Von Bindestrichen und weniger Subtilem

West-Berliner Politik im Fadenkreuz der Ost-West-Politik

Von Bernd Matthies[1]

Wer die Komplikationen der West-Berliner Politik zwischen Weltkrieg und Wende nachzeichnen will, der kommt am Bindestrich nicht vorbei: West-Berlin, nicht Westberlin. Was kein Normalsterblicher verstand, berührte den Kern der hochbrisanten Situation der Stadt. Ohne Strich – das war die Schreibweise der DDR, wo man sich bemühte, den Gedanken an die Teilung der Stadt irgendwie verschwinden zu lassen und die westliche Halbstadt zur „selbstständigen politischen Einheit“ zu erklären, während der Ostteil als „Berlin, Hauptstadt der DDR“ gelten sollte, dem glasklaren Status aller vier Alliierten zum Trotz.

Aus diesem filigranen Material voller diplomatischer Fußangeln waren viele Kämpfe, die im Rathaus Schöneberg, dem Sitz des West-Berliner Senats, tagtäglich gefochten wurden. Und der jeweilige Regierende Bürgermeister – so der Titel für die Personalunion von Stadtchef und Länderministerpräsident - war in ihnen nicht autonom, sondern im Grenzfall den Weisungen der drei westlichen Stadtkommandanten unterworfen.

Vor allem war der Regierende in diesen Zeiten immer selbst eine Art Kommandant. Er hatte im politischen Minenfeld zu navigieren, hatte die Moral der vom Westen abgeschnittenen Bürger und ihren Glauben an eine bessere Zukunft zu stärken, durfte aber auch den Gesprächsfaden nach Ost-Berlin nie ganz abreißen lassen, egal wie heikel es im Ost-West-Konflikt gerade zuging.

Ernst Reuter, vor der Teilung der Stadt ihr Oberbürgermeister, war das Rollenvorbild für alle seine Nachfolger. Sein Auftritt vor dem Reichstagsgebäude am 9.September 1948 mit dem Kernsatz „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“, auf dem Höhepunkt der Blockade 48/49, machte ihn weltberühmt in einer Zeit, als Berlin gerade erst schrittweise den Trümmerbergen zu entwachsen begann. Sein hoher Ton spiegelte existenzielle Bedrohung, er war überzeugt, dass die alte Reichshauptstadt um jeden Preis vom Westen gehalten werden müsse, um eine weitere Expansion der russischen Kommunisten zu verhindern. Seine Rede baute absichtsvoll hohen moralischen Druck in Richtung der West-Alliierten auf.

Knapp drei Monate nach dieser Rede kam es zur politischen Spaltung der Stadt. Die SED im sowjetisch besetzten Ostteil hatte die Abwahl des ursprünglich Gesamtberliner Magistrats durchgesetzt mit der Folge, dass Friedrich Ebert, der Sohn des letzten Reichspräsidenten, für die SED zum Oberbürgermeister gewählt wurde. Der Westen konterte mit der Wahl Ernst Reuters, der - mit absoluter Mehrheit – nun ebenfalls Oberbürgermeister wurde, nur eben in seiner Hälfte der Stadt, die von den West-Alliierten besetzt war. Den Titel „Regierender Bürgermeister“ erhielt er erst mit dem Inkrafttreten der Berliner Verfassung im September 1950. Die brisanteste politische Krise seiner Amtszeit war vermutlich der Arbeiteraufstand in Ost-Berlin und der DDR am 17.Juni. Weniger Monate später starb er, noch im Amt.

1957 folgte ein Regierender Bürgermeister, der nicht politisch nicht weniger bedeutend war als Reuter: Willy Brandt, damals SPD-Bundestagsabgeordneter. Immer, wenn später die Stadt an der vermeintlichen Provinzialität seiner Nachfolger zu verzweifeln drohte, galt Brandt als leuchtendes Vorbild, seine Wahlergebnisse setzten später unerreichbare Zielmarken – allerdings basierten seine und zweite Amtszeit bis 1963 auf einer SPD-CDU-Koalition, dann trat die FDP ein.

Eine erste harte Prüfung hatte der Brandt-Senat 1958 mit dem Chruschtschow-Ultimatum zu bestehen: Der russische Parteichef verlangte, West-Berlin zur entmilitarisierten „Freien Stadt“ zu erklären und der DDR die volle Kontrolle über die Zufahrtswege zu überlassen. Falls es nicht zu Verhandlungen der Besatzungsmächte komme, werde die Sowjetunion mit der DDR einen separaten Friedensvertrag schließen – das war das Ultimatum. Die Verhandlungen unter den Außenministern fanden statt, scheiterten aber an der Unvereinbarkeit der Grundüberzeugungen.

Hintergrund des Ultimatums war die immer weiter zunehmende Fluchtbewegung aus der DDR in Richtung West-Berlin. Die kommunisttische Seite stieße 1960 eine ganze Reihe von Drohungen gegen Bundestagssitzungen und Tagungen der Landsmannschaften in West-Berlin aus, da sie angeblich gegen den besonderen Status der Stadt verstoßen würden.  Für einige Tage wurde sogar ein Passierscheinzwang für Bundesbürger eingeführt. Als Reaktion kündigte die Bundesregierung im September 1960 das Interzonen-Handelsabkommen, was Ost-Westhandelserleichterungen garantierte und  über zehn Prozent der Gesamtimporte der DDR betraf; der wirtschaftliche Druck stieg weiter an.

Letztlich schaffte erst der Mauerbau 1961 auf brutale Weise klare Verhältnisse. Dieser massivste Einschnitt der Berliner Nachkriegsgeschichtefiel in Brandts Amtszeit, ebenso die gefährlichste Zuspitzung des Kalten Kriegs in Berlin, als sich am 27.Oktober 1961 sowjetische und amerikanische Panzer 16 Stunden lang am Grenzübergang Checkpoint Charlie gegenüber standen. Das Ende dieser Phase wird gemeinhin mit dem Besuch von John F. Kennedy 1963 verbunden, der in seiner berühmten Ich-bin-ein-Berliner-Rede klarmachte, dass die USA Berlin nicht aufgeben würden.

Die politische Lage West-Berlins wurde nach der Beruhigung der Lage 1963 vom zähen Ringen um eine Art Normalisierung geprägt. Die Mauer sollte auf dem Verhandlungsweg so durchlässig wie möglich gemacht werden. Erster Schritt war das Passierscheinabkommen vom Dezember 1963, das rund 700000 West-Berliner nutzten, um über Weihnachten Verwandte im anderen Teil der Stadt zu besuchen; rund 1,2 Millionen Grenzübertritte wurden gezählt.

Aus den Protokollen und Erklärungen der Verhandler und den Verfahrensabläufen ging hervor, welch diplomatisches Hürdenlaufen diesem Ergebnis vorausgegangen war. Das Hauptproblem lag, wie immer, darin, dass die West-Seite auf der Geltung des Viermächte-Status für die gesamte Stadt beharrte, während der Osten seine Position von „Ostberlin“ als Hauptstadt der DDR durchzusetzen versuchte. Doch der Westen setzte zumindest durch, dass die Vereinbarung von beiden Seiten nicht als zwischenstaatliches Abkommen behandelt wurde, sondern als Verwaltungsvereinbarung. Das führte zu so kuriosen Regelungen wie der, dass die Sachbearbeiter der Passierscheinstellen keine staatlichen Hoheitsträger sein durften, sondern (zumindest offiziell) als Mitarbeiter der DDR-Post auftraten. In Wirklichkeit dirigierte sie die Stasi.

Von 1963 bis 1966 gab es insgesamt vier Passierscheinabkommen. Dann setzte sich auf der Ost-Seite die Erkenntnis durch, dass auf diesem Weg weder die Anerkennung der DDR als Staat noch die Schrumpfung West-Berlins auf den Status einer selbstständigen politischen Einheit zu erreichen war. Es blieb bei einem kleinen Besuchskorridor in dringenden Familienangelegenheiten, bis 1971 das Viermächteabkommen eine grundsätzliche Besuchsregelung ermöglichte. An der grundsätzlichen Ungleichbehandlung von „Westdeutschen“, die mit ihrem Personalausweis oder Pass immer in die DDR einreisen durften, und den West-Berlinern mit ihrem „behelfsmäßigen Personalausweis“, die immer vorher Besucher-Anträge stelle mussten, blieb es aber bis zum Mauerfall.

Bundespolitisch gewann mit dem Wechsel Brandts ins Bonner Kanzleramt die Idee des „Wandels durch Annäherung“ an Bedeutung, während West-Berlin unter Aufsicht weniger strahlkräftiger SPD-Bürgermeister wie Heinrich Albertz und Klaus Schütz von den Studentenunruhen durchgeschüttelt wurde. Allerdings gelang es den moskautreuen Kommunisten der Sozialistischen Einheitspartei Westberling (SEW)und ihrer Tarnorganisationen kaum, Einfluss auf die Studenten zu gewinnen, deren radikale Vertreter lieber auf trotzkistische oder maoistische Art vom Ende des Kapitalismus träumten und die SED-Linie als reaktionär verachteten.

1969 begannen die heiß umstrittenen Verhandlungen, die schließlich 1970 mit dem Moskauer Vertrag abgeschlossen wurden – der Kampf um „Brandts Ostverträge“, die auf der rechten Seite des Parlaments als Ausverkauf deutscher Interessen und „Verzichtspolitik“ gesehen wurden, weil sie auch die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze und der Demarkationslinie zwischen Bundesrepublik und DDR als faktische Staatsgrenze umfassten. Die Ratifizierung des Moskauer Vertrags wurde von der Bundesregierung an den Abschluss eines separaten Abkommens über Berlin gebunden.

Die Verhandlungen über das Berlin-Abkommen der Vier Mächte  dauerten bis 1971, die die zentrale Frage der Zuständigkeit der West-Alliierten auch für Ost-Berlin in komplizierte Formelkompromisse eingefügen musste. Das Viermächteabkommen über die Stadt wurde 1971 unterzeichnet und trat 1972 in Kraft. Erstmals garantierte darin die russische Seite die Sicherheit der Transitwege und akzeptierte die faktische Zugehörigkeit West-Berlins zur Bundesrepublik, ließ sich aber auch festschreiben, dass die Halbstadt „wie bisher kein Teil“ dieses Landes sei. Auch blieben semantische, heute kaum verständliche Streitigkeiten über die Übersetzung des Vertragstextes. Waren nun Bindungen oder nur Verbindungen zu Westdeutschland geregelt?

Auf deutscher Ebene wurde das Vertragspaket schließlich im Dezember 1972 durch den „Grundlagenvertrag“ abgeschlossen. Verhandlungsführer Egon Bahr war skeptisch: „Bisher hatten wir keine Beziehungen, jetzt werden wir schlechte haben – das ist der Fortschritt“. Weitere Abkommen beispielsweise über die Einrichtung „Ständiger Vertretungen“ und den Transport von West-Berliner Hausmüll in die DDR folgen später. 

 Für Willy Brandt gipfelten die Verhandlungen um die Ost-Verträge im Friedensnobelpreis 1971, die Berliner in beiden Stadthälften konnten sich zumindest über eine Beruhigung und Stabilisierung ihrer Lebenssituation freuen. Allerdings änderte sich nichts am scharfen Grenzregime Ost-Berlins, das versuchte „Republikflucht“ weiterhin mit hohen Strafen ahndete; am Mauerstreifen wurde weiterhin tödlich geschossen. Egons Bahrs Skepsis maß sich immer wieder an der Realität, die trotz der Vertragslage immer wieder von diplomatischen Auseinandersetzungen geprägt war wie beispielsweise dem Streit um die Ansiedlung des neugeschaffenen Umweltbundesamts in West-Berlin 1973; ersichtlich mühten sich beide Seite darum, die komplizierten Vertragsklauseln auf ihre Belastbarkeit zu prüfen.

Die späten 70er Jahre waren auch in Berlin geprägt von RAF-Terrorismus und der „bleiernen Zeit“. Im Februar 1975 wurde der Berliner CDU-Politiker Peter Lorenz mit dem Ziel entführt, sechs inhaftierte Terroristen der „Bewegung 2.Juni“ freizupressen. All das hatte vermeintlich nichts mit der DDR zu tun. Erst nach der „Wende“ wurde aufgedeckt, dass die Stasi vielfältige Kontakte in die Terror-Szene unterhalten hatte und oft besser im Bild war als westliche Ermittler. Zehn international gesuchte Terroristen wie Inge Viett und Silke Maier-Witt wurden unter Aufsicht der Stasi-Terrorabwehr mit neuer Identität für ein Leben in der DDR ausgestattet. 

Die West-Berliner Wahlzettel waren kurz in diesen Jahren. Die SPD konnte sich den Koalitionspartner aus CDU und FDP aussuchen, sonst stand nur eine wesentliche Alternative zur Wahl, nämlich die SEW, die schon in ihrem Namen „Sozialistische Einheitspartei Westberlins“ die Abhängigkeit von der SED deutlich machte. In die Nähe der Fünf-Prozent-Hürde kam sie allerdings nie - das schafften erst viel später die rechtsaußen angesiedelten, 1987 gegründeten „Republikaner“, die von 1989 mit Fraktionsstärke ins Abgeordnetenhaus gelangten und nach Mauerfall und Zerbrechen des kurzlebigen Momper-Senats 1991 wieder gehen mussten.

1981 war das Jahr des politischen Umbruchs in West-Berlin. Dietrich Stobbe (SPD), der vier Jahre als Regierender Bürgermeister weitgehend glanzlos zugebracht hatte, scheiterte mit dem Versuch, sich mit einer Senatsumbildung Luft vor Skandalvorwürfen zu verschaffen - an Heckenschützen in seiner eigenen Partei. Mittelmaß und Provinzialismus der Berliner Sozialdemokraten wurden immer deutlicher. Stobbe trat zurück und machte Platz für Hans-Jochen Vogel, der als Übergangskandidat bis zur Neuwahl amtierte, danach aber Platz machen musste für die CDU und deren wirkmächtigen Kandidaten Richard von Weizsäcker – 35 Jahre SPD-Herrschaft waren zu Ende.

Dies wirbelte die Berliner Verhältnisse durcheinander, tangierte aber das Verhältnis zu Ost-Berlin nicht. Weizsäcker setzte die Grundlinien der Ostpolitik konsequent fort. Auf ihn folgte 1984 Eberhard Diepgen, der als blass galt, sich aber als detailversessener Taktiker profilierte und die Beziehungen nach Ost-Berlin auf kommunaler Ebene weiter verbesserte. Im Verlauf des Stadtjubiläums 1987, bei dem beide Stadthälften ihre weltpolitische Bedeutung zu unterstreichen suchten, kam es zu gegenseitigen Besuchen der Bürgermeister: Diepgen und sein Amtskollege Erhard Krack trafen sich am Rande eines Konzerts in der Ost-Berliner Gethsemane-Kirche und schließlich zu einem Gespräch in der Marienkirche, ebenfalls in Ost-Berlin.

Der Geist der Wende war zu diesem Zeitpunkt schon mit Händen zu greifen, und selbst die Mauer wurde zum Schauplatz eher farcenhafter Darbietungen. Berühmt wurde die Demonstration auf dem Lenné-Dreieck, einem Stück Ost-Berlin am Potsdamer Platz, das aber vor der Mauer lag und im Mai 1988 im Zuge eines Gebietstauschs an West-Berlin übergeben werden sollte. Kurz vor Gültigkeit des Abkommens wurde das Gelände von linken Aktivisten besetzt. Am Abend des 25.Mai erschienen Ost-Berliner Grenzpolizisten durch eine Tür und wiesen den Besetzern ein Gelände an, auf dem diese ein Hüttendorf errichteten.

 Die West-Polizei räumte das Dreieck mit Inkrafttreten des Vertrags am 1.Juli, woraufhin viele der Besetzer als „Mauerspringer“ in den Ostteil flüchteten. Sie wurden im Todesstreifen von Lastwagen eingesammelt und in einer Betriebskantine mit Frühstück bewirtet, bevor sie den Rückweg in den Westen antraten – ganz offensichtlich hatte es im Vorfeld Absprachen mit der Absicht gegeben, eine Erste „Massenflucht“ von West nach Ost zu inszenieren. Eine Absurdität, der im Februar 1989 ein letzter Mauermord folgte: Am Britzer Kanal wurde Chris Gueffroy auf den Flucht nach West-Berlin erschossen, ein Freund schwer verletzt.

Bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 1989 zog der Wind der Veränderung auch durch den Westen. Walter Momper von der SPD brachte mit der Alternativen Liste eine Mehrheit zustande, löste Diepgen ab und wurde so als „Mann mit dem roten Schal“ zur Symbolfigur des Mauerfalls und der wieder politisch vereinten Stadt. Doch sein Senat zerbrach schon Ende 1990 an der Räumung besetzter Häuser in der Mainzer Straße, in Ostberlin in Friedrichshain. Und so war es dann nach erneuter Wahl wieder der West-Berliner Eberhard Diepgen, der die politisch abgeschlossene Vereinigung der beiden Stadthälften in geduldiger, intensiver Kleinarbeit setzen musste. Der Bindestrich hatte seine weltpolitische Brisanz da schon längst verloren. 


[1] Redakteur beim Tagesspiegel