Das beste Fenster im Eisernen Vorhang

Pjotr Popow – Berlin und der erste Spion der CIA beim sowjetischen Militärgeheimdienst GRU

Von Matthias Uhl[1]

Im Februar 1959 verhaftete das KGB in Moskau einen Oberstleutnant der Sowjetarmee. Hierbei handelte es sich um den Offizier Pjotr S. Popow, der im Januar 1960 wegen Spionage zum Tode verurteilt wurde. Mit Popow war es der CIA erstmals gelungen, eine hochrangige Quelle im militärischen Nachrichtendienst der Sowjetarmee zu platzieren und durch diese an wertvolle Geheiminformationen zu kommen. Die geteilte Stadt Berlin spielte in diesem Agentenkrimi eine Schlüsselrolle, wurde sie doch zu einem der wichtigsten Dreh- und Angelpunkte der Spionageaffäre.

Am Neujahrsmorgen 1953 fand ein Mitarbeiter des State Department in Wien in seinem Wagen einen Brief, in dem ein sowjetischer Offizier gegen Geld nachrichtendienstliche Informationen anbot. Angeblich brauche er finanzielle Hilfe, um eine Abtreibung für seine Freundin zu bezahlen. Das Schreiben wurde umgehend an die CIA-Mission in der österreichischen Hauptstadt weitergeleitet, die kurzfristig ein Treffen mit dem Selbstanbieter arrangierte. Schnell stellte sich heraus, dass der amerikanische Nachrichtendienst hier seinen ersten „dicken“ Fisch aus der Hauptverwaltung Aufklärung der Sowjetarmee (GRU) an Land gezogen hatte. Popow diente offiziell bei der Zentralgruppe der Truppen im sowjetisch besetzten Teil Österreichs. Tatsächlich beschaffte der frischgebackene Nachrichtendienstoffizier, er hatte 1951 die Militär-Diplomatische Akademie in Moskau – die Kaderschmiede des Militärgeheimdienstes – abgeschlossen, in der österreichischen Hauptstadtklandestine Informationen für die GRU. In der Alpenrepublik sollte er Agenten für Jugoslawien anwerben und nachrichtendienstlich gegen den Tito-Staat tätig werden[2]

In Wien erlag der junge Nachrichtendienstoffizier des sowjetischen Militärgeheimdienstes rasch den Verlockungen des Westens und der Wiener Damenwelt. Der verheiratete Militär, der seine Frau und zwei Kinder in Twer bei Moskau hatte zurücklassen müssen, begann alsbald eine Affäre mit der attraktiven Wienerin Gretchen Ritzler. Popow war jedoch nicht zufällig an die Dame geraten, sie wurde von der CIA gezielt als Lockvogel auf den Offizier angesetzt. Der junge Major, der unter seinen Kollegen als nicht sonderlich begabt galt und nicht gerade beliebt war, stieß vielmehr dem an der sowjetischen Botschaft in Wien beschäftigtem Gärtner auf, der zugleich unter dem Decknamen „Hans“ als sogenannter Tipper für die CIA-Operationszentrale in der österreichischen Hauptstadt arbeitete[3].      

„Hans“ hatte sich unter den sowjetischen Diplomaten und Militärs nach Personen umzuschauen, die dadurch ins Auge stießen, dass sie unter dem Botschaftspersonal kaum enge Freundschaften pflegten, die sich von ihren Vorgesetzen diskriminiert und zurückgesetzt fühlten, sich mit ihrer Karriere unzufrieden zeigten, zu übermäßigen Alkoholkonsum neigten, wenig Sport trieben oder häufig Familienstreitigkeiten hatten. Sobald die Zielperson sich dann noch als selbstsicher, impulsiv, sich selbst überschätzend und überempfindlich gegen Kritik erwies, passte sie genau in das Anwerbungsschema der CIA-Operation „Redcap“[4]. Mit Hilfe von „Redcap“ wollte der US-Geheimdienst „durch ein systematisches und konzentriertes Programm“ in sowjetische Einrichtungen im Ausland eindringen, um dort entweder Überläufer anzuwerben oder im günstigsten Fall sogar Penetrationsagenten zu gewinnen. Aus diesem Grund sollten die Anwerber „die Eigenschaften, Gewohnheiten und Schwächen (Sex oder Alkohol)“ der Kandidaten kennen, sowie in Erfahrung bringen „wo sie wohnen, welche Restaurants sie aufsuchen, welche Geschäfte sie bevorzugen, ebenso die Adressen ihrer Sekretärinnen und Geliebten“. Weiterhin forderte die CIA: „Wir sollten schließlich in der Lage sein, diejenigen ausfindig zu machen, die in wirklichen Schwierigkeiten stecken und Angst haben, in die Sowjetunion abberufen zu werden. Sobald wir diese Personen entdeckt haben, können wir rechtzeitig auf sie zugehen und ihr Vertrauen gewinnen. Wir müssen die finden, denen Ärger bevorsteht, egal, ob sie in der Botschaft oder einem Konsulat beschäftigt sind, oder ob sie sich auf einer Beschaffungsmission befinden. Jeder muss dabei nach seinen eigenen Verdiensten behandelt werden, in Übereinstimmung mit seinem Charakter, Temperament, seinen mentalen Fähigkeiten und persönlichen Hintergrund. Diese Personen müssen individuell von unseren am besten ausgebildeten Männern angesprochen werden, die über die Vorstellungskraft, die Persönlichkeit, den Einfallsreichtum und die sprachlichen Fähigkeiten verfügen, um mit diesen Männern Kontakt aufzunehmen, nachdem wir sie gefunden haben.“[5]

Genau in das Fadenkreuz einer solchen Operation war Popow geraten, der gleichwohl davon ausging, mit einer österreichischen Zufallsbekanntschaft anzubandeln. Doch nachdem „Hans“ den sowjetischen Major „getippt“ hat, geriet dieser in eine Honig-Falle der CIA. Nachdem der GRU-Offizier einmal am Haken saß, verstrickte er sich immer tiefer mehr in der Spionageoperation der CIA. Die Ausgaben für seine Affäre überstiegen recht bald die spärlichen Einkünfte des Offiziers, so dass er am Neujahrsmorgen 1953 dem US-Nachrichtendienst aus scheinbar eigenen Stücken den Austausch von Informationen gegen Geld anbot. Dass er bereits lange zuvor das Zielobjekt einer Geheimdienstoperation gewesen war, ahnte Popow nicht.Kurze Zeit später übernahm George Kisevalter, ein 1910 in Sankt Petersburg geborener Exilrusse im Sold der CIA, die Führung von „ATTIC“, so der Deckname von Popow. Alsbald identifizierte dieser für den US-Geheimdienst nicht nur GRU-Mitarbeiter in Österreich, sondern lieferte den Amerikanern auch Unterlagen zu Taktik und Waffen der sowjetischen Streitkräfte. Während seines Sommerurlaubs in der Sowjetunion 1954 beschaffte „ATTIC“ sogar Informationen zu den Plänen der sowjetischen Marine für den Bau eines ersten Atom-U-Bootes und zur Entwicklung von raketengetriebenen Fernlenkwaffen[6].        

Als die sowjetischen Besatzungstruppen 1955 Österreich verließen, wurde Popow zunächst nach Moskau versetzt. Obgleich er von der CIA instruiert worden war, wie er in der sowjetischen Hauptstadt Kontakt zum amerikanischen Geheimdienst herstellen könne, schien lange Zeit nicht klar, ob der Agent erneut die Chance bekommen würde, mit seinen Führungsoffizieren Verbindung aufzunehmen. Ungeachtet dessen, dass seit 1953 der CIA-Agent Edward Smith verdeckt an der US-Botschaft in der Sowjetunion arbeitete, scheute der GRU-Offizier jede Kontaktaufnahme. Der Grund hierfür: als Popow während seines Sommerurlaubes 1954 die von Smith eingerichteten toten Briefkästen inspizierte, musste er feststellen, dass diese für die Ablage von Agentennachrichten völlig ungeeignet waren.Hierüberbeschwerte er sich wenig später bei Kisevalter mit den Worten: „Sie sind lausig angelegt. Versucht ihr mich ans Messer zu liefern?“[7]

Im Herbst 1955 erfolgte schließlich Popows Versetzung in die DDR. Zunächst beim Aufklärungspunkt der GRU in Rostock eingesetzt, gelang es ihm hier, im Januar 1956 Kontakt mit der britischen Militärverbindungsmission aufzunehmen. Wenig später informierten die Briten das CIA-Büro in West-Berlin, das wiederum seine Zentrale in Langley von der Kontaktaufnahme ATTICS in Kenntnis setzte. Kurz danach befand sich Kisevalter bereits im Flieger in die geteilte ehemalige deutsche Hauptstadt[8]. Die dortige Operationsbasis der CIA befand sich im Föhrenweg 19 in Berlin-Dahlem. Im Rhumeweg 26, in Berlin-Zehlendorf verfügte der US-Geheimdienst zudem über ein sogenanntes sicheres Haus, das von der CIA für geheime Treffen genutzt wurde[9]. Für den US-Geheimdienst erwies sich West-Berlin damals als „unser bestes Fenster im Eisernen Vorhang“[10].

Von dort aus übernahm nun Kisevalter, der in der Berliner Operationsbasis der CIA ein kleines Büro bezogen hatte, die Führung von ATTIC. Für die konspirativen Treffen reiste der Agent regelmäßig nach West-Berlin, da die amerikanischen Geheimdienstmitarbeiter keine Fahrten in den Ostteil der Stadt riskieren wollten. Das gleiche galt übrigens auch für die Gegenseite. Offiziere der sowjetischen Spionageabwehr mieden jeglichen Einsatz im Westteil Berlins, da ein solcher als zu riskant galt.

Durch Popow gelangte der CIAnicht nur an bestätigte Informationen zu Chruschtschows geheimer Abrechnung mit Stalin,1956 auf dem XX. Parteitag der kommunistischen Partei der UdSSR sowie zum Agentennetz des Militärgeheimdienstes der Sowjetarmee in der DDR und der Bundesrepublik. Im Frühjahr 1957 konnte der GRU-Offizier seinen bisher größten Coup landen. Zwischen dem 12. und 16. März hatte der sowjetische Verteidigungsminister Georgij K. Schukow die DDR besucht und dabei vor hohen Offizieren der Gruppe der sowjetischen Truppen in Deutschland eine streng geheime Rede gehalten. In ihr ging der Marschall nicht nur auf die angespannte internationale Situation ein, sondern äußerte sich auch breit über die neue Militärstrategie der Sowjetarmee. So forderte er von den sowjetischen Einheiten in der DDR, im Kriegsfall bereits nach nur zwei Tagen die Atlantikküste zu erreichen[11]. Obgleich sich der Verteilerkreis dieser wichtigen Agentenmeldung als außerordentlich klein erwies, verfügte das KGB bereits kurze Zeit später über eine Kopie des CIA-Berichtes zur Schukow-Rede in Ost-Berlin. Nur rund eine Woche nach dessen Veröffentlichung landete das Papier auf dem Schreibtisch des Chefs desKomitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR (KGB), Iwan Serow, der natürlich anwies, sich sofort auf die Suche nach dem Agenten in der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland zu machen. Die Spezialisten der sowjetischen Spionageabwehr gingen nach ersten Untersuchungen davon aus, dass der amerikanische Agent persönlich bei dem Vortrag des Marschalls anwesend gewesen war, weshalb sie die Teilnehmerlisten überprüften. Dabei stießen sie auf Popows Namen, der bereits auch in einem alten KGB-Dossier aus Wien aufgetaucht war. Aufgrund dieser Erkenntnisse wurde die Spionageabwehrabteilung der sowjetischen Geheimpolizei in Ost-Berlin damit beauftragt, sich den GRU-Offizier näher anzusehen[12].

Neue Forschungen legen den Verdacht nahe, dass dessen im April 1957 erfolgte Versetzung in die Ost-Berliner GRU-Zentrale, die sich in Berlin-Karlshorst befand, in Zusammenhang mit den Ermittlungen desKGB gegen den CIA-Agenten steht. Offenbar sollte der Verdächtige so besser durch die sowjetische Spionageabwehr kontrolliert werden können. Dessen „Bearbeitung“ in Berlin übernahm KGB-Oberst Valentin W. Swesdenkow. Als stellvertretender Chef der 8. Abteilung beim Bevollmächtigten des KGB beim Ministerium für Staatssicherheit der DDR oblag ihm seit dem 18. April 1955 die geheimpolizeiliche Überwachung der „sowjetischen Kolonie“ in Ost-Berlin, zu der selbstverständlich auch Popow gehörte. Um den Verdächtigen unter noch schärfere Kontrolle stellen zu können, wurde Swesdenkowam 2. September 1957 schließlich zum neuen Leiter der 7. Abteilung ernannt, die den Einsatz von sogenannten „Illegalen“, das heißt Agenten ohne diplomatische Absicherung, im Westen koordinierte. In dieser Funktion ergab sich die Gelegenheit, eng mit Popow zusammenzuarbeiten, da dieser in Ost-Berlin die gleichen Aufgaben für die GRU erledigte[13].  

Im Herbst 1957 verstärkte sich schließlich der Verdacht gegen Popow, da die von ihm betreute illegale GRU-Agentin Margarita Tairowakurz nach ihrer Ankunft in den USA vom FBI derart plump beschattet worden war, dass sie sich kurzentschlossen wieder in die Sowjetunion absetzte, da die Spionin annehmen musste, dass ihr Einsatz verraten worden sei. Damit bewies die Frau das richtige Gefühl, denn Popow hatte die Informationen zu ihren Einsatz an die CIA weitergeleitet, die wiederum das FBI in Kenntnis setzte. Gleichwohl fehlten dem KGB immer noch handfeste Beweise für die Zusammenarbeit von Popow mit dem Amerikanern, weshalb man den Offizier vorerst unbehelligt ließ und weiterermittelte. Der traf sich weiter in West-Berlin mit seinen amerikanischen Führungsoffizieren und übergab diesen wichtige Informationen. Gleichzeitig zog sich unbemerkt die Schlinge um den CIA-Agenten in sowjetischer Uniform immer enger. Dem KGB gelang es, jeglichen Verdacht von Swesdenkow abzulenken und den GRU-Offizier in Sicherheit zu wiegen. So zeigten sich weder Popow noch seine amerikanischen Führungsoffiziere besonders besorgt, als dieser im Spätherbst 1958 zur Berichterstattung nach Moskau befohlen wurde. Zu Weihnachten 1958 traf schließlich bei einer Deckadresse des US-Geheimdienstes in Ostdeutschland ein Brief mit einer verschlüsselten Nachricht ein, in der „ATTIC“ um ein baldiges Treffen in Moskau bat[14].

Es dürfte wohl kein Zufall gewesen sein, dass im gleichen Moment Swesdenkow ebenfalls nach Moskau reiste. Dort übernahm der Geheimdienst-Offizier am 25. Dezember 1958 die stellvertretende Leitung des Referats 2 bei der 1. Abteilung der 2. Hauptverwaltung des KGB. Dieser Abteilung unterstand – das kann an dieser Stelle kaum verwundern – die Spionageabwehr gegenüber den USA[15]. Aus diesem Faktum ergibt sich die Schlussfolgerung,dass von nun an die Fortsetzung der Spionageabwehroperation gegen Popow von Moskau aus erfolgte.  

Am 4. und 21. Januar 1959 hielt  die KGB-Überwachung des Attachés für Wirtschafts- und Verwaltungsfragen an der US-Botschaft in Moskau, Russell Langelle, dessen „zufälliges“ Zusammentreffen mit einem Oberstleutnant der Sowjetarmee fest. Der Offizier, der nach dem kurzen Kontakt mit dem amerikanischen Diplomaten im Hotel „Ostankino“ im Nordwesten der sowjetischen Hauptstadt abstieg, entpuppte sich wenig später als Pjotr Popow heraus, der nun wieder in seiner Heimatstadt Twer, damals Kalinin, lebte und immer noch beim militärischen Nachrichtendienst arbeitete[16]

Die weiter von Swesdenkow geleiteten Ermittlungen erhielten von der Spionageabwehr des KGB nun den Decknamen „Judas“.Die Agenten der Geheimpolizei beschatteten den GRU-Offizier ab jetzt auf Schritt und Tritt, lasen dessen Post, hörten sein Telefon ab und schalteten sogar die Funkaufklärung des KGB ein. Das dicht geknüpfte Überwachungsnetz der Geheimpolizei zeigte rasch Ergebnisse. Als erstes fing das KGB einen von der CIA mit Geheimtinte geschriebenen Brief an Popow ab, der direkt an seine Heimatadresse in Kalinin gerichtet war. Um die US-Diplomaten in Moskau besser überwachen zu können, spritzte ihnen das KGB regelmäßig eine chemische Substanz auf deren Schuhe, die es möglich machte, die Wege der Botschaftsangehörigen ohne engmaschige Überwachung nachzuverfolgen. Nachdem die Spionageabwehr so feststellte, dass der US-Attaché George Winters einen Briefkasten in Botschaftsnähe aufgesucht hatte, wurde dieser unverzüglich geleert und dabei das Schreiben an den GRU-Offizier entdeckt. Für die sowjetische Militärspionageabwehr erwies sich dieser fatale Fehler des US-Geheimdienstes als willkommenes Geschenk, denn den KGB-Spezialisten gelang es nicht nur, das Schreiben abzufangen, sondern sie konnten auch seinen Inhalt entziffern. Zudem verbarg der Text auch noch den Code-Schlüssel für den einseitigen Funkverkehr mit der deutschen Nachrichtenzentrale des CIA bei Frankfurt/Main, die ankündigte, künftig zweimal die Woche verschlüsselte Nachrichten an den Agenten zu senden. Wenig später schickte die CIA sogar noch einen zweiten direkten Brief an Popow, obwohl Kisevalter ja seit dem Spätherbst 1958 zumindest ahnen musste, dass dem Agenten das KGB auf den Fersen war. In dem mit Geheimtinte geschriebenen Text dankte Langley Popow für dessen Informationen zu sowjetischen Atom-U-Booten und lobte seinen Bericht zu Interna aus dem GRU-Hauptquartier in Moskau. Weiterhin stellte die CIA neue Spionageaufgaben und teilte die Termine für weitere Funksendungen aus Deutschland mit. Nachdem die Beobachtung von „ATTIC“ durch die Gegenspionage feststellte, dass der Nachrichtendienst-Offizier fleißig weiter Geheimmaterial für die CIA sammelte, trafen KGB- und GRU-Führung den Entschluss, Popow aus dem Verkehr zu ziehen und zu verhaften. Am 18. Februar 1959 wurde der Agent am Leningrader Bahnhof in Moskau festgenommen[17].                  

Da Swesdenkow und das KGB auch weiter auf die nicht besonders professionelle Vorgehensweise der CIA bei der Zusammenarbeit mit „ATTICA“ setzten, trafen die sowjetischen Spionageabwehrexperten die Entscheidung, den inhaftierten Popow für ein Doppelspiel mit seinen amerikanischen Führungsoffizieren einzusetzen[18]. Zudem wollte die GRU so Zeit gewinnen, um die durch Popow enttarnten Geheimagenten des Militärspionagedienstes sicher zurück in die Sowjetunion zu bringen. Genau einen Monat nach seiner Verhaftung übergab Popow deshalb, nunmehr in der Uniform eines Oberstleutnants der rückwärtigen Dienste, Langelle im Moskauer Restaurant „Astoria“ einen Notizblock mit Geheiminformationen und kündigte an, in Kürze als Bataillonskommandeur nach Swerdlowsk am Ural versetzt zu werden. Diese Vorgehensweise hatte das KGB bewusst gewählt, um längere Pausen beim Kontakt zwischen Popow und demUS-Geheimdienst besser begründen zu können und so den Verdacht einer Enttarnung zu zerstreuen. Von seinem US-Führungsoffizier erhielt der Agent20.000,- Rubel und neue Spionageanweisungen. Die von Popow professionell verwendeten Warnzeichen, dass er unter KGB-Überwachung stand, wurden von der CIA wohl bewusst oder unbewusst übersehen. Als zu stark erwies sich LangleysBemühen, von Popow weiter geheime Informationen über die sowjetischen Streitkräfte zu erhalten. Ende Juli 1959 erfolgte schließlich ein weiteres Treffen im „Astoria“, bei dem Popow den Amerikanern neues Agentenmaterial übergab und gleichzeitig von der CIA den Auftrag erhielt, Raketenstützpunkte der sowjetischen Streitkräfte im Ural auszuspionieren.

Ein drittes Treffen zwischen Popow und Langelle erfolgte schließlich am 18. September 1959. Hierbei gelang es dem unter KGB-Überwachung stehendem CIA-Agenten auf der Toilette des im Zentrum von Moskau gelegenen Restaurants „Aragwi“, in einem scheinbar unbeobachteten Moment eine Nachricht an seinen Führungsoffizier von der CIA zu übergeben[19].

Offensichtlich blieb die geheime Übergabe vom KGB nicht unentdeckt, denn der hatte das Restaurant verwanzt und zusätzlich unter Einsatz von Foto- und Filmtechnik überwacht: Das nächste „Geheimtreffen“ zwischen Popow und Langelle in einem Bus der Linie 107 am Morgen des 16. Oktober 1959 endete jedenfalls mit der Festnahme des US-Diplomaten und des CIA-Offiziers. Langelle wurde drei Tage später aus der Sowjetunion ausgewiesen. Für Popow ging die Agentenaffäre weniger glimpflich aus. Ein Militärgericht der Sowjetarmee klagte den Offizier wegen Spionage an und verurteilte ihn in geheimer Verhandlung am 7. Januar 1960 zum Tode. Im Juni 1960 erfolgte schließlich die Hinrichtung des ersten CIA-Maulwurfes in der GRU[20].

Der hatte den bislang streng geheimen sowjetischen Militärnachrichtendienst für die Amerikaner in ein offenes Buch verwandelt. Angeblich soll er für den US-Geheimdienst mehr als 650 GRU-Offiziere enttarnt und weitere Hinweise auf Hunderte Agenten der sowjetischen Militäraufklärung gegeben haben. Zudem lieferte Popow an seine Auftraggeber umfangreiche Informationen über Bewaffnung und Struktur der Sowjetarmee sowie zahlreiches Material zu deren Strategie und Taktik. Die Schadenseinschätzung durch die russische Seite fällt natürlich bescheidender aus. Die militärische Spionageabwehr des KGB ging davon aus, dass Popow rund 80 im Ausland eingesetzte Offiziere der GRU kompromittiert hatte, so dass diese nur noch für einen Einsatz in der Moskauer Zentrale taugten. Außerdem habe er der CIA die Namen von vier illegalen Agentenführern und 17 GRU-Quellen mitgeteilt. Ferner übergab er den Amerikanern Informationen über die Organisation des sowjetischen Militärgeheimdienstes und seine Arbeitsmethoden. Gleichwohl sei es gelungen, den Schaden durch Popow zu begrenzen, da wichtige Quellen noch rechtzeitig gewarnt oder in Sicherheit gebracht werden konnten[21].     

Ob die von Popowvor allem in West-Berlinan die CIA übergebenen Informationen das Leben des Agenten wert waren, kann wahrscheinlich nur Langley beurteilen. Bis heute haben wir keinen Zugriff auf das von ihm in die USA gelieferte nachrichtendienstliche Material. Gleichwohl beweist der Fall Popow, dass bis zum Mauerbau im August 1961 Berlin eindeutig die Hauptstadt der Spione im Kalten Krieg war.

Anmerkungen:

 


[1]Deutsches Historisches Institut, Moskau (DHI)

[2] Vgl. M.A. Alekseev – A. I. Kolpakidi – V.Ja. Kočik, Ėnciklopediavoennojrazvedki 1918-1945 gg. Moskva 2012, S. 621.

[3]Vgl. Jonathan Haslam, Near and Distant Neighbours. A New History of Soviet Intelligence. Oxford 2015, S. 184. 

[4]Vgl. Martin L. Barbourne, More on Recruitment of Soviets, in: Studies in Intelligence, Vol. 9 (1965), Nr. 1, S. 43 f.

[5]Vgl. CIA Draft Working Paper, More than the Usual Affinity for Opposite Sex, S. 1 f., auf: www.cia.gov/readingroom/docs/CIA%20AND%20NAZI%20WAR%20CRIM.%20AND%20COL.%20CHAP.%2011-21%2C%20DRAFT%20WORKING%20PAPER_0003.pdf.

[6]Vgl. Jeffrey T. Richelson, A Century of Spies. Intelligence in the Twentieth Century. Oxford/New York 1995, S. 258; John L. Hart, PyotrSemyonovich Popov. The Tribulations of Faith, in: Intelligence and National Security, Vol. 12 (1997), Heft 4, S. 44-60.

[7] Zit. nach Aleksandr Kolpakidi – DmitrijProchorov, Imperija GRU. Očerkiistoriirossijskojvoennojrazvedki, Bd. 2. Moskva 2001, S. 164; Richard H. Smith, The First Moscow Station. An Espionage Footnote to Cold War History. in: International Journal of Intelligence and Counterintelligence, Vol. 3 (1989), Nr. 3, S. 338-343.

[8] Vgl. George Bailey – Sergej A. Kondraschow – David E. Murphy, Die unsichtbare Front. Der Krieg der Geheimdienste im geteilten Berlin. Berlin 2000, S. 324 f.

[9]Vgl. Boghardt, Thomas: Covert Legions. U.S. Army Intelligence in Germany, 1944-1949, Washington D.C. 2022, S. 121.

[10] CIA Staff Conference minutes, 26.10.1951, in: Donald P. Steury (Hrsg.), On the Front Lines of the Cold War: Documents on the Intelligence War in Berlin, 1946 to 1961, Washington/D. C. 1999, S. 117 f.

[11] Vgl. CIA Meldung zur Rede Shukows, 29.3.1957, auf: www.php.isn.ethz.ch/kms2.isn.ethz.ch/serviceengine/Files/PHP/16599/ipublicationdocument_singledocument/98b5d7b2-8493-476c-af18-384824cdb251/en/570329a.pdf

[12] Vgl. Ivan A.Serov, Zapiskiizčemodana. Tajnyednevnikipervogopredsedatelja KGB, najdennyečerez 25 letposleegosmerti, Moskva 2016, S. 550 f.

[13]Vgl. Kovacevic, Filip: A New Twist in the Old Case: A Document from the Lithuanian KGB Archive and the Cold War Espionage of GRU Officer Pyotr Popov, auf: www.wilsoncenter.org/blog-post/new-twist-old-case-document-lithuanian-kgb-archive-and-cold-war-espionage-gru-officer.

[14] Vgl. Bailey /Kondraschow/Murphy, Die unsichtbare Front, S. 331 ff.

[15]Vgl. Kovacevic, A New Twist in the Old Case.

[16]Vgl. Voennajakontrrazvedka. Istorija, sobytija, ljudi, Moskva 2008. S. 179 f.

[17]Vgl. Dmitrij P. Prochov – Oleg I. Lemechov, Perebežčiki: Zaočnorasstreljany. Moskva 2001, S. 156.

[18]Vgl. Razvedka SŠA. Učebnajaposobie, pod. redakciej General-majora A.M. Gorbatenko, Moskva 1969, S. 91.

[19]Vgl. Tennet H. Bagely, Spy Wars: Moles, Mysteries, and Deadly Games. Yale 2007, S. 73-75.

[20]Vgl. Lubjanka 2. Izistoriiotečestvennojkontrrazvedki. Moskva 1999, S. 268-272.

[21]Vgl. V.M. Lur’e, - V.Ja. Kočik, GRU. Dela i ljudi. Moskva 2002, S. 535; Voennajakontrrazvedka, S. 181.