„Der Insulaner verliert die Ruhe nicht.“

Westberliner Erfahrungen der Mitbegründerin der Frauenzeitung "Courage"

Von Sibylle Plogstedt

Hirsche, so wurde beobachtet, überqueren die tschechische Westgrenze nicht. Von klein auf haben sie aufgenommen, dass es gefährlich ist, sich der ehemaligen Todeszone zu nähern. Stacheldraht und Selbstschussanlagen gingen ihnen in Fleisch und Blut über. Selbst wenn diese längst demontiert sind. Sind Menschen ähnlich geprägt? Nicht nur die Menschen der DDR waren eingesperrt, wir in Westberlin waren es auch. Sind wir, die Westberliner*innen, durch die Teilung in Zonen auf diealte Grenze fixiert? Wurden wir Westberliner*innen zu einem Stamm, der nicht anders kann? Und wenn ja – wie lange hält das wohl an?

Offenbar hatte die Grenze eine bleibende Wirkung. Alt-Westberliner ziehen ungern in den Osten. Und wenn sie es dennoch einmal taten, kehrten sie gern ins alte Westberlin zurück. Der Osten der Stadt tickt einfach anders. Jede*r liebt seine bzw. ihre Bubble. Ausgenommen sind für mich die Ost-68er, die Oppositionellen, meine Lieblingsfreunde und Freundinnen im alten Osten. Bei denen habe ich gelernt, wie die ticken.

Doch von Anfang an, von 1945 an: Geschichten von Vergewaltigungen, von Flucht der Frauen durch Keller und über Balkone, wurden in meiner Kindheit jahrelang erzählt und haben sich eingebrannt. Als Kind habe ich davon mehr mitbekommen, als meine Eltern meinten.

Nach dem Horror der Eroberung Berlins für die Zivilbevölkerung kam die Teilung der Stadt unter den Siegermächten.  Es kam zur Blockade samt der Luftbrücke. „Schaut auf diese Stadt“, schallte 1948 die Stimme des Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter. Das grüne Auge des Röhrenradios fixierte uns magisch. An das Brummen der Transportflieger erinnere ich mich nicht. Auch nicht daran, dass Westberlin von der Energie abgekoppelt wurde. Wohl aber an den ungewohnten Geschmack von rotem Cheddar-Käse aus den Care-Paketen. Auch Corned Beef muss in den Care-Paketen gewesen sein. Ab und zu verschaffe ich mir bis heute die Geschmackserinnerung an das Dosenfleisch.

Auf die Trennung war niemand vorbereitet. Georg Dertinger, der erste Außenminister der DDR, wohnte mit seiner Familie noch in der Westberliner Kantstraße. Meine Großtante Mieze, die in Pankow eine Villa bewohnte, konnte uns in Ruhleben besuchen und ich fuhr mit meiner Großmutter in weißen Kniestrümpfen und schwarzen Lackschuhen zu ihr, damals noch mit der U 1. Mein Onkel, an der Uni in Jena beschäftigt, kam regelmäßig zu uns, zu seinen Eltern, seinen Schwestern und mir.  Er konnte zaubern. Es waren Bonbons, die er mir jedes Mal aus den Ohren zog. Meine Ferien durfte ich in Jena mit seinen Töchtern aus zweiter Ehe, meinen Cousinen, verbringen. Während er in den Osten ging, waren sein Sohn und seine erste Frau im Westen geblieben. Ihre Ehe zerschellte an seiner Anpassung an den Zonenstaat. Mein Zauber-Onkel war Kommunist geworden.

Im Osten endete das Paradies früh. Die Familie des Außenministers Dertinger musste 1948 nach Kleinmachnow ziehen. Ihr Stammsitz im Westen kam drüben nicht gut an.  Angeblich soll er „das Eindringen bewaffneter faschistischer Banden über die Demarkationslinie“ der DDR organisiert haben. 1953 wurde er verhaftet, seine Geständnisse durch Folter erpresst. Und dass schon ein knappes halbes Jahr vor dem 17. Juni. Dertingers Ehefrau Maria, die Sekretärin, die Köchin, der Fahrer wurden gleich mit eingebuchtet. Seine nicht volljährigen Kinder kamen in Jugendhöfen und ähnlichen Einrichtungen unter. Der jüngste Sohn zog das besondere Los einer linientreuen Stasi-Familie.

Als Westberlinerin war für mich mit etwa zehn Jahren eine Kinderlandverschickung dran. In St. Peter Ording sollte ich im Kinderheim Goldener Schlüssel aufgepäppelt werden. Sechs Wochen lang. Mit viel Heimweh.

An der Grundschule gab Herr Schubert, unser Musiklehrer, im Oktober 1956 eine traurige Sondervorstellung. Über seine Musik prägte sich mir der ungarische Aufstand ein. Und dessen Niederschlagung. Den Aufstand 1953 hatte ich noch nicht wahrgenommen. Fernsehen konnten wir da noch nicht.

Als wäre alles gut, fuhren wir weiterhin an die Ostsee, meine Mutter mietete den Strandkorb, ich baute Sandburgen. Das ging so bis … bis im Juni 1961 Ulbrichts legendäre Lüge erklang: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Wir waren überrascht, als sie zwei Monate später dann doch gebaut wurde. Stacheldraht wurde im Gegenzug vor die Eingänge zur S-Bahn am Olympiastadion gerollt, die Bahn gehörte zur Reichsbahn und sollte nun boykottiert werden. Auf meinem Rad fuhr ich den Berg zum S-Bahnhof ‚Reichssportfeld‘ hoch, guckte, stand ratlos, kehrte–immer noch ratlos – wieder um.

Zwei Jahre später verkündete John F. Kennedy, dass alle freien Menschen Bürger Berlins seien, egal wo sie lebten. Und er als freier Mann stolz sage: „Ich bin ein Berliner!“

Wir wurden „Insulaner“, wie uns das Kabarett des Rias mit Günter Neumann am Klavier nannte. „Der Insulaner verliert die Ruhe nicht“, klang es bis 1964 aus dem Sender. Und „er liebt kein Getue nicht...“

Das Leben im inneren Kreis der Mauer schweißte zusammen. Wenn sich in Westdeutschland zwei Autos mit B-Kennzeichen begegneten, hupten sie sich an.  Ein Gruß, der signalisierte: Wir halten durch, wir schaffen es. Gemeinsam. Wie stolz waren wir auf unsere Stadt!

Immerhin bleib uns etwas Grün. Der Grunewald, das Havelufer und die Spreekanäle. Mit dem Paddelboot ging es von Pichelsdorf bis zum Wannsee und auch zur Pfaueninsel. Der Grunewaldsee, der Hundebadesee, lud zum Spaziergang ein. Und später der Halensee zum Nacktbaden.

Wir wohnten an der Grenze Zehlendorfs zu Klein Machnow, wo alle Straßen ein Ende hatten und selbst der Weg hinter unserer Reihenhauszeile in Nichts führte. Rosablühende japanische Kirschen beschönigten die Aussicht. Eine Idylle, keine Idylle. Eines Nachts peitschten Schüsse durch die Reihenhaussiedlung. Hundegebell. Scheinwerfer, die den Todesstreifen ausleuchteten. In Schlafanzügen tauchten die Nachbarn auf, versuchten sich zu orientieren. Bis eine Stimme die erlösende Nachricht rief: „Sie sind drüben!“ Die Flüchtlinge hatten es geschafft. Aufgewühlt kehrten wir in die Häuser zurück. Der Insulaner verliert die Ruhe nicht… Nur ja nicht.

Mit der Mauer blieben nur wenige Schlupflöcher in den Osten. Zu meinem Zauberonkel gab es eines. Inzwischen war er Professor für Geschichte in Leipzig. Die Messen machten auch Familienbesuche möglich. Sogar mein Stiefvater fuhr mit.

In der DDR entspannte sich die Lage wohl etwas. 1964 wurde Georg Dertinger von Walter Ulbricht begnadigt. Auch seine Familie kam frei. Ein klareres Zeichen für seine Unschuld gab es nicht. 

Das Eingeschlossensein dauerte, ein Ende nicht absehbar. Als Ausweg galten die Interzonenstrecken. Am Grenzposten wurden Spiegel unter jedes Auto geschoben, ob sich nicht ein Flüchtling darunter versteckte.

Dann – 18 Monate nach dem Bau der Mauer – ein politisches Geschenk. Das erste Passierscheinabkommen. Westberliner durften ihre Verwandten wieder sehen. Meine Eltern beantragten sofort die Genehmigung für Ostberlin. Unser Ziel: Ein Verwandter, der aus dem Westen in den Osten gewechselt war. Zwei Jahre vor dem Abitur fuhr ich mit. Abkommen um Abkommen ging das so weiter. Drei Abkommen waren es insgesamt.

Westberlin wurde zum Schmelztiegel, in dem Extreme schnell hochkochten. Die Abgeschiedenheit machte es möglich. Fakten kippten in ihr paradoxes Gegenteil. Westberlin ein Hort von Agenten? Völliger Quatsch. Wir kennen uns doch alle. Solche Verdächtigungen waren gewiss nur politische Hysterie. Auch die war nicht ausgeschlossen.

Mit der Mauer wurde Marx verpönt. Warum eigentlich? Als Gruppe von Schülern und Schülerinnen ließen wir uns das nicht gefallen. Statt in der Kirche trafen wir uns sonntags um zehn bei einem Klassenfreund und lasen „die Akkumulation des Kapitals“ und „Lohn, Preis, Profit“. Dass ein Anhänger der SEW uns in diese Gruppe hineinmanövriert haben könnte, undenkbar! Es bestätigte sich Jahrzehnte später.

Voller Argwohn nahm die Lehrerschaft die neuen sozialkritischen Töne in ihren Klassen wahr. Fragen? Kritische? War man nicht gewohnt. Wir Schüler und Schülerinnen fanden, die Erwachsenen hatten zu viel aus der NS-Zeit zu verbergen. Die war doch gerade mal 15 oder 17 Jahre her, gerade so lange wie wir alt waren. Nach Aufsätzen korrigierte meine Deutschlehrerin: Schreib nicht „kriegen“, schreib „bekommen“. Immerhin.

Lehrer wie Eltern hatten die Zerschlagung des Nationalsozialismus nicht einmal in Ansätzen aufgearbeitet. Und verdeckten die Familiengeschichte wie die politische mit Schweigen. Systematisch fingen wir an, gegen jedes Verheimlichen zu verstoßen. Und weil wir nach der Schule gemeinsam Kaffee trinken gingen, hefteten die Lehrer*innen uns das Etikett „Eduschisten“ und „Salonkommunisten“ an.

Und der Osten, der den Widerstand gegen die NS-Herrschaft für sich reklamierte? Über die eigene Beteiligung schwieg er. Die kam auch im Westen lange nicht vor.

2. Juni 1967. Vor der Westberliner Oper Demonstrationen gegen den Schah von Persien, der die demokratische Opposition im Iran niedergeschlagen hatte. Die Polizisten drängten uns gegen den Bauzaun hinter uns. Ich war mittendrin. Die Polizei drängte, stieß in die Menge wie in eine Leberwurst, die an beiden Enden platzen sollte. Am Rande der Demo wurde der Student Benno Ohnesorg von dem Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen. Jahrzehnte später kam heraus, dass er für die Stasi arbeitete. Das hätten wir nicht geglaubt, wenn wir es damals erfahren hätten. Der Osten war ein blinder Fleck und blieb es für viele. Dabei reisten wir längst mit westdeutschen Pässen in die Hauptstadt der DDR.

Aufgewühlt von dem Tod Benno Ohnesorgs fuhr ich zu unserem Ostberliner Verwandten seit Passierscheintagen, und klagte ihm den Verstoß gegen die Freiheit im Westen ein. Mit meinen Eltern konnte ich über so etwas nicht reden.

Meine Mutter sagte mir, mein einstiger Zauberonkel hätte extra Kontakt zu dem DDR-Verwandten aufgenommen und ihm gesagt, er solle mich ja in Ruhe lassen. Kurz nach der Pubertät missverstand ich die Warnung. Der Kontakt zum Osten hatte für mich keine politische Dimension.

Immer mehr Studentinnen und Studenten schlossen sich der außerparlamentarischen Opposition an. Wir waren gegen den Vietnam-Krieg. Dass unsere Freiheit in Vietnam verteidigt würde, wie uns Politiker und Springerpresse nahelegten, wer wollte das glauben? Vietnam war so weit ….

Dass wir unser Wissen über den Vietnamkrieg aus internationalen westlichen Quellen bezogen hatten, fiel uns nicht auf. Dabei wäre es ein guter Beweis für die Pressefreiheit gewesen.

Ja aber die Springerpresse! "Schaut Euch diese Typen an!" Jagte es in großen Bildlettern über die Boulevardseite. Als einer der so von Bild Verhetzten auf Rudi Dutschke schoss, brannten die Lieferwagen des Springerkonzerns. Mitarbeiter des Westberliner Verfassungsschutzes sollen vor Ort gesehen worden sein. Dutschke überlebte, wurde aber nie wieder gesund. Aber er versuchte Kontakt zum Täter aufzubauen, als dieser im Gefängnis saß. Um ihm zu vergeben.

Brauchte es damals wirklich nur noch den einen Funken, um einen Flächenbrand zu entzünden, um in Westberlin eine Revolution auszulösen? Manche glaubten daran, gründeten die RAF, die Rote-Armee-Fraktion. Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Horst Mahler und Gudrun Ensslin sahen in CheGuevarra ihr Vorbild. Che scheiterte, die RAF ebenso.

Anders Prag 68. Die östlichen 68er blieben bei der Gewaltlosigkeit selbst dann noch, als die russischen Panzer den Prager Frühling erstickten und etwa 120 Menschen starben. Plakate, Rundfunksendungen aus dem Untergrund, Demonstrationen blieben die Mittel des Widerstands. Und Arbeiter- und Studentenräte koordinierten den Widerstand.

Auch diesmal informierte ich meinen Ostberliner Verwandten, meinte, Vertrauen zu ihm haben zu können. Er war ja ein Verwandter. Wenn ich durch Ostberlin nach Prag fuhr, besuchte ich ihn. Auch dann noch, als sich unsere Situation in Prag verschärfte, unsere oppositionelle Gruppe um meinen Partner Petr Uhl in den Untergrund gedrängt wurde, als die gerade erst erkämpfte Freiheit Stück um Stück zurückgedreht wurde. 

Als ich nach der Einheit Zugang zu Teilen meiner Stasiunterlagen bekam, erfuhr ich, dass mein Verwandter der Stasi berichtet hatte, wie sehr ich mich seit dem Einmarsch in Prag verändert hätte. Dass er mich, wenn ich von ihm nach Prag weiterfuhr, zur S-Bahn brachte, sich dann aber sogar in einen anderen S-Bahn Waggon setzte, um zu sehen, ob ich wirklich zum Flughafen fuhr. Mich machte das sprachlos. 

Nach meiner Freilassung nach anderthalb Jahren Haft in Prag schlug der Verwandte mir vor, ich solle eine Gruppe mit Ostberliner Literatinnen gründen. Die könnte bei ihm tagen. Ich tat das einzig Vernünftige. Ich meldete mich nicht mehr bei ihm. Aus den Akten geht hervor, dass er sich gegenüber seinem Führungsoffizier rechtfertigen musste: Er könne ja nichts dafür, wenn ich einfach nicht zu ihm käme.

Nach Ostberlin durfte ich weiterhin. Aber jedes Mal musste ich im Bahnhof Friedrichstraße alle Taschen auspacken, und habe mindestens eine Stunde in einem fensterlosen Raum allein warten müssen. Manchmal war ich so wütend, dass ich den Grenzern meinen Koffer vor die Füße kippte. Wenn ich im Transit nach Dänemark fuhr, dauerten die Kontrollen so lange, dass ich die Fähre verpasste und über Schweden ausreisen musste.

War ich in Westberlin ohne Stasibeobachtung? Wahrscheinlich nicht. Ebenso wenig wie durch den Verfassungsschutz. MeinenForschungsauftrag im Osteuropa-Institut verlor ich durch ein Berufsverbot. In Westberlin war ich nach Wolfgang Lefevre die zweite, die ihre Stelle an der Universität verlor. Bis heute suche ich noch die Antwort darauf, welcher Geheimdienst federführend zu meinem Berufsverbot beigetragen hat.

Immerhin bekam ich unter der rotgrünen Landesregierung Akteneinsicht beim Verfassungsschutz. Die beiden Beamten, die mich jahrzehntelang unsichtbar begleitet und alles mitgeschrieben hatten, was ich im Audi Max oder anderen Hörsälen von mir gab, saßen vor mir und drängten: „Schneller, schneller!“ Erst als ich drohte, die Akteneinsicht abzubrechen, hörten sie damit auf.

1975/1976 ein Neuanfang. Ich ließ die organisierte Linke hinter mir und wandte mich der Frauenbewegung zu. Mit einer Gruppe aus dem Berliner Frauenzentrum gründete ich 1976 die ‚Berliner Frauenzeitung Courage‘ in der Bleibtreustraße.

Wir berichteten über die polnischen Frauen von Solidarnosc, über die Frauen der Charta 77 und über den von religiösen Russinnen gegründeten Almanach ‚Maria‘. Selbst konnte ich nicht zu den Frauen, ich hätte sie und mich gefährdet. Als die Opposition sich in Ostberlin rührte und die ‚Frauen für den Frieden‘ gegründet wurden, hielt eine Courage-Redakteurin Kontakt und schrieb. Auf dem Courage-Cover: Bärbel Bohley.

Jedes Überqueren der Grenzen von Courage-Frauen wurde zentral registriert. Die Akten der Stasiunterlagenbehörde zeigten später, dass selbst Verwandte von Courage-Redakteurinnen beobachtet wurden. Natürlich gab es auch eine Stasi-Zuträgerin in unserer Redaktion. Was sie berichtete, ist mir unbekannt.

Auch die Berliner Mauer war Thema in unserer Zeitung. Eine Courage-Autorin beschrieb die Mauer als „bestverschwiegene Immobilie“. Obwohl am Todesstreifen nach wie vor mit Hunden patrouilliert und auch geschossen wurde, spielte die Mauer in der offiziellen Politik eine immer geringere Rolle. An die Einheit glaubte kaum jemand. Zwei Ausnahmen: Sabine Zurnühl und ich, beide Mitbegründerinnen der Courage, überlegten, eine Gruppe „Frauen für die Wiedervereinigung“ zu gründen. Es blieb beim Gedankenspiel, zeigt aber, dass neues im Entstehen war.

Ausgerechnet die RAF bzw. ihre Nachfolgegruppen flohen in die DDR, nachdem ihre Gründer*innen in Gefängnissen umkamen. In der DDR erfanden sie das kleinbürgerliche Leben neu. Ihre Todesangst im Westen machte den Wandel möglich. Die DDR bot ihnen zeitweise eine Sicherheit, zumindest bis zur Einheit. Im Westen wurde das Asyl in der DDR von Sympathisanten wie von Angehörigen unter der Decke gehalten.   

Acht Jahre lang gab es die Courage. Unser Blatt bildete ein Gegengewicht zu Alice Schwarzers ‚Emma‘. Nicht zuletzt in der Frage, ob Frauen in die Bundeswehr sollten. Westberlin war ein Hort der Wehrdienstverweigerer. Sollten Frauen den Dienst an der Waffe künftig extra verweigern müssen?

Das Ende der Courage 1984 läutete das Ende meines Lebens in West-Berlin ein. Ich fand keine passende Stelle. Da wurde es eng in der Stadt. Wenn ich in Berlin landete, kam mir die Häuser in Tegel vor wie die Steine des jüdischen Friedhofs in Prag. Einer lag über dem anderen. In Berlin sammelten sich die Scherben der Erinnerung, eine über der anderen.

Für einen Neustart brauchte ich ein unbelastetes Umfeld. Also wechselte ich nach Bonn zum „Vorwärts“. Und arbeitete danach viele Jahre freiberuflich - für den WDR und die Hans-Böckler-Stiftung.

Als 1989 die Mauer fiel, feierte ich mit am Brandenburger Tor. Und blieb trotzdem in Bonn. Die alte Angst vor der Stasi nahm eine neue Form an. Die Bewegungsfreiheit in Berlin galt nun ja auch für die, die mich bisher bedroht hatten. Ungehindert durften Stasileute nun in den Westen. Offenbar hatten wir im Schatten der Mauer Schutz gefunden. Viele Häftlinge aus Osteuropa und der DDR, die im Westen lebten, teilten dieses Gefühl.

Und die Dertingers? Was wurde aus denen? In Bonn lernte ich Rudolf Dertinger, den ältesten Sohn von Georg Dertinger, kennen. Er lebte dort, auch seine Mutter Maria. Als Bonn den provisorischen Hauptstadtstatus aufgab, ging Rudolf Dertinger nicht mehr nach Berlin zurück. Die innere Grenze blieb. Fast wie die für die Hirsche.

In der Hauptstadt merkt man davon nicht viel. Die Völkerwanderung hat noch nie vor Berlin Halt gemacht.