Hilfe für Häftlinge in der DDR

Von Bernd Lippmann1

Zwar war der sogenannte Freikauf politischer Häftlinge aus der DDR öffentlich bekannt, jedoch war es in vielen Fällen unklar, wen diese Regelung betreffen kann und sollte. Seit Anfang der 1960er Jahre wurden Häftlinge aus der DDR durch die Bundesrepublik „freigekauft“. Also: Die DDR erhielt geldwerte Leistungen, zeitweise auch Geld direkt, dafür verzichtete sie auf einen Teil ihres Strafanspruchs. Natürlich spielt hier die Definition des Politischen eine Rolle, das soll hier aber nicht problematisiert werden. Jedenfalls, Grundlage war für die Bundesrepublik ihre Auffassung zum Staatsbürgerschaftsrecht, dass alle Deutschen im Sinne des Staatsbürgerschaftsgesetzes von 1913 umfasste. Hier soll vor allem auf zwei Initiativen Bezug genommen genommen werden, die sich für die Situation der Gefangenen in der DDR nicht nur interessierten, sondern diese auch unterstützten. Wie sah eine solche Unterstützung aus? Hier werden Hannes Schwenger mit seinem „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“ und Melanie Weber, die sogenannte Häftlingsbotin, beleuchtet.

Schutzkomitee ‚Freiheit und Sozialismus‘

Der 1941 in Meinungen geborene Literaturwissenschaftler und Gewerkschafter Dr. Hannes Schwenger gründete im Jahre 1976 das „Schutzkomitee Freiheit und Sozialismus“. In Berlin war er durch seine Mitarbeit im linken Nachrichtenblatt „Berliner Extradienst“ bekannt. Er engagierte sich zunächst für die Enteignung von Axel Springer, verfasste später aber Texte für dessen Zeitungen. Er konnte für sein Komitee viele prominente Unterstützer gewinnen, sodass es wirkmächtig wurde. Das heißt hier vor allem, dass er in der DDR von der Stasi wahrgenommen und „bearbeitet“ wurde. Ausgangspunkt für die politische Arbeit des Komitees war die Unterstützung für den in der DDR inhaftierten Psychologen Jürgen Fuchs. „Es geht um gefährdete Bürger der DDR“, war der Ansatz seiner, also Schwengers, Organisation. Erstunterzeichner waren z.B. der Theologe und zeitweilige Berliner Bürgermeister, Heinrich Albertz, die Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt, Heinrich Böll, der Jurist Otto Schily und die Publizistin Alice Schwarzer.

Jürgen Fuchs schrieb später: „Das Schutzkomitee war eine Hilfe. Es war Solidarität im besten Sinne. Die enorm wichtige Akteneinsicht beweist seine Wirksamkeit“.

Der sich als politisch „links“ verstehende Schwenger wurde von der SED als „Feind der DDR“ angesehen, also wurde er ähnlich intensiv bekämpft wie etwa die Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS). Beispielsweise diente der „Kriminalisierung des Dr. Schwenger, Hans Erich“ im Rahmen der Stasi-Vorgangsbearbeitung des Operativen Vorganges (OV) mit dem Decknamen‚Kontakt‘“ ein fingiertes Schreiben an das Bundeskriminalamt, in dem Schwenger in Verbindung mit gesuchten Terroristen gebracht wurde. Oder die Stasi bestellte größere Mengen von Büromaterial in die Geschäftsstelle des Komitees in der Giesebrechtstraße 11 in Berlin-Charlottenburg.

Hauptmann Borsch von der Stasi-Hauptabteilung (HA) XX/5 war sehr erfinderisch darin, einen unbescholtenen Menschen öffentlich zu diskreditieren. Die Liste solcher verbrecherischer Aktivitäten ist lang. Nur nebenbei gesagt: Weder Hans-Otto Borsch noch sein Vorgesetzter Oberstleutnant Arthur Willmann wurden für solche Sauereien jemals strafrechtlich belangt.

Ich suchte Ende der 1970er Jahre das Schutzkomitee in der Giesebrechtstraße auf, um mich für meinen Freund Günter „Aljoscha“ Schau einzusetzen. Aljoscha saß im Knast, weil er Fotografien von Haftanstalten der DDR, in denen er politische Häftlinge vermutete, angefertigt hatte. Günter verfasste einen Text „Eine Sommerreise zu einer Winterlandschaft“, in dem die Haftanstalten beschrieben werden. Am 25.3.1977 wurde er in Erfurt verhaftet. Hannes Schwenger und ich kamen überein, seinen Fall den prominenten Unterstützern des Komitees, vor allem Prof. Helmut Gollwitzer, bekannt zu machen. Schau war Vikar der evangelischen Kirche, und Gollwitzer war Theologe, so passten sie zusammen. Günter Schau lehnte eine Übersiedlung in den Westen zunächst ab, selbst Bischof Scharf, mit dem er telefonieren konnte, änderte seine Meinung nicht. Nachdem seine Freunde, der Liedermacher Michael („Salli“) Sallmann und Bernd Makowski vom DDR-Rechtsanwalt Wolfgang Vogel auf Grund einer Vereinbarung beider Regierungen in den Westen gebracht worden waren, brachte man Schau in die Berliner Haftanstalt der MfS-Zentrale in der Magdalenenstraße zurück. Er bekam dort Besuch von seiner Mutter und seinem Lehrer für Praktische Theologie aus Naumburg, Johannes Hamel, der sagte: „Bruder Schau, wählen Sie den schwereren Weg, gehen Sie in den Westen!“ Schau stimmte nunmehr zu. Hamel war ein Haftkamerad aus den Fünfziger Jahren, für Schau gleichsam die absolute Autorität. Die Stasi brachte Günter Schau sofort zur Grenze, ließ ihn auf einem Parkplatz am Naturkundemuseum in der Invalidenstraße aussteigen. Der von der Bundesrepublik beauftragte Westberliner Rechtsanwalt Jürgen Stange, der Korrespondenzanwalt von Dr. Vogel, holte ihn dort ab.

Wie das so ihre Art war, wähnte die Stasi das Komitee geheimdienstlich gesteuert. Schwenger schreibt: „Es bleibt kurios und spricht für die Betriebsblindheit der Staatssicherheit, dass sie sich bis zur Schließung der Akten über das Schutzkomitee nicht klar wurde, ob das Komitee geheimdienstlich gesteuert sei oder nicht“. Es verwundert nicht, dass die Stasi ihre wichtigste Waffe, Spitzel, gegen das Komitee einsetzte. Hauptspitzel war IM „Christoph“, ein Rechtsanwalt. Er verriet der Stasi alles, was er aufschnappen konnte. Auch IM „Franz“ und IM „Ulli“ waren eingesetzt. Im Zusammenhang mit den Bemühungen um den in der DDR inhaftierten Rudolf Bahro wurde IM „Lutz“ aktiv, ein Kollege von mir an der Schule. Klugerweise ging er mir immer aus dem Weg, riskierte keine politisch ausgerichteten Gespräche.

Schwenger schreibt: „Es war auch der Versuch, aus der Schieläugigkeit westlicher Intellektueller auszubrechen, die Menschenrechtsverletzungen in östlichen Breiten aus unterschiedlichen Gründen übersah.“Viele politische Häftlinge in der DDR dürften von Schwenger und dem Schutzkomitee profitiert haben, nicht nur der Liedermacher Gerulf Pannach, Jürgen Fuchs und eben Günter Schau.

Melanie Weber

Melanie Weber, geboren 1939 im erzgebirgischen Annaberg, wuchs in einem systemtreuen Elternhaus auf, emanzipierte sich als Jungerwachsene davon. Die Funktionäre, die sie durch ihren Vater kennenlernte, fand sie widerwärtig. Als 1968 ein Volksentscheid für eine neue „sozialistische“ Verfassung durchgeführt wurde, beschrieb sie mit der Schreibmaschine Zettel, auf denen sie zum „Nein“ aufrief und steckte die Durchschläge in Briefkästen. Entdeckt wurde die Sekretärin am Freiberger Forschungsinstitut für Nichteisenmetalle (FNE) nicht. Später gehörte Melanie zum sogenannten Freundeskreis „Onkel Kurt“ in Freiberg, Leipzig und Karl-Marx-Stadt um Kurt Gräf, dem ich ich angehörte. Dort wurden in der DDR verfemte Bücher Seite für Seite abfotografiert und die Kopien ausgetauscht. Nachdem mich die Stasi abgeholt hatte, kam die Arbeit des Kreises zum Erliegen. Aber Melanie und Aljoscha (Günter Schau) reagierten auf meine Verhaftung, indem sie sich mit dem Haftsystem der DDR auseinandersetzten. Als ein weiterer Freund, nämlich Wolfgang Sachse, verhaftet wurde, begann Melanie, sich um politische Häftlinge zu kümmern. Dabei kam ihr zugute, dass mit Günter Götz ein Haftseelsorger der Kirche Verbindung zu ihr aufnahm. Nach dem Staat-Kirche-Gespräch von 1978, was zu dem Kompromiss „Kirche im Sozialismus“ führte, war es den beiden Kirchen möglich, in den Haftanstalten seelsorgerische Arbeit durchzuführen. Melanie erhielt Informationen über Häftlinge in Cottbus und Bautzen. Vor allem waren es Häftlinge, die laut Herrn Götz psychologisch Hilfe benötigten. Melanie schrieb Briefe an diese Menschen hinter Gittern, und sie erhielt Informationen über die Stammdaten und die Haftgründe. Nur: Was konnte man damit anfangen? Wie sollten diese Daten in den Westen kommen? Die Post kam naheliegenderweise nicht in Frage, die Kirche lehnte die Vermittlung ab. Und Besuchern aus dem Westen meinte sie auch nicht über den Weg trauen zu können. Politische Naivität von Westdeutschen hatte sie in ihrem Arbeitsbereich am Institut zur Genüge kennengelernt. Sie entschied, mir die Daten zuzuleiten, damit ich sie den zuständigen Behörden übergebe. Melanie wusste, dass ich in irgendeiner Weise Kontakt zum Innerdeutschen Ministerium hatte. Unser Informationsaustausch geschah über dritte Personen, die vertrauenswürdig waren. So fuhr Melanie mit der Bahn nach Stuttgart, eine Bekannte zu besuchen. Als Invalidenrentnerin war ihr eine Westreise „legal“ möglich. Von dort aus reiste sie per Flugzeug nach Berlin und übergab mir die mitgebrachten Zettel mit den Häftlings-Informationen. Dann flog sie zurück nach Stuttgart und reiste mit der Bahn zurück nach Freiberg inSachsen. Die Reisedokumente waren unverdächtig, von Berlin oder Bonn war nirgendwo die Rede. Für weitere Informationen war das Verfahren aber zu teuer, so kam Melanie das nächste Mal mit einem Blumenstrauß und kleinen Geschenken von erzgebirgischer Schnitzkunst zum Geburtstag einer Verwandten nach Westberlin. Meine Aufgabe war es, eine solche „Verwandte“ aufzutun. Diese mussten ja mit dem Verfahren einverstanden sein, „rückfragensicher“. Die Mutter einer Arbeitskollegin, wohnhaft in einem Charlottenburger Altenheim, stellte sich zur Verfügung. Sie war geradezu begeistert davon, damit etwas gegen die SED zu tun. Melanie hat die alte Dame einmal kurz besucht, und so war der Kontakt auch perspektivisch sicher. Die Stasi wusste zwar sehr wohl, dass Melanie Weber und ich noch in Kontakt standen, aber Melanie konnte ihre Besuche in Berlin durch diese Frau Platow abdecken.

Also brachte sie noch mehrmals kleine Zettel, an den Körper geklebt, über die Grenze. Ich schrieb die Zettel mit Maschine ab, denn selbstverständlich konnten solche Papiere, noch dazu mit Melanies Handschrift, nicht in den Behördengang kommen. Denn ich vermutete im Gesamtdeutschen Institut, das dem Ministerium für Innerdeutsche Beziehungen nachgeordnet war, Stasizuträger. Dem dortigen Oberspitzel „Dr. Lutter“ bin ich aus instinktiv aus dem Weg gegangen. Nach 1989 erfuhr ich, dass dieser Mann fast zeitgleich das Bundesverdienstkreuz und eine hohe Auszeichnung durch den Stasi-Minister Mielke erhielt. „Dr. Lutter“ war vorher Leiter der Rechtsauskunftstelle im Notaufnahmelager Marienfelde. Wenn also ein freigekaufter Häftling oder ein Flüchtling um eine Rechtsauskunft nachsuchte, landete er letztlich bei der Stasi. Auch im Besucherdienst des Instituts, in dem ich in den 1980er Jahren arbeitete, tummelten sich Stasi-Spitzel. IM „Thaer“ oder IM „Hans“ zum Beispiel hätten Melanie vermutlich verraten, IM „Dr. Lutter“ sowieso. Ohne damals konkrete Personen als Spitzel zu kennen, habe ich deren Vorhandensein aber vermutet. Also habe ich meine Abschriften der Zettel an Herrn Buch, den Referatsleiter und Sicherheitsbeauftragten des Instituts, übergeben. Deren Quelle zu nennen, habe ich abgelehnt. Das wurde akzeptiert.

In einer filmischen Dokumentation, die nach dem Fall der DDR erschien, wurde Melanie Weber „Die Häftlingsbotin“ genannt. Zwar wurde sie staatlicherseits hoch geehrt (Bundesverdienstkreuz, Sächsischer Verdienstorden), jedoch ist in Freiberg, Dresden oder Berlin immer noch keine Straße, kein Platz nach ihr benannt. Dabei ist sie schon vor mehr als 10 Jahren verstorben.

Auch andere, wie die schon erwähnte Vereinigung er Opfer des Stalinismus (VOS),die älteste Hilfsorganisation engagierten sich für SBZ-bzw. DDR-Häftlinge und wurden deswegen von der Stasi überwacht. Die VOS war überparteilich, und wurde während der Zeit der deutschen Teilung staatlich unterstützt. Von der Stasi wurde die Organisation zwar bekämpft, in Einzelfällen geschahen ähnliche Verbrechen wie gegen das Schutzkomitee, aber insgesamt wurde die VOS ab den 1960er Jahren nicht mehr so intensiv „bearbeitet“ wie in der Anfangszeit. Bis zur zweiten Hälfte der 1970er Jahre: Da gründete sich auf Anregung durch den Schriftsteller Dieter Borkowski (Honecker-Biografie) die sogenannte Juniorengruppe. Paradoxerweise in der Privatwohnung des IM „Günter Frank“. Die Stasi war alarmiert, die VOS könnte sich vom Biertrinker-Verein zur politischen Kampforganisation entwickeln. Dieter Graeser, ehemaliger Cottbus-Häftling, hatte den Plan, das Innerdeutsche Ministerium beim Häftlingsfreikauf zu unterstützen, indem freigekaufte Häftlinge durch die Juniorengruppe überprüft würden. In manchen Fällen wurden nämlich Häftlinge freigekauft, die gar nicht aus politischen Gründen einsaßen. Aber vor allem, meinte er, eingeschleuste Stasi-Spitzel „wittern“ zu können. Zwar versagte er damit schon beim Gastgeber der Gründungsversammlung, doch zeigte das MfS für sein Vorhaben Interesse. Man signalisierte ihm, er könne ohne Probleme einen Besuch bei seinem Vater in Strausberg machen, und man versuchte ihn anzuwerben. Graeser aber ging zur Presse und berichtete von diesem „netten Gespräch“. Damit war der Weg für weitere Besuchsreisen verbaut.

Zusammenfassend kann man feststellen, dass am Beispiel der beiden Hilfsorganisationen erkennbar ist, dass die Stasi alle als „Feind“ bzw. „Feindorganisation“ eingeschätzt hat, die nicht aus ihrem eigenen Stall kamen. Amnesty International genauso wie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, das Schutzkomitee genauso wie die Vereinigung der Opfer des Stalinismus. Feind ist Feind – das war die Devise dieser Leute. Und so mutige Menschen wie Schau, Fuchs, Weber, Schwenger oder Graeser galten ihnen als besondere Feinde,- nicht nur als Gegner von der anderen Feldpostnummer.

1 Bernd Lippmann, geb. 1952 in Freiberg/Sachsen. 1974 als Student Verhaftung, Freikauf 1975. Lehrer, freier Mitarbeiter am Gesamtdeutschen Institut. Heute Vorstandsmitglied der ASTAK,  Trägervereins des Berliner Stasimuseums.