Sterbende Stadt (Bahnhof Zoo)

Von Tanja Dückers[1]

Besuch bei uns in Berlin kam, wenn nicht mit dem Auto, dann am Bahnhof Zoo an. Der Bahnhof Zoo war eine Institution in West-Berlin. Groß, dunkel und schmuddelig hatte er eine düster-erhabene Aura. Solch eine Aura kann ein neuer, saube rer, schöner, übersichtlicher Bahnhof gar nicht haben. Dass der Bahnhof Zoo eines Tages zum Regionalbahnhof herabgestuft werden würde, lag außerhalb des Vorstellungsvermögens. Viele ältere Menschen empfinden diesen Vorgang heute noch als schwere Kränkung. Früher kamen die Großeltern immer am Bahnhof Zoo an, wenn sie uns besuchten. In Erinnerung geblieben ist aber auch der – einzige – Besuch eines Onkels und einer Tante aus Westdeutschland. Auf dem Weg zum Parkplatz waren die beiden schon entsetzt über die vielen Penner. Sie sagten etwas in der Art wie: »Das werden hier ja immer mehr! Damals waren die Landstreicher Kriegsversehrte, mit denen hatte man Mitleid, aber heute …« und bekamen die launige Antwort: »Heute sind es eben nicht mehr Kriegs-, sondern Kapitalismusversehrte.« Der Anblick des Beate-Uhse-Shops sowie der Fressbuden am Zoo schien ihren Eindruck von West-Berlin nicht zu verbessern. Sie wohnten nicht bei uns, sondern in einem Hotel in der Nähe. An ihrem letzten Abend in Berlin fragten meine Eltern: »Wie waren denn eure Eindrücke von Berlin?« Und der meinungsstarke, diskussionsfreudige Onkel hatte sofort eine steile Ansicht parat: »Ihr lebt in einer sterbenden Stadt! Nicht mal am Kriegsende kann Berlin trauriger gewesen sein als jetzt!« Nach dieser Behauptung entspann sich eine langwierige und anstrengende Diskussion. Onkel und Tante waren nicht von ihrer Meinung abzubringen. Berlin würde an die Sowjetunion fallen, West-Berlin sei eh ein absurdes Konstrukt, auf die Dauer wäre dieses Überbleibsel zu teuer für den Bund und so weiter. Sie ließen kein gutes Haar an West-Berlin. Gern sprachen sie auch von

»Rumpf« und »Insel«. Es ging weiter um die »albernen Abenteuerkinder«, die sich  in Berlin nur selbst verwirklichen würden, was unseren Vater, derweil Museumsdirektor, kalt ließ. Einwände, dass die Amerikaner West-Berlin nicht ohne Weiteres »dem Russen« überlassen würden und einiges für Berlin – Stichwort Luftbrücke – getan hatten, schlugen sie in den Wind. »Der Russe« würde sich den Happen West-Berlin vor seiner Nase nicht länger anschauen, nicht weitere dreißig Jahre untätig zusehen, irgendwann zubeißen und so weiter. »…. »Wegen euch« würden die Amis bestimmt keine Bodentruppen schicken. Und wenn es einen Atomkrieg gäbe, wovon über kurz oder lang auszugehen sei, so die selbstgewisse Tante, würden wir erst recht in einer sterbenden Stadt leben! Aber einen Dritten Weltkrieg würde für uns Berliner sowieso niemand riskieren.

Die Verwandten malten uns also heitere Aussichten an die Wand. Es gibt Leute, die Spaß daran haben, anderen ein schlech tes Gefühl zu geben. Dann brausten sie vom Bahnhof Zoo wie- der ab in ihr langweiliges Leverkusen. Wir blieben mit ihren düsteren Worten zurück. Die Eltern aber versuchten die Sorgen zu vertreiben: »Das ist doch keine sterbende Stadt, sondern die le bendigste Stadt Deutschlands!« Wenn ich am Fenster stand und auf den Hinterhof schaute, die Mauer dort, die alten Fahrräder, die Mülltonnen und die Ratten, war ich mir nicht so sicher, ob sie recht hatten.

Wenn wir aber zum Bahnhof Zoo fuhren, zu dem alten schmuddeligen Ding, dann meinte ich doch zu spüren, dass der Vater recht hatte: Selbst von den Nutten, den Säufern und den ewigen An-die-Wand-Pinklern am stinkenden Zoo ging etwas aus, das einen nicht wirklich glauben ließ, diese Stadt würde einfach so sterben…..

 

 


[1] Auszug aus Tanja Dückers:  „Mein altes West-Berlin“, be.bra, Berlin 2016, jetzt in 4. erweiterter Auflage auch als Hardcover. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlages.