Einschusslöcher

Von Tanja Dückers[1]

Sie waren einfach da, und das Wort »Einschusslöcher« hatte nichts von der Dramatik, die es heute hat. Einschusslöcher waren, wie Baggerlöcher, Sandburgen oder Hüpfspiel-Markierungen, etwas Alltägliches. Berlin sah in den siebziger und achtziger Jahren zum Teil aus, so als sei der Krieg erst vor ein, zwei Deka- den zu Ende gegangen. Einschusslöcher befanden sich natürlich auch an unserem Haus, bevor es in den frühen achtziger Jahren renoviert wurde. Die langweilige graue Fassade erhielt wieder Stuckelemente und erstrahlte hernach in hellem Beige. Das war ein bisschen schade, denn die Einschusslöcher hatten eine gute Kulisse für unsere Spiele abgegeben: Wir spielten nicht etwa Zweiter Weltkrieg, das tat wohl die Generation der Kriegskinder vor uns. Wir, die Kriegsenkel, spielten RAF und Polizei. Ich war meist Christian Klar, der mir mit seinem schmalen Rollkragen-pullover – solche trug ich auch – und seinem dunklen, adretten Seitenscheitel gut gefiel. Mein Bruder war Adelheid Schulz und meine beste Freundin Maria, die eine Etage unter uns wohnte, war Willy Peter Stoll, der einen schicken Schnauzbart trug und stark aussah. Wir sprangen auf der Straße und vor der Freien Volksbühne herum, die Marmortreppe wurde von Schüssen durchsiebt, wir entkamen knapp auf unseren Fahrrädern, auf denen wir freihändig fuhren, da wir in beiden Händen einen Revolver tragen mussten. Hochgefährliches trug sich bei uns auf dem friedlichen ku’dammnahen Sträßchen zu.

Das Verschwinden der Einschusslöcher unter der schicken elfenbeinfarbenen Hausfassade fiel zeitlich zusammen mit dem Untergang der zweiten Generation der RAF. ……Die Zahl der Häuser mit Einschusslöchern nimmt indes kontinuierlich ab. Das Seltsame ist: Wenn man jetzt Häuser mit Einschusslöchern sieht, sieht man plötzlich wieder Einschusslöcher – und erschrickt.

 

 

 


[1] Auszug aus Tanja Dückers:  „Mein altes West-Berlin“, be.bra, Berlin 2016, jetzt in 4. erweiterter Auflage auch als Hardcover. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.