Einstürzende Neubauten: Die alte Kongresshalle

Von Tanja Dückers[1]

Wenn wir nicht mit unseren langen Kinderladenkinder-Mähnen im Zoo tobten, dann im Tiergarten. Weil dort stets viele Kaninchen herumhoppelten und auch Füchse ungestört über die Wiesen streiften, dachte ich als Kind, sie hätten dem Tiergarten ihren Namen gegeben.

Der Tiergarten war nicht frei von Gefahren. Eine hieß: Akademie der Künste. Den kunstsinnigen Eltern konnte es einfallen, ein versprochenes Picknick oder herrlich zielloses Herumstreunen von einen Moment auf den anderen in einen Ausstellungsbe- such zu verwandeln: »Ach, wo wir doch schon hier sind.« Und, zack, befand man sich in Seminaratmosphäre, denn zu jedem Gemälde oder Objekt gab es eine ausführliche elterliche Belehrung. Was man heute hochinteressant finden würde, war damals ein Grund zur eilig angetretenen Flucht. Manchmal führten uns die Wege auch weiter, und wir liefen bis zu einem Gebäude, das ich stets als schwungvoll, Optimismus spendend und sehr freundlich, beinahe wie ein Ü, wahrgenommen habe: die Alte Kongresshalle. Sie war zumindest in den Siebzigern und Achtzigern – in den Fünfzigern mag es anders gewesen sein – ein geschmackliches Konsensgebäude. Jeder war von der Kongresshalle begeistert, sogar hinterwäldlerischer Besuch aus Restdeutschland.

1957 war sie als Beitrag der USA zur Internationalen Bauausstellung Interbau errichtet worden. Auf Betreiben der da- maligen Berlin-Verantwortlichen des amerikanischen Außenministeriums, Eleanor Dulles (Mutter Berlin genannt), wurde die Kongresshalle als Geschenk an die Stadt Berlin übergeben. Angeblich geläufige Begriffe wie Schwangere Auster für den ungewöhnlichen Bau mit dem geschwungenen Dach verwendeten wir nie – der Vater einer Freundin sprach mal von Pilzkopffrisur.

Es passt in die damalige Zeit, dass die Kongresshalle als »Leuchtturm der Freiheit« aufgefasst wurde oder vielmehr auf- gefasst werden sollte. Sie wurde auf einen künstlichen Hügel ge- setzt, damit ihre Konturen in Ost-Berlin zu sehen waren. Dort war man sicher erstaunt, am 21. Mai 1980 die »Werte der Freiheit« einstürzen zu sehen. Während einer Konferenz kollabierte die Kongresshalle plötzlich; einen Redakteur vom SFB kostete dies das Leben. Die Medien waren sofort voll von Spekulationen und fal- schen Anschuldigungen. Denn genau an jenem Tag, an dem die Kongresshalle in sich zusammenfiel, fand im Reichstagsgebäude eine Sitzung des Bundestages statt, um die umstrittene Zugehö- rigkeit Berlins zum Bund zu demonstrieren. Die Sowjetunion und die DDR protestierten – welch Überraschung – dagegen. Den ganzen Tag flogen sowjetische Düsenjäger über West-Ber- lin und lösten Überschallknalle aus. Die westlichen Medien (mit Ausnahme von Die Wahrheit, dem Presseorgan der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins – SEW) waren sämtlichst davon überzeugt, dass die heftigen Schallwellen den Einsturz verursacht hatten. Seltsam nur, dass kein anderes Dach an diesem Tag nachgab. Ein technisches Gutachten kam später zu einem an- deren Schluss: Ursache war eine fehlerhafte Konstruktion, und zwar in erster Linie Ausführungsmängel. Ich erinnere mich gut an den Einsturz und eine Diskussion darüber zu Hause. Ein Bekannter der Eltern, also ein Kulturmensch, hatte aufgeregt über die »Werte des Westens« fabuliert, die die Kongresshalle »architektonisch« verkörpert habe. Mein Bruder sagte daraufhin kopfschüttelnd: »Welche ›Werte‹ denn? Konsum, Fressen, Saufen, vor der Glotze hängen …« Damit war wenigstens die aufgeplusterte Wertediskussion zu einem würdigen Ende gekommen.

 

 


[1] Auszug aus Tanja Dückers:  „Mein altes West-Berlin“, be.bra, Berlin 2016, jetzt in 4. erweiterter Auflage auch als Hardcover. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.