer gefunden werden mussten. Das war wegen der abseitigen Lage zum Gebiet der sich wirtschaftlich erholenden Bundesrepublik schwer. Zwar gab es auch einen Warenverkehr mit der DDR, insgesamt fiel er aber nicht sehr ins Gewicht. Das galt über Jahrzehnte. Die politische Unsicherheit hatte auch Auswirkungen auf die funktionale Struktur der Industrie: Viele der ansässigen Industrieunternehmen verlagerten den Hauptsitz und somit die Managementfunktionen ins Bundesgebiet – im Westen Berlins blieben die ausführenden Produktionsfunktionen.

Noch schlimmer sah es mit dem anderen wichtigen wirtschaftlichen Standbein Berlins aus. Während der Osten Berlins Hauptstadt der DDR wurde, und sich daher ein neuer breiter Staatssektor herausbildete, gab es im Westen Berlins nichts Vergleichbares. Die Hauptstadt der Bundesrepublik wurde Bonn, und die Bundesrepublik bekam eine föderalistische Struktur. Dies hat dazu beigetragen, dass sich in wirtschaftlicher Hinsicht eine polyzentrale Verteilung wirtschaftlicher Aktivitäten herausbildete. Waren beispielsweise bis 1945 die Reichsbank, die wichtigste Börse sowie die Zentralen der großen Banken in Berlin konzentriert, entwickelte sich nach dem Krieg Frankfurt/M. zum Finanzzentrum. Oder: Vor dem Krieg waren die wichtigen Verlage in Berlin konzentriert, danach haben sie sich an anderen Orten, insbesondere in Hamburg, etabliert. Auch in dieser Hinsicht sah es im Osten Berlins viel besser aus.

Der Aufschwung aus dem tiefen Tal

Allein war die Teilstadt wirtschaftlich nicht lebensfähig. Es herrschte kalter Krieg. Schon deshalb musste dem Westen Berlins unter die Arme gegriffen werden. Und es sollte nicht nur bewiesen werden, dass die Wirtschaft dort so gerade über die Runden kam. Vielmehr sollte auch gezeigt werden, dass trotz aller widrigen Umstände für die Einwohner eine Lebensqualität geschaffen wird, die den Bürgern in der DDR als ein Vorbild dienen könnte. West-Berlin sollte eine Schaufensterfunktion erfüllen. Das war ein sehr ambitioniertes Ziel. Denn immerhin lag Anfang der fünfziger Jahre das Volkseinkommen in West-Berlin um 10% unter dem Bundesdurchschnitt. In diesem Durchschnitt waren allerdings auch ländliche Gebiete einbezogen. Ein besserer Maßstab ist etwa Hamburg – und im Vergleich dazu lag West-Berlin um 40% zurück. Die Zahl der Arbeitslosen belief sich Ende der vierziger Jahre auf mehr als 300.000; die Arbeitslosenquote betrug damals mehr als 30% - fast dreimal so viel wie im Bundesgebiet.

Es mussten enorme finanzielle Mittel seitens des Bundes zur Verfügung gestellt werden. Zum ersten wurde der öffentliche Haushalt der Teilstadt bzw. des Bundeslandes mit großen Summen bezuschusst. Das erlaubte dem Senat und dem Abgeordnetenhaus die Finanzierung eines breiten öffentlichen Sektors. Das trug zur Besserung der Lage auf dem Arbeitsmarkt bei. Es wurden aber nicht nur bürokratische Apparate gestärkt, sondern auch staatliche Dienstleistungen von übergeordneter Bedeutung erhalten und ausgebaut. Dazu gehörten die großen Universitäten und anderen wissenschaftlichen Institutionen, die faktisch auch Dienstleistungen für West-Deutschland erbrachten. Zu nennen ist auch die weite Kulturlandschaft mit ihren vielen Museen-, Theatern- und ähnlichen Einrichtungen. Zum zweiten wurde versucht, Bundesinstitutionen in West-Berlin anzusiedeln. Dabei kam einiges zusammen. Große Bedeutung hatten nachgeordnete Bundesbehörden sowie die Rentenversicherung.

Drittens: Viel bedeutender als die Anlagerung von Bundesbehörden war die Wirtschaftsförderung nach dem Berlinförderungsgesetz (BerlinFG). Im Zentrum stand dabei die Industrie. Die Vergabe von Subventionen war berechtigt und somit auch nötig, weil West-Berlinwegen seiner geo-politischen Lage für Industrieunternehmen erhebliche Standortnachteile aufwies. Zur politischen Unsicherheit kamen hohe Transportkosten für den Bezug von Vorprodukten und den Absatz der Erzeugnisse hinzu. Auch hohe Energiekosten schlugen zu Buche. Wegen der abgeschiedenen Lage war auch die Erschließung der Märkte aufwändig. Entsprechend wurden den Industrieunternehmen besondere Vergünstigungen gewährt. Dazu gehörten eine Ermäßigung bei der Einkommens- und Körperschaftssteuer um 20%, zinsverbilligte Kredite sowie erhöhte Abschreibungsmöglichkeiten auf Investitionsgüter (also ein weiterer Steuervorteil). Das Kernstück der Förderung waren die sogenannten, Umsatzsteuerpräferenzen: Wurden in West-Berlin hergestellte Industriewaren nach Westdeutschland geliefert, erhielten der Hersteller und sein westdeutscher Abnehmer jeweils 4% des Lieferwertes. Im Laufe der späteren Jahre wurden die Förderung bei der Bemessungsgrundlage und bei den Fördersätzen immer wieder verändert.

Zum vierten kam die bundesdeutsche Wohnungsbauförderung auch in West-Berlin zum Zuge. Sie war wohl die entscheidende Schubkraft für die wirtschaftliche Erholung oder das „Wirtschaftswunder“ der fünfziger Jahre. Denn wo viel zerstört war, konnte und musste auch viel aufgebaut werden. Immerhin machten die Subventionen nach dem 1950 verabschiedeten ersten Wohnungsbauförderungsgesetz zeitweilig fast die Hälfte der Ausgaben des Bundeshaushaltes aus. Es musste nicht nur zerstörter Wohnraum neu gebaut werden, auch die vielen Flüchtlinge aus den ehemaligen Ostgebieten brauchten Unterkünfte – auch im Westen Berlins.

In den fünfziger Jahren gab es im Westen Berlins daher ein noch stärkeres Wirtschaftswachstum als im Bundesgebiet. Im Schnitt kam man auf preisbereinigte Zuwächse beim Sozialprodukt von fast 9% jährlich – in Westdeutschland waren es etwas mehr als 8%. Das ließ das Beschäftigungsniveau rasch - jährlich um im Schnitt fast 3% - ansteigen und die Arbeitslosigkeit sinken. Auch in der ersten Hälfte der sechziger Jahre gab es noch ein kräftiges Wachstum bei der Wirtschaftsleistung. Im Jahr 1966 war die Zahl der Arbeitslosen von ehemals mehr als 300.000 auf gerade noch knapp 7.000 geschrumpft. Die Arbeitslosenquote belief sich auf heute kaum noch vorstellbaren 0,7%.

Es gab erhebliche Engpässe beim Angebot an Arbeitskräften. In den fünfziger Jahren konnte der Westen Berlins noch erheblich von den zahlreichen Übersiedlern aus der DDR profitieren; wanderungswillig waren vor allem junge Leute. Nach dem Mauerbau wurde vermehrt auf die Anwerbung der sog. „Gastarbeiter“ aus Südeuropa – insbesondere aus Italien, Griechenland, Spanien oder Portugal – gesetzt. Auf Geheiß der amerikanischen Besatzungsmacht wurde bundesweit die Anwerbung auf die Türkei ausgedehnt, weil das Land fester an die NATO gebunden werden sollte.

In den ersten zwanzig Jahren nach dem Krieg wurde also viel erreicht. Die gröbste Wohnungsnot war überwunden, die Arbeitslosigkeit nahezu bedeutungslos und der Lebensstandard der Bevölkerung deutlich angehoben. Bei der Infrastruktur waren nicht nur die Kriegsschäden beseitigt, es war auch die Modernisierung weit vorangekommen. So präsentierte die Deutsche Bundespost Berlin 1965 stolz eine Briefmarkenserie mit dem Titel „Das neue Berlin“: Gezeigt wurden u. a. die Philharmonie, die Deutsche Oper, der Ernst-Reuter-Platz, die Technische Universität, das Klinikum Steglitz, das Europa-Center und die Stadtautobahn. Ausgeklammert waren die Freie Universität und das Hansa-Viertel. Andere Großsiedlungen wie die Gropiusstadt und das Märkische Viertel waren damals in Teilen noch im Bau. Verdrängt wurden dadurch auch „grüne Slums“, denn lange Zeit wurde manche Kleingartensiedlung zu Wohnzwecken genutzt - auch dann, wenn die Grundstücke nicht erschlossen waren und daher miserable hygienische Zustände herrschten.

Die schwierigen siebziger und achtziger Jahre

Einen konjunkturellen Einbruch gab es im Bund wie in West-Berlin 1967, der auch die Arbeitslosenzahl etwas ansteigen ließ. Er blieb aber eine kurze Episode. Denn rasch ging es mit der Wirtschaftsleistung wieder bergauf. Schwerwiegender waren dann die beiden Krisen infolge der weltweiten Ölpreisanhebungen – die erste setzte 1973 ein, die zweite 1979/80. Die erste Ölpreiskrise traf die Wirtschaft im Westen Berlins stärker als jene im Bundesgebiet. So kam West-Berlin in den siebziger Jahren nur noch auf einen preisbereinigten Zuwachs beim Sozialprodukt von 1.3% jährlich. Das war nur halb so viel wie in Westdeutschland. Da zugleich die Produktivität weiter zunahm, reichte das Wirtschaftswachstum nicht aus, um das Beschäftigungsniveau zu halten. Entsprechend stieg die Arbeitslosigkeit deutlich.

Nunmehr traten die latent vorhandenen strukturellen Probleme der West-Berliner Wirtschaft zu Tage. Die Krise traf vor allem die Industrie – und dabei insbesondere die operativen Teile, also die reinen Produktionsstätten. Die dispositiven Teile wie Managementfunktionen oder Forschung und Entwicklung waren nicht so sehr einbezogen. In West-Berlin waren solche Teile eher wenig vertreten, denn ein großer Teil der Industrie wurde von auswärtigen Zentralen gelenkt. Überdies gab es mit Blick auf die Produktionsstätten im Berliner Westen übermäßig viele, in denen vor allem einfache Tätigkeiten anfielen. Die technisch eher komplexen Produktionen waren in West-Berlin unterrepräsentiert. Das hatte mit den Lenkungswirkungen der Förderung zu tun: Geschaffen wurden vor allem solche Fertigungen, die wenig an Qualifikationen der Arbeitskräfte erforderten, dafür aber kapital- und somit flächen- und energieintensiv waren. Die Umsatzsteuerpräferenzen stimulierten besonders Produktionen mit viel Umsatz und die Investitionsförderung regte die Anschaffung von Maschinen und anderen Anlagen an. Die Folge war: viel an Massenproduktionen.

Im Zuge der bis 1973 insgesamt guten Wirtschaftsentwicklung wurden auch falsche Signale gesetzt. Nicht wenige junge Leute verzichteten auf eine Berufsausbildung, weil mit einer Hilfstätigkeit auf dem Bau oder in der Fabrik rasch Geld zu verdienen war und eine Lehre im Vergleich dazu nicht attraktiv erschien. Oder es wurde nach der abgeschlossenen Lehre ein einfacher Fabrikjob angenommen, weil er lohnender war. Das war nicht selten bei Frauen der Fall; beispielsweise wurde der Arbeitsplatz als Friseurin mit einem Produktionsarbeitsplatz etwa bei Siemens oder Osram getauscht. In den siebziger und in den achtziger Jahren erwies sich die Arbeitslosigkeit in starkem Maße auch als ein strukturelles Phänomen: Schwer zu vermitteln waren insbesondere jene Arbeitslosen, die nur für einfache Tätigkeiten infrage kamen. Der Wettbewerb bei solchen Jobs war besonders groß, denn gerade hier suchten auch jene Arbeitskräfte eine Anstellung, die aus dem Ausland zugewandert waren.

Wenn eine Region durch eine Krise stark betroffen wird, kann es sein, dass eine nachfolgende Wirtschaftskrise sie weniger stark trifft, da schon zuvor ein erheblicher Teil der nicht wettbewerbsfähigen Strukturen aufgegeben wurde. Jedenfalls hat es den Anschein, dass die Wirtschaft West-Berlins von der zweiten Ölpreiskrise nicht ganz so hart wie die in Westdeutschland getroffen wurde. In den achtziger Jahren war jedenfalls bis zum Fall der Mauer das Wirtschaftswachstum im Westen Berlins zwar nicht besonders groß, aber auch nicht schwächer als in Westdeutschland. Vielleicht spielt bei diesem Vergleich auch eine Rolle, dass sich die in den siebziger Jahren begonnene Entspannungspolitik positiv auf den Wirtschaftsverlauf im Berliner Westen auswirkte. Allerdings ist auch zu beachten, dass in den achtziger Jahren in der Bundesrepublik besonders die Altindustrien Kohle und Stahl unter Druck gerieten – und von denen gab es in West-Berlin fast nichts. Obwohl die zweite Ölpreiskrise West-Berlin weniger stark traf, ließ sie dennoch die Arbeitslosenzahl ansteigen. Als die Mauer fiel, waren im Westen Berlins mehr als 90.000 Arbeitslose registriert, die Arbeitslosenquote belief sich auf 1989 auf knapp 10%.

 

Der Staatsinterventionismus à la West-Berlin

Während im Osten Berlins auf Sozialismus gesetzt wurde, hatte man sich im Westen der Stadt Freiheit und Marktwirtschaft auf die Fahnen geschrieben. So marktwirtschaftlich wie in Sonntagsreden immer wieder beschwört wurde, ging es aber nicht zu. So ist die Gewährung von Subventionen immer ein Eingriff in den Marktmechanismus. Die Politik meint grundsätzlich, dass diese Eingriffe genauso wirken, wie sie es sich gedacht hat. Tatsächlich lösen die Eingriffe aber Wirkungen aus, an die man gar nicht gedacht hatte. Das gilt gerade für die Berlinförderung, die vom Volumen her weit größer war als die Förderung aller benachteiligter Regionen im Bundesgebiet zusammengenommen. Im Jahr 1990 betrugen die Kosten für das BerlinFG immerhin 8,3 Mrd. DM (ohne zinsgünstige Kredite, die auch für den Wohnungsbau verwendet werden konnten).

Foto: Menetekel des Niedergangs? Einsturz der Kongresshalle in den 1980er Jahren.

Wenn Subventionen gewährt werden, lädt das auch immer zum Missbrauch ein. Oder man ist findig, und versucht, die Förderung bestmöglich auszunutzen. Bei den Umsatzsteuerpräferenzen nach dem BerlinFG, also den steuerlichen Erstattungen für Lieferungen nach Westdeutschland, bemaß sich die Förderhöhe an dem Lieferwert der Waren. Das hatte in Teilen aberwitzige Folgen. So wurden tote Schweine nach West-Berlin gekarrt, ihnen dort die Ohren abgeschnitten und sie dann zurück nach Westdeutschland geliefert. Dem Staat wurden für diese Aktivität Subventionen abverlangt, die höher waren als die Kosten für die Unternehmer. Dem wurde dann versucht, ein Riegel vorzuschieben. Nicht mehr der Lieferwert war für die Subventionierung allein maßgeblich, sondern die in West-Berlin tatsächlich erbrachte Wertschöpfung. Allerdings gab es weiter einen Grundfördersatz; es musste aber eine bestimmte Wertschöpfung erbracht werden. Das lud zu Diskussionen ein. Beispielsweise wurde darüber diskutiert, ob nicht durch das spezifische Bügeln eines in Polen hergestellten Rockes eine erhebliche Wertschöpfung erbracht wurde, weil es danach ein Faltenrock war. Die Beispiele lassen sich fortsetzen. Jedenfalls hat das BerlinFG – auch nach der Einführung der Wertschöpfungsregelung - dafür gesorgt, dass im Westen Berlins beispielsweise mindestens drei Viertel der bundesdeutschen Produktion von Kaffee, Kakao, Schokolade und Zigaretten konzentriert waren. Früher fand man solche Produktionen in den Hafenstädten Bremen und Hamburg, weil dort die Rohstoffe angeliefert wurden. Wegen der Subventionen des BerlinFG war es bei diesen Produkten sogar ein Standortnachteil, in Westdeutschland zu produzieren. Es gab bis zur Vereinigung Fälle, bei denen die Subventionen höher waren als die Produktionskosten. Durch die Subventionen wurden sogar Erzeugnisse marktgängig, die es zuvor nicht zu kaufen gab. Ein Beispiel ist Kakaomasse – die erste Verarbeitungsstufe der Kakaobohnen. Ohne die Subventionen wären sie wegen der relativhohen Transportkosten gar nicht gehandelt worden, mit den Subventionen waren sie marktfähig.

Die Erwartung, dass im Falle West-Berlins mit Subventionen eine standortgerechte, das heißt wissensintensive Industrie mit vielen Jobs für gut qualifizierte Arbeitskräfte geschaffen werden könnte, hat sich jedenfalls nicht erfüllt. Die Handlungsmöglichkeiten der Politik wurden einmal mehr überschätzt. Gerade in der Wirtschaft wird nicht immer das erreicht, was geplant ist. Aber ohne die Förderung hätte es wohl noch nicht einmal die Massenproduktionen gegeben – und somit weniger Arbeitsplätze.

Aber nicht nur in der Industrie hat die Subventionierung seltsame Blüten getrieben. So konnte auch die Energiewirtschaft Investitionszulagen nach dem BerlinFG in Anspruch nehmen - der Staat erstattete den Unternehmen einen Teil ihrer für Investitionen aufgewendeten Kosten zurück. An dem örtlichen Elektrizitäts-Versorger, damals die Bewag, hielt im Westen die Stadt eine Mehrheitsbeteiligung. Inzwischen gehört das Unternehmen zu Vattenfall. Die Preise für Strom wurden in West-Berlin vom Senat kontrolliert; Preisanhebungen mussten genehmigt werden. Allerdings war es so, dass die Investitionskosten für Kraftwerke, Leitungen etc. bei der Ermittlung möglicher Preissteigerungen für Strom berücksichtigt wurden, die Investitionszulagen jedoch nicht. Für die Bewag bedeutete das: Je mehr man investierte, desto mehr konnte man die Preise anheben und je höher waren die Gewinne, da bei den Investitionen ja nur die Ausgaben zählten – nicht aber die Einnahmen durch die Förderung. Es hätte sich sogar gelohnt, die Türen in den Kraftwerken mit Griffen aus purem Gold zu versehen. Der Senat hatte faktisch und ziemlich klammheimlich eine Sondersteuer von den Verbrauchern erhoben.

Anders als in Westdeutschland bestand in West-Berlin auch noch lange Zeit die auf die Weimarer Republik zurückgehende Mietpreisbindung. Sie sollte eine soziale Maßnahme sein. Aber was einmal gut gemeint war, muss nicht für alle Zeit auch so wirken. Die Miethöhe für Altbauten war stark reglementiert – und die Mieten waren billig. Billige Mieten haben allerdings die Nebenwirkung, dass die Anreize und Möglichkeiten für Hauseigentümer gering waren, in den Wohnungsbestand zu investieren. Entsprechend unterbleiben Modernisierungsmaßnahmen und oft auch die nötige Instandsetzung. Man lebte von der Substanz. Dabei war es keineswegs so, dass nur einkommensschwache Haushalte in den preisregulierten Altbauwohnungen lebten. Einkommensschwache waren eher auf die neueren Sozialwohnungen verwiesen, denn für diese konnten sie einen Wohnberechtigungsschein erhalten, wenn ihre Einkünfte entsprechend niedrig waren. Die Altbauwohnungen indes – oft groß und sehr geräumig – waren heiß begehrt. Um eine solche Wohnung zu mieten, brauchte man Beziehungen oder Geld. Geld war oft nötig, um einen sogenannten Abstand bezahlen zu können, den der Vormieter für Einbauten oder Möbel verlangte. Oft war das aber nur Sperrmüll – für den dann ein durchaus fünfstelliger DM-Betrag gezahlt werden musste. Die niedrigen Mieten für die Altbauten hatten nicht selten zur Folge, dass die gutverdienenden Mieter sich auch noch eine Ferienwohnung im Ausland oder ein Ferienhaus auf dem Lande leisten konnten. Nicht wenige West-Berliner zog es für die Ferien und das Wochenende in das Dreieck Helmstedt – Braunschweig – Lüchow-Dannenberg, denn diese Gegend war relativ rasch mit dem Auto zu erreichen. Die nötigen Investitionen in West-Berlin unterblieben aber. Die Mietpreisbindung war letztlich war reiner Populismus, denn die Politik machte sich damit zwar beliebt, wusste aber, dass diese Maßnahme zum Verfall des Wohnungsbestandes führt. Das änderte sich erst als ab 1988, als die Mietpreisbindung abgeschafft wurde.

Ein weiteres Phänomen sei erwähnt. In West-Berlin gab es zahlreiche Bauskandale. Das Baugewerbe ist generell besonders anfällig für unfairen Wettbewerb, Absprachen oder die Inanspruchnahme unberechtigter Vorteile. Das war auch in West-Berlin so – vielleicht auch noch mehr als anderswo, weil der Markt „auf der Insel“ begrenzt war, die entscheidenden Akteure sich daher untereinander kannten, und weil immer auch Fördermittel winkten. Im verbreiteten Klientelismus mischte die Politik natürlich auch mit. Als manche krummen Geschäfte aufflogen, hat es auch den einen oder anderen Politiker zum Rücktritt veranlasst. Und es gab natürlich Versuche, Kartelle zu bilden. Ziemlich hartnäckig waren dabei in den achtziger Jahren die Baustoffhändler in West-Berlin, die den Markt unter sich aufgeteilt hatten und weit überhöhte Preise kassierten. Völlig falsch war insgesamt der im Volke kursierende Begriff der „Bau-Mafia“ deshalb gewiss nicht, zumal hier und dort tatsächlich auch Schüsse gefallen sind.

Mit großen Strukturproblemen in die Vereinigung – die immer noch nicht überwunden sind

Als die Mauer fiel, wurden rasch die wirtschaftlichen Probleme der DDR offenkundig. Die Industrie war zu großen Teilen nicht wettbewerbsfähig. Das war auch im Osten Berlins so. Dort schlug auch zu Buche, dass der riesige Staatsapparat aus DDR-Zeiten obsolet war. Und private Dienstleistungen von überregionaler Bedeutung, die in den bedeutenden städtischen Zentren des Westens eine große Rolle spielten, gab es systembedingt kaum. Solche Aktivitäten gab es auch in West-Berlin kaum. Und hier geriet auch die Industrie unter Druck, weil nach der Vereinigung das BerlinFG nicht mehr haltbar war. Es blieb der kommunale Sektor, der allerdings wegen viel zu geringer eigener Steuereinnahmen nach wie vor auf Hilfen des Bundes und der anderen Länder angewiesen war. Ost- und West-Berlin ging also mit ähnlichen Problemen in die Vereinigung.

Die Politik im wiedervereinigten Berlin glaubte anfänglich jedoch, dass die Stadt einen Boom erleben würde – und ging sehr großzügig mit ihren Finanzen um. Bis Mitte der neunziger Jahre gab es tatsächlich einen kräftigen Wirtschaftsaufschwung, der aber weitgehend auf die Bauwirtschaft geschränkt blieb. Mit seinem Ende kam auch die Ernüchterung, denn die Politik musste sich sagen lassen, dass die Stadt fast heillos auf die Überschuldung zusteuerte. Es folgten zehn Jahre mit schwacher Wirtschaftsentwicklung und hoher Arbeitslosigkeit. Danach wurde es besser. Aber Berlin fällt immer noch dadurch auf, dass sie weltweit so ziemlich die einzige Hauptstadt ist, in der Wirtschaftsleistung je Einwohner unter dem Landesdurchschnitt liegt.

Nach wie vor ist die Stadt hoch verschuldet. Inzwischen hat die Verschuldung mit 66 Mrd. Euro einen neuen Höchststand erreicht. Das sind aber „nur“ die Schulden im hellen Licht. Hinzu kommen die Schulden im Schatten – etwa jene bei den landeseigenen Unternehmen. Die wohl schwerste Hypothek ist wohl etwas Anderes. Wenn eine Region dauerhaft unterstützt wurde, schlägt sich das zwangsläufig in der Mentalität der Einwohner und der politischen Akteure nieder. Das Sein bestimmt eben das Bewusstsein. Man gewöhnt sich an die Unterstützung, und über die Zeit werden die Leistungen, die man von außen bezieht, als Gewohnheitsrecht angesehen. West-Berlin steht in dieser Hinsicht nicht allein. Mit Ost-Berlin verhält es sich nicht viel anders. Auch hier gab es auf Kosten des übrigen Landes eine Bevorzugung. Zu DDR-Zeiten wurde der Osten Berlins bei Investitionen und bei der Versorgung der Bevölkerung durchweg vorgezogen – denn auch hier sollte eine Schaufensterfunktion ausgeführt werden.

Den einfachen Leuten darf man das nicht anrechnen. Das Problem ist die Politik, die sich an das Schnorren und Geldausgeben gewöhnt hat. So leistet man sich soziale Wohltaten, die jene Gebiete, die für Berlin Geld aufbringen müssen, sich nicht leisten wollen oder können. Selbstbedienung gehört traditionell dazu. All überall werden Parteigänger und Gefolgsleute für politische Aufgaben beim Senat, Unternehmen des Landes, geförderten Einrichtungen und in den Bezirken beschäftigt. Angesichts der vielen Beauftragten für Irgendwas werden jedoch die Dienstleistungen, die auf den Ämtern für die Bürgern zu erbringen sind, vernachlässigt. Es existiert eine weiterhin blühende Parteiwirtschaft. So werden Spitzenpositionen in den Bezirken faktisch mit Dilettanten besetzt, denn nicht Ausbildung und Qualifikation zählen, sondern allein die Parteizugehörigkeit. Man meint, dass es ein politisches Bezirksamt geben müsste – obwohl die Berliner Verfassung und das Berliner Verfassungsgericht eine ganz andere Sprache sprechen. Die Frage bleibt, ob sich irgendwann diese Mentalität ändert. Wahrscheinlich nicht. Schon Tucholsky verwendete den Begriff „Bonzen“, mittlerweile scheint er verpönt zu sein. Dabei ist er nach wie vor aktuell. Politisch und sachlich korrekt müsste er heute jedoch „Bonz*Innen“ heißen.


[1] Wirtschaftswissenschaftler am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, DIW, in Berlin