Zwischenzeit - Die 50er Jahre im geteilten Berlin:

-Zwar geteilt, aber immer noch eins – eine Jugend in zwei Kulturen

Von Ernst Elitz[1]

In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts, nach dem Ende der Blockade West-Berlins mitten im Kalten Krieg und angesichts des blutig niedergeschlagenen Aufstands vom 17. Juni 1953, war die Viersektorenstadt zwar geteilt, aber immer noch eins. Die Grenze zwischen den Westsektoren und dem russischen Sektor war zwar durch Holzschilder gekennzeichnet, aber es gab noch nicht mal eine Markierung über den Grenzverlauf auf dem Strassenpflaster. Jeder konnte sie passieren: Zum Einkaufen, aus Neugier, zum Verwandtenbesuch, und auf welcher Seite der Grenze die Verliebten die Nacht miteinander verbrachten, entzog sich jeder Aufmerksamkeit. Eine quirlige Stadt mit zwei Währungen, zwei Stadtregierungen, zwei vollkommen gegensätzlichen politischen Systemen – aber dennoch eins.

Auch auf dem Arbeitsmarkt waren Ost- und West noch nicht durch die Mauer getrennt. Sogenannte „Grenzgänger“ aus Ost-Berlin arbeiteten offiziell im Westen – für West-Mark. Die Schattenwirtschaft florierte. Bei einem Wechselkurs von 1:4 oder 1:5 drängte es sich für Ost-Berlinerinnen geradezu auf, sich eine Putzstelle im Westen zu suchen. Als in den späten Sechzigern Ost-Rentnern wieder Besuche in West-Berlin gestattet wurden, blühte das west-östliche Putzgewerbe wieder auf.

In den Fünfzigern gab es Schlupflöcher überall. Ost-Berliner und DDR-Bewohner mussten bei ihren Behörden eine Interzonen-Reisegenehmigung beantragen, um in die Westzonen zu reisen – mit Angabe des Reisegrundes. Aber sie konnten einfacherweise auch mit der U- Bahn zum West-Berliner Flughafen Tempelhof fahren und von dort mit Propeller nach Hamburg oder Hannover fliegen. Gegen Westgeld natürlich. Habe ich als Ost-Berliner Schüler zweimal gemacht – ich glaube sogar mit einem Zuschuss für Ost-Jugendliche vom West-Berliner Senat. Zwar hatten Straßenbahn- und Buslinien ihre Endstationen jeweils an der Sektorengrenze, aber S- und U-Bahnen durchquerten die Stadt und hielten in allen Sektoren. Mit der U-Bahn vom Prenzlauer Berg bis zum Zoo dauerte damals wie heute eine gute halbe Stunde. Dort lockte am Kurfürstendamm der Westen mit seinen Kinos und Theatern.

Im Osten schrieb Brecht am „Berliner Ensemble“ Theatergeschichte, im Schillertheater im Westen hatte Max Frisch Premiere und auf der Bühne standen Klaus Kammer und Käthe Dorsch. In der an jedem Sonntag im RIAS, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, ausgestrahlten „Stimme der Kritik“, vereinte der legendäre Theaterkritiker Friedrich Luft mit seinen manchmal beißenden, immer aber unterhaltsamen Kritiken die Theaterlandschaft des ganzen Berlin. Auch im Kino herrschte grenzübergreifend Vielfalt: Im Osten „Der stille Don“ und „Wenn die Kraniche ziehen“, im Westen die Berlinale und „Das Mädchen Rosemarie“. Man wuchs auf in zwei Kulturen, einschließlich der literarischen Neuerscheinungen aus dem Westen.

Besser ließ sich die Theater- und Filmgeschichte der fünfziger Jahre nicht studieren als in diesem noch nicht ganz geteilten Berlin. Theater- und Kinokarten gab es im Westen für Ost-Berliner zum Sonderpreis, ich glaube sogar für Ost-Mark. Der Lehrer aus unserer Ost-Berliner Oberschule, der uns vormittags noch aus ideologischen Gründen vor dem Besuch West-Berliner Kinos gewarnt hatte, saß dann am Nachmittag im Gloria-Palast am Kudamm ein paar Reihen hinter uns. Wir haben ihn - diskret wie wir waren – im Kino nicht begrüßt sondern ihm nur verstohlen zugezwinkert.

Ein bisschen unglücklich war es, dass die evangelischen Schüler in meiner Ost-Berliner Oberschule an einem Reformationstag nach der zweiten Stunde darauf pochten, wegen des Gottesdienstbesuchs für den restlichen Tag vom Schulbesuch befreit zu werden, dann aber nicht in die nächste Kirche pilgerten, sondern mit der U-Bahn in den Westen fuhren, um dort an der Sektorengrenze eines der vielen rund um die Uhr geöffneten Kinos aufzusuchen, um sich einen Western reinzuziehen. Das kam raus. Aber es war gerade eine liberale Phase, sie mussten die Schule nicht verlassen, sondern nur eine sozialistische Standpauke über sich ergehen lassen.

Es konnte auch weniger glimpflich enden. Als eine Mitschülerin, eine Nichte des von den Ost-Medien (aber auch vom „Stern“) als KZ-Baumeister verunglimpften späteren Bundespräsidenten Heinrich Lübke, gegen die Hetzkampagne protestierte, flog sie schon mitten in der Unterrichtstunde raus. Die Lehrerin, sichtlich erregt, riss das Fenster auf und rief: „Endlich frische Luft!“ - Nach den Ferien blieben immer wieder Plätze in den Bänken leer. Keiner wunderte sich. Die Familien waren „rübergemacht“. Die Lehrerin, ziemlich SED-stramm, meldete sich ein paar Jahrzehnte später – nach dem Mauerfall – bei mir. Sie gab in der Redaktion der „Berliner Zeitung“ (als die unter meinem ehemaligen „SPIEGEL“-Chef Erich Böhme noch die „Washington Post“ Deutschlands werden wollte) einen Brief für mich ab. Ich schrieb unter Böhmes Ägide eine Medien-Kolumne für das Blatt meiner Kindheit, und die Lehrerin – inzwischen politisch bekehrt – gratulierte mir zu meiner Karriere. Sie bekannte: „Ich habe mir manchmal Gedanken gemacht, wenn ich Dir eine gute politische Bewertung im Abi-Zeugnis gegeben hätte, wärst Du vielleicht nicht in den Westen gegangen, sondern bei uns geblieben. Aber so war es auf jeden Fall besser für Dich!“ Späte Einsicht!

Erstaunlicherweise, wohl eine Folge des Viermächtestatuts für Gesamtberlin, konnten Kinder mit Wohnsitz in den Ost-Bezirken, ohne von den Ost-Berliner Behörden daran gehindert zu werden, alltäglich Schulen in West-Berlin besuchen, dort Abi oder einen anderen Abschluss machen und weiter im Westen studieren. Für Absolventen der Ost-Oberschulen wurde im Westen ein spezielles dreizehntes Schuljahr angeboten, an dessen Ende eine Abiturprüfung nach westdeutschen Standards stand. Da traf man sich wieder.

Wer in den fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Ost- oder West-Berlin lebte, lebte in zwei Systemen. Es war nur ein schmales Zeitfenster zwischen dem Nachkriegselend der Vierziger Jahre und dem Mauerbau 1961– eine kurze Phase einmalig in der Geschichte des Kalten Krieges, aber bewusst erlebt von einer Generation, die heute in den Endsiebzigern oder Achtzigern ist und die in dieser Zeit ihre kulturelle Prägung erfuhr. Es war ein alltägliches Erziehungsprogramm zur kritischen Betrachtung der Welt. Stets war die Herausforderung, zwischen den Systemen zu wägen. Der RIAS, die „Stimme der freien Welt“, antikommunistisch, dem liberalen angelsächischen Journalismusstandards verpflichtet. Der flotte Sender war auch in Ost-Berlin in jedem Haushalt zu hören. An warmen Sommertagen ertönten bei geöffneten Fenstern in Ost wie West die RIAS-“Schlager der Woche“ mit Harry Belafonte Dauerhit „Come, Mister tally man, tally me banana“ über die Straßen. Im RIAS wurden auch Namenslisten von Stasispitzeln verlesen, vor denen man sich in acht nehmen sollte. Das zeigte Wirkung: In einem Nachbarhaus sog einer der Genannten Hals über Kopf aus.

Gegen ein derart volles Programm zogen die Ost-Berliner Sender, schon damals auf Schnitzler-Kurs[2], mit ihren politischen Botschaften ein Schattendasein. In den Westsektoren dagegen bot der Journalismus mit Berichten und Kommentaren über die Politik und Kultur von Bonn bis Washington einen weiteren Blick in die Welt. Bis zum Mauerbau konnte man aus dem Westsektor auch Bücher und West-Zeitungen über die Grenze bringen. Aber es empfahl sich nicht, sie offen zu tragen. Ich pflegte sie unterm Oberhemd im Hosenbund zu placieren und wurde damit schon in meinem 16. Lebensjahr ständiger Leser der FAZ – neben der Lektüre der im häuslichen Abo vorhandenen Ost-“Berliner Zeitung“.

Was dieser Generation in den Fünfzigern frei Haus geliefert wurde, waren Incentives für ein ständiges Abwägen, ein permanentes Vergleichen, es war ein Programm zur kritischen Betrachtung der Welt und angesichts der allgemeinen Neigung zur Rechthaberei der Ideologen eine Erziehung zu einem gesunden Skeptizismus. Es war für mich die beste Ausbildung zum Journalistenberuf. Eine Journalistenschule fürs Leben. Nichts glauben, erst mal prüfen, dann schreiben!

 


[1] Autor: Prof. Ernst Elitz, Jahrgang 1941, lehrte an der Freien Universität Berlin Kultur und Medienmangement. Er machte sein Abitur erst in Ost-, dann in West-Berlin, studierte an der FU und startete seine journalistische Karriere beim RIAS. Er wurde nach Stationen beim „Spiegel“, dem ZDF und in der ARD der erste Intendant des 1994 gegründeten Deutschlandradios.

[2] Eduard von Schnitzler war einer der berüchtigten Medienpropagandisten in der DDR:

Foto: Aufgewachsen (nicht nur) in Ostberlin- später Journalist im Westen. Ernst Elitz (links im Bild). Das Klima der Doppel-Stadt prägte ihn.


In den Fünfzigern gab es Schlupflöcher überall. Ost-Berliner und DDR-Bewohner mussten bei ihren Behörden eine Interzonen-Reisegenehmigung beantragen, um in die Westzonen zu reisen – mit Angabe des Reisegrundes. Aber sie konnten einfacherweise auch mit der U- Bahn zum West-Berliner Flughafen Tempelhof fahren und von dort mit Propeller nach Hamburg oder Hannover fliegen. Gegen Westgeld natürlich. Habe ich als Ost-Berliner Schüler zweimal gemacht – ich glaube sogar mit einem Zuschuss für Ost-Jugendliche vom West-Berliner Senat. Zwar hatten Straßenbahn- und Buslinien ihre Endstationen jeweils an der Sektorengrenze, aber S- und U-Bahnen durchquerten die Stadt und hielten in allen Sektoren. Mit der U-Bahn vom Prenzlauer Berg bis zum Zoo dauerte damals wie heute eine gute halbe Stunde. Dort lockte am Kurfürstendamm der Westen mit seinen Kinos und Theatern.


Im Osten schrieb Brecht am „Berliner Ensemble“ Theatergeschichte, im Schillertheater im Westen hatte Max Frisch Premiere und auf der Bühne standen Klaus Kammer und Käthe Dorsch. In der an jedem Sonntag im RIAS, dem Rundfunk im amerikanischen Sektor, ausgestrahlten „Stimme der Kritik“, vereinte der legendäre Theaterkritiker Friedrich Luft mit seinen manchmal beißenden, immer aber unterhaltsamen Kritiken die Theaterlandschaft des ganzen Berlin. Auch im Kino herrschte grenzübergreifend Vielfalt: Im Osten „Der stille Don“ und „Wenn die Kraniche ziehen“, im Westen die Berlinale und „Das Mädchen Rosemarie“. Man wuchs auf in zwei Kulturen, einschließlich der literarischen Neuerscheinungen aus dem Westen.

Besser ließ sich die Theater- und Filmgeschichte der fünfziger Jahre nicht studieren als in diesem noch nicht ganz geteilten Berlin. Theater- und Kinokarten gab es im Westen für Ost-Berliner zum Sonderpreis, ich glaube sogar für Ost-Mark. Der Lehrer aus unserer Ost-Berliner Oberschule, der uns vormittags noch aus ideologischen Gründen vor dem Besuch West-Berliner Kinos gewarnt hatte, saß dann am Nachmittag im Gloria-Palast am Kudamm ein paar Reihen hinter uns. Wir haben ihn - diskret wie wir waren – im Kino nicht begrüßt sondern ihm nur verstohlen zugezwinkert.

Ein bisschen unglücklich war es, dass die evangelischen Schüler an einem Reformationstag nach der zweiten Stunde darauf pochten, wegen des Gottesdienstbesuchs für den restlichen Tag vom Schulbesuch befreit zu werden, dann aber nicht in die nächste Kirche pilgerten, sondern mit der U-Bahn in den Westen fuhren, um dort an der Sektorengrenze eines der vielen rund um die Uhr geöffneten Kinos aufzusuchen, um sich einen Western reinzuziehen. Das kam raus. Aber es war gerade eine liberale Phase, sie mussten die Schule nicht verlassen, sondern nur eine sozialistische Standpauke über sich ergehen lassen.

Es konnte auch weniger glimpflich enden. Als eine Mitschülerin, eine Nichte des von den Ost-Medien (aber auch vom „Stern“) als KZ-Baumeister verunglimpften späteren Bundespräsidenten Heinrich Lübke, gegen die Hetzkampagne protestierte, flog sie schon mitten in der Unterrichtstunde raus. Die Lehrerin, sichtlich erregt, riss das Fenster auf und rief : „Endlich frische Luft!“ - Nach den Ferien blieben immer wieder Plätze in den Bänken leer. Keiner wunderte sich. Die Familien waren „rübergemacht“.

Erstaunlicherweise, wohl eine Folge des Viermächtestatuts für Gesamtberlin, konnten Kinder mit Wohnsitz in den Ost-Bezirken, ohne von den Ost-Berliner Behörden daran gehindert zu werden, alltäglich Schulen in West-Berlin besuchen, dort Abi oder einen anderen Abschluss machen und weiter im Westen studieren. Für Absolventen der Ost-Oberschulen wurde im Westen ein spezielles dreizehntes Schuljahr angeboten, an dessen Ende eine Abiturprüfung nach westdeutschen Standards stand.

Wer in den fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Ost- oder West-Berlin lebte, lebte in zwei Systemen leben. Es war nur ein schmales Zeitfenster zwischen dem Nachkriegselend der Vierziger Jahre und dem Mauerbau 1961– eine kurze Phase einmalig in der Geschichte des Kalten Krieges, aber bewusst erlebt von einer Generation, die heute in den Endsiebzigern oder Achtzigern ist und die in dieser Zeit ihre kulturelle Prägung erfuhr. Danach war wieder alles dicht. Es war ein alltägliches Erziehungsprogramm zur kritischen Betrachtung der Welt. Stets war die Herausforderung zwischen den Systemen zu wägen. Der RIAS, die „Stimme der freien Welt“, antikommunistisch, dem liberalen angelsächsischen Journalismusstandard verpflichtet. Der flotte Sender war auch in Ost-Berlin in jedem Haushalt zu hören. Die Ost-Berliner Sender, schon damals auf Schnitzler-Kurs[2], fristeten mit ihren politischen Botschaften ein Schattendasein. In den Westsektoren bot der Journalismus mit Berichten und Kommentaren über die Politik des Westens von Bonn bis Washington und noch weiter einen Blick in die Welt. Bis zum Mauerbau konnte man aus dem Westsektor auch West-Zeitungen über die Grenze bringen. Aber es empfahl sich nicht, sie offen zu tragen. Ich pflegte sie unterm Oberhemd im Hosenbund zu placieren und wurde damit schon in meinem 16. Lebensjahr ständiger Leser der FAZ – neben der Lektüre der im häuslichen Abo vorhandenen Ost-“Berliner Zeitung“.

Was dieser Generation in den Fünfzigern frei Haus geliefert wurde, waren Incentives für ein ständiges Abwägen, ein permanentes Vergleichen, es war ein Programm zur kritischen Betrachtung der Welt und angesichts der allgemeinen Neigung zur Rechthaberei der Ideologen eine Erziehung zu einem gesunden Skeptizismus. Es war für mich die beste Ausbildung zum Journalistenberuf. Eine Journalistenschule fürs Leben. Nichts glauben, erst mal prüfen!
 

[1] Autor: Prof. Ernst Elitz, Jahrgang 1941, lehrte an der Freien Universität Berlin Kultur und Medienmangement. Er machte sein Abitur erst in Ost-, dann in West-Berlin und startete seine journalistische Karriere beim RIAS. Er wurde nach Stationen beim „Spiegel“, dem ZDF und in der ARD der erste Intendant des 1994 gegründeten Deutschlandradios.

[2] Eduard von Schnitzler, war der wohl berüchtigste Propagandist im DDR-Fernsehen.