Kubat im Niemandsland [1]

Eine alternative Besetzung an der Mauer

Von Martina Schrey[2]

Mein Fuß. Er hielt mich einfach am Fuß fest. Dabei sah er mich mit auf gerissenen Augen von unten an und redete immer weiter auf mich ein. Ließ nicht los. Dabei ging es doch um nicht weniger als das Ausloten von Grenzen. Herauszufinden, wie frei wir leben können und wollen. Es ging nicht nur um Stadtplanung oder Naturschutz. Es galt, Autoritäten herauszufordern. Schauen, wie weit man gehen kann. Doch er ließ einfach nicht locker. Diesen Moment habe ich immer wieder vor Augen, wenn ich an den 1. Juli 1988 zurückdenke.

Doch eigentlich beginnt die Geschichte fünf Wochen früher. Ich machte gerade meine ersten Schritte als junge Journalistin im Westen Berlins und an diesem Tag im wahrsten Sinne des Wortes ich begleitete eine Demonstration als Berichterstatterin für das linksalternative Radio 100, das erste private Radio in West-Berlin. Basisdemokratisch organisiert und chronisch unterfinanziert war es zu diesem Zeitpunkt seit gut einem Jahr auf Sendung. Wer hier arbeitete, tat dies aus Überzeugung Geld verdiente man hier nicht. Aber lernen dafür umso mehr.

Demonstriert wurde an diesem sonnigen 25. Mai zum Jahrestag des Volkszählungsboykotts. Ein Jahr zuvor hatte ein breites gesellschaftliches Bündnis zum Widerstand gegen den „Überwachungsstaat“ und den inflationären Datenaustausch aufgerufen, daran sollte noch einmal erinnert werden.

Die Demonstranten zogen durch den Tiergarten, am Lenné-Dreieck vorbei, benannt nach dem berühmten Landschaftsarchitekten Peter Joseph Lenné. 40 000 Quadratmeter wildes Grün, im Westen diesseits der Mauergelegen, aber zum Osten der Stadt gehörend, bis vor kurzem noch abgesperrt durch einen schmalen Stahlgitterzaun. Seit einem Monat gab es Bewegung dort, Ostberliner Bautrupps hatten den Zaun entfernt und Zufahrten für Baufahrzeuge angelegt. Jetzt aber war es ruhig hier, ganz nah am Potsdamer Platz, nur ein paar hundert Meter vom Brandenburger Tor entfernt. Nur ab und an fuhr ein Auto die so genannte Entlastungsstraße entlang, Schmetterlinge segelten im Wind und Vögel zwitscherten, während unter den Demonstranten Flugblätter verteilt wurden. Ich nahm auch eins, steckte es achtlos ein, es war schon spät, ich wollte in die Redaktion, meinen Beitrag machen, irgendetwas hatte ich an dem Abend bestimmt noch vor.

Erst zwei Tage später begriff ich, was geschehen war. Rund dreißig Leute hatten in der Nacht nach der Demonstration die innerstädtische Grenze überschritten und das Lenné-Dreieck besetzt. Ein Gelände, einst mitten im Herzen des Vorkriegs-Berlin gelegen, gegenüber dem früheren Luxushotel Esplanade und unweit vom Weinhaus Huth. Nun aber Niemandsland, versunken in einen wahren Dornröschenschlaf, spätestens seit dem Mauerbauvor achtundzwanzig Jahren war es von niemandem mehr betreten worden. Stattdessen wuchsen Birken und wucherten Pflanzen auf der ehemaligen Lennéstraße, vor dem Zweiten Weltkrieg eine begehrte Wohnadresse zwischen Tiergarten und Potsdamer Platz.

Dieses Gebiet sollte im Rahmen des Gebietsaustausches am 1. Juli in West-Berliner Besitz übergehen. Doch die West-Berliner Stadtregierung hatte den Preis von 76 Millionen D-Mark keineswegs bezahlt, um hier Kartoffeln zu züchten oder einen botanischen Garten anzulegen mindestens die Hälfte des Grundstücks war für die sechsspurige Schnellstraße vorgesehen, die den Autobahnring um West- Berlins City schließen würde. Noch aber gehörte das Dreieck zum Gebiet der DDR und das wollten die Besetzer nutzen.

Ich kramte das Flugblatt wieder hervor tatsächlich: Es war der Aufruf, eine Pflanzen- und Tierwelt zu schützen, die anderswo „bereits dem menschlichen Zivilisationsdrang zum Opfer“ gefallen sei. Über 160 teils vom Aussterben bedrohte Pflanzenarten gäbe es hier, hieß es weiter, das Lenné- Dreieck sei keine Brachfläche, sondern ein „wildes, unbebautes Großstadtparadies“, das es zu schützen gelte: „Falls ihr Bock auf Sommer, Leben, Lachen und Streiten habt, dann kommt gefälligst her, damit wir den Platz halten können!“

Ich faltete das Flugblatt wieder zusammen und machte mich auf den Weg zu den Besetzern. Mittlerweile waren es nicht mehr dreißig, sondern mindestens fünfzig. Sie erzählten mir, dass Volks- und Grenzpolizisten der DDR sie am Anfang aufgefordert hätten, das Gelände zu verlassen, dann durften sie aber doch bleiben. Sie mussten sich allerdings an den Rand des Grundstücks zurückziehen, nur „Spazierengehen“ war überall erlaubt. Das ließen sich die Besetzer nicht zweimal sagen und bauten bereits die ersten Zelte auf. „Aufruhr! Widerstand! Das ist unser Land“ stand auf einem Transparent mit einem fünfzackigen Stern. Schwarze und rote Fahnen wehten im Wind. Kurzerhand hatte man das Gelände umgetauft es hieß jetzt Norbert-Kubat-Dreieck, nach einem Mann, der sich nach der Kreuzberger Randale-Nacht vom 1. Mai 1987 im Gefängnis das Leben genommen hatte. Im hinteren Teil wurde das Gemeinschaftszelt aufgebaut, zusammengezimmert von einem linken Kollektiv aus Kreuzberg, daneben die so genannte Volxküche. Auch die Alternative Liste (AL), der West-Berliner Vorläufer der Partei „Die Grünen“, hatte ein Plätzchen für sich gefunden. Wasser bekamen die Aktivisten aus der alternativen und autonomen Szene von legalen Dauercampern am Potsdamer Platz, den „Rollheimern“: Leuten, die dort in Zirkuswagen, ausgedienten Waggons und Bussen wohnten. Und auch ein Klo war nicht weit, stand doch ein Toiletten-Container für Touristen am Potsdamer Platz.

Als Vertreterin von Radio 100, einem Medium, das der linksalternativen Szene nahestand, hatte ich es leicht, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Ich schaute mich um: Während die Besetzer emsig vor sich hin werkelten, wurden sie von mehreren Seiten mit großem Interesse beobachtet. Die Touristen, die scharenweise hierherkamen, um schaudernd die Tristesse in Berlins Mitte in Augenschein zu nehmen, sich an den Souvenirbuden am Potsdamer Platz mit Erinnerungsstücken zu versorgen und auf der extra für sie aufgestellten Plattform einen Blick über die Mauer in den Osten zu erhaschen sie freuten sich, dass ihnen nun auch noch ein kleines Spektakel geboten wurde.

„Vorsicht, bissige Besetzer; Photographieren verboten, Füttern erlaubt“, hieß es auf einem Plakat an der mit Zetteln und Aufrufen zugeklebten Bretterwand, die die Besetzer zum Schutz ihres immer weiterwachsenden Zelt- und Hüttendorfes errichtet hatten. Und so mancher Auswärtige ließ wohlwollend ein paar D-Mark oder Dollar da, nachdem er von den Besetzern über den „Ho-Chi- Minh- Pfad“ durch das Hüttendorf geführt worden war und freute sich über dieses ach so verrückte Berlin, das er hier erleben durfte.

Natürlich kamen auch immer mehr Journalisten, erst von der Berliner Presse, schon bald aber zeigten auch bundesweite und ausländische Medien Interesse an dem, was da vor sich ging. Auch die Ost- Grenzer hinter der Mauer wurden nicht müde, immer wieder ihre Foto- und Videokameras zu zücken, um das Geschehen zu dokumentieren. Die Verantwortung hatten sie längst an die Westberliner Polizei abgegeben, die müsse dafür sorgen, dass das „Territorium der DDR“ geräumt werde. Doch genau das war den Hütern des Gesetzes aus dem Westen unmöglich, durften sie das Geländegar nicht betreten. Entsprechend sauer blieben sie mit ihren Schuhspitzen peinlich genau hinter der Demarkationslinie stehen, und auch sie ließen das Treiben auf dem Gelände nicht aus den Augen.

Selbst die alliierten Besatzungsmächte konnten nichts tun: Der das Dreieck umgebende Teil der Stadt gehörte zum Gebiet der Briten. Sie durften zwar den Ostsektor und damit auch das Lenné-Dreieck betreten, jedoch keine Hoheitsrechte ausüben. Und so ließ man die Besetzer erstmal gewähren scheinbar. Denn vor allem der damalige West-Berliner Innensenator Wilhelm Kewenig von der CDU war alles andere als entspannt. Seine Warnung, auf dem Lenné-Dreieck befände sich noch Munition aus dem Zweiten Weltkrieg, der Aufenthalt dort sei gefährlich, ließ die Besetzer kalt. Doch Kewenig ließ sich nicht beirren: Mit der Begründung, weiteren Zuzug von Besetzern zu ihrem eigenen Schutz verhindern zu wollen, ließ er den gerade erst entfernten Zaun um das Dreieck zwei Wochen nach der Besetzung wieder aufbauen. Damit war der Zugang zwar erschwert, aber nicht unmöglich. Die Mauer verlief in diesem Bereich nicht exakt an der Grenzlinie. Ein schmaler Streifen auf der Westseite gehörte noch zur DDR und war somit für den Berliner Senat tabu. Die Polizei war hilflos und musste sich auf einzelne Personenkontrollen beschränken, auch die Versorgung der Besetzer war weiterhin möglich.

Die aber fühlten sich in ihrem Tun bestätigt. Erste Beete wurden angelegt, auch Ziegen und Hühner hatten auf dem Dreieck mittlerweile ein neues Zuhause gefunden. Die von den Ost-Bauarbeitern gerodeten Birkendienten als Baumaterial für feste Hütten, die Wind und Wetter besser trotzten als die labilen Zelte. Mittlerweile hatten die Besetzer sogar ein eigenes Radio, Radio Sansibar, das unverdrossen alles in die Welt hinausfunkte, was es für berichtenswert hielt. Und zwei Pressesprecher: Stephan Noé von der Alternativen Liste, der alle Pressevertreter auf dem Laufenden hielt, sich zum Schlafen aber lieber in seine Charlottenburger Wohnung zurückzog. Außerdem berichtete uns „Info-Stefan“, der auf dem Gelände lebte und vor allem links-alternative Medienvertreter wie mich mit Insider-Informationen versorgte.

Denn schließlich ging es um nichts Geringeres als die Frage: Welche Freiräume gibt es eigentlich in West-Berlin? Bei der 750-Jahr-Feier im Jahr zuvor war immerhin ein ganzer Stadtteil, Kreuzberg, abgeriegelt worden. Wie viel Widerstand ist möglich gegen die herrschende Politik, was bedeutet Freiheit in einer eingemauerten Stadt? Heftige Auseinandersetzungen, Hausbesetzungen, schwere Krawalle mit der Polizei hatte es in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben, zuletzt zum zweiten Mal am 1. Mai in Kreuzberg diesmal aber hatte der Protest eine neue Dimension. Diesmal konnte der West-Berliner Senat nicht einfach für Ordnung sorgen und dann wieder zum Alltag übergehen. Er war zur Tatenlosigkeit verdammt und das ausgerechnet in dem Jahr, in dem sich West-Berlin eigentlich stolz als erste deutsche „Kulturstadt Europas“ der Welt-Öffentlichkeit präsentieren wollte. Wie würde er damit umgehen? Das war die spannende Frage für alle, die das Geschehen mit mehr oder weniger Sympathie beobachteten.

Und so wunderte es mich nicht, dass auch ganz normale West-Berliner regelmäßig am Lenné/Kubat-Dreieck vorfuhren, um die Besetzer mit Essen und Baumaterial zu versorgen. Während viele Zeitungen im Westen von „Autonomen“ oder „Chaoten“ sprachen, die auf dem Dreieck den Berliner Senat herausforderten, berichteten die Staatsmedien der DDR nur wenig und wenn, dann war von „Antifaschisten“ und „friedliebenden Aktivisten“ die Rede, ganz nach dem Motto: Der Feind meines Feindes ist mein Freund.

Die Grenzsoldaten auf der Ostseite betrachteten das Treiben wie Großväter, die auf ein Kissen gestützt aus dem Fenster schauen, nur dass das Kissen in diesem Fall die Mauerkrone war. Sobald es dämmerte, kamen sie manchmal sogar mit den Besetzern ins Gespräch. Einmal stand ich da-neben, als ein Volkspolizist sich fast väterlich an ein schwarzgekleidetes Pärchen wandte: „Ab dem 1. Juli könnt ihr hier machen, was ihr wollt“, sagte er mit leicht sächselndem Akzent, „aber jetzt treibt es nicht zu doll!“Der zunächst friedliche Charakter der Aktion wandelte sich. Vielleicht lag es daran, dass neben Naturschützern, Punks und alternativen Linken zunehmend auch gewaltbereite Aktivisten ihr Lager aufbauten. Der West-Berliner Senat tat in seiner Hilflosigkeit ein Übriges, um Druck zu machen. Zahlreiche Mannschaftswagen der Polizei zogen am Rande des Dreiecks auf, „We are the champions“ schallte es nachts in voller Lautstärke aus ihren Lautsprechern über den Platz. Als Antwortflogen immer wieder Steine oder auch Sprengsätze in Richtung Polizisten. Ein „wahrer Naturschützer“ brauche „Gießkanne und Harke“, giftete West-Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen, und nicht „Strumpfmasken und Molotowcocktails“. Immer wieder kam es zu Festnahmen außerhalb des Geländes, bei denen sich die Polizei nichtscheute, von ihren Schlagstöcken Gebrauch zu machen. Was die Besetzer ihrerseits mit Steinwürfen quittierten. Das Dorf im Niemandsland wurde mehr und mehr zum Wehrdorf, mehrere hundert Leute hatten sich inzwischen hier niedergelassen. Mittlerweile war ich fast täglich dort, um zu beobachten, was vor sich ging. Natürlich fühlte ich mich in erster Linie als Journalistin, und für Radio 100 war die Auseinandersetzung ein wichtiges Thema, aber ich hatte auch große Sympathien mit den Bewohnern. Mir gefiel es, dass sie sich Autoritäten einfach in den Weg stellten, auch wenn mir der ganze politisch- theoretische Überbau mancher Aktivisten oft fremd war. Ich war jung, naiv, selbst erst seit zwei Jahren in der Stadt. Und auch wenn es vielen sehr ernst war mit dem, was sie da taten und wollten es war eben auch Abenteuer, ein Spiel mit dem Feuer, die Gelegenheit, dem Staat eine lange Nase zu drehen.

Dann spitzte sich die Lage zu. Die Besetzer hoben Gräben aus und errichteten Schutzwälle. Der Senat schlussfolgerte: Hier geht es nicht mehr um Umweltschutz und Verkehrsplanung, hier versammeln sich Verfassungsfeinde. Schon vorher war es vereinzelt zu Tränengasbeschuss durch die Polizei gekommen, doch am 18. Juni, einem Samstag, eskalierte die Situation: Mehrere Wasserwerfer fuhren auf, Tränengaskartuschen flogenüber das Gelände und trieben den Bewohnern die Tränen in die Augen.

Ich hatte im Fernsehen gesehen, wie sich immer mehr Einsatzfahrzeugeder Polizei rund um das Dreieck zusammenzogen und machte mich eilig auf den Weg. Mir bot sich ein abstruses Bild: Während die Magnetbahn im Probebetrieb unverdrossen und unbemannt über dem Potsdamer Platz auf Stelzen ihre Bahnen zog, war das Gelände nebenan in Nebelschwaden gehüllt, als ich dort ankam. Von der eigentlich sternklaren Nacht war nichts mehr zu sehen. Ständig schlugen Patronen mit Tränengas im Hüttendorf ein, Wasserwerfer fuhren auf und ab und bedeckten die Hütten und Zelte mit ihren nassen, mit Reizgas getränkten Kanonaden. Die Besetzer antworteten mit Steinen, die Grenzpolizisten husteten und schimpften vergebens. Stundenlang dauerte der Gasbeschuss, es fühlte sich an wie Krieg. Ich lief mit meinem Aufnahmegerät über den Platz, um zu dokumentieren, was vor sich ging, bis ich kaum noch was sah, weil mir das Reizgas die Tränen in die Augen trieb. Auch die Besetzer zogen sich weit nach hinten auf dem Gelände zurück, zu dem Wall, der das Dreieck auf der Rückseite vor Angriffen schützen sollte. Bis hierher flogen die Kartuschen nicht, stattdessen kam eine Hiobsbotschaft nach der anderen an von kaputtenBrillen, die dem scharfen Wasserstrahl der Polizei nicht standgehalten hatten, von brennenden Hütten, verletzten Besetzern und völlig verängstigten Hühnern und Ziegen.

Die West-Berliner Polizei war nicht zu stoppen. Gleich am nächsten Abend setzte sie ihre Aktivitäten fort, doch diesmal riskierte sie richtig Ärger. Nicht von den Besetzern, die waren erst einmal schachmatt gesetzt. Wohl aber von Seiten der DDR: Zahlreiche Gaspatronen flogen auch über die Mauer. „Im Bereich des Lenné-Dreiecks wird das Territorium der DDR beschossen“, tönte es aus den Megaphonen der Grenzpolizei, „wir fordern Sie auf, das zu unterbinden.“

Doch die Auseinandersetzungen rund um das Lenné-Dreieck gingen weiter. Auch zum Schaden der Gewerbetreibenden am Potsdamer Platz: Um ihre Wasserwerfer und Einsatzwagen zu positionieren, hatte die Polizei ein Teil der Potsdamer Straße abgesperrt, Reise- und Stadtrundfahrtbusse konnten dort nicht mehr halten. Die Touristen blieben aus, und somitauch der Umsatz für die Geschäfte. So ließen die meisten die Rollläden einfach unten, auch zum Schutz vor möglichen Attacken in der Nacht.

Die Opposition schaltete sich ein. Walter Momper, damals Vorsitzender der SPD, schlug vor, einen Vermittler einzusetzen. Überhaupt nahm das Ganze zunehmend politische Dimensionen an. Die grün- alternative Regenbogenfraktion im europäischen Parlament brachte einen Dringlichkeitsantrag ein, den Einsatz von Tränengas als Verstoß gegen Artikel zwei der UN-Charta und gegen das Vier- Mächte-Abkommen für Berlin zu verurteilen. Als Vertreter der so genannten Schutzmächte standen London und Moskau über ihre Botschaften in Bonn und Ost-Berlin schon seit Wochen in engem Kontakt. Doch die DDR dachte nach wie vor nicht daran, die Besetzer von sich aus zu vertreiben, das machte Staatschef Erich Honecker höchstselbst Ende Juni mehr als deutlich: „Wir sind selbst überrascht, aber die Sache ist ja bald vorbei. Haben Sie Geduld.“

Doch lange blieb unklar, ob der Gebietsaustausch überhaupt am 1. Juli vollzogen werden konnte. Dies aber hatte nichts mit dem Dreieck und den Ereignissen dort zu tun, sondern mit Verzögerungen bei einem anderen Grundstück im Wedding, das ebenfalls den Besitzer wechseln sollte. Gleichzeitig wurden von der links-alternativen Szene alle Kräfte aufgeboten, den Gebietsaustausch doch noch zu verhindern: Der alternative Verein Netzwerk Selbsthilfe schlug dem Staatsratsvorsitzenden per Einschreiben vor, der DDR das besetzte Lenné-Dreieck noch vor der Übergabe abzukaufen. Die Bürgerinitiative Westtangente und der Bund für Umwelt- und Naturschutz forderten erneut vom Senat, das Gelände unter Naturschutz zu stellen. Um auf die ökologische Bedeutung aufmerksam zu machen, stellten sie am Rande des Gebietes Naturschutz- und Hinweisschilder auf, in mehreren Sprachen. Doch sämtliche Forderungen, den derzeitigen Zustand des Geländes nach der Gebietsübergabe beizubehalten und über die künftige Nutzung zu verhandeln, lehnte der schwarz-gelbe West-Berliner Senat kategorisch ab.

Ende Juni war dann auf dem Gelände erstmals die Rede davon, im Falle einer Räumung durch die Polizei über die Mauer nach Ost-Berlin zu flüchten. In der damaligen politischen Lage eigentlich ein unvorstellbares Unterfangen. Nicht nur ich, viele politisch links eingestellte junge Erwachsene im Westen hatten von ihren konservativen Eltern bestimmt hundertfach zu hören bekommen: „Dann geh doch nach drüben, wenn es dir hier nicht passt.“ Sich in die Arme der autoritären DDR zu werfen, kam für die meisten jedoch keineswegs in Frage. Die Angst, dort im Gefängnis zu landen, sich gegen Willkür der Regierung nicht zur Wehr setzen zu können, war viel zu groß. Man wusste, dass das Ost- Berliner Regime im Umgang mit unbequemen oder gar aufsässigen Bürgern nicht gerade zimperlich war.

Wer die Idee damals trotzdem aufgebracht hat, weiß ich nicht mehr. Doch nun stand sie im Raum. Angeblich hatte die Sozialistische Einheitspartei Westberlins, die SEW schon mit den Behörden in Ost-BerlinKontakt aufgenommen, was diese allerdings umgehend dementierte. Auch das Gerücht, die Staatssicherheit habe die Hände im Spiel gehabt, gab es, aber es lässt sich bis heute nicht beweisen.

In Erwartung einer baldigen Räumung bauten die ersten Besetzer ihre Zelte ab und rollten ihr Habe in Koffern, Taschen und Kisten in Einkaufswagen vom Gelände. Andere zimmerten leiterartige Gebilde, zuvor gemopste Absperrgitter der Polizei wurden Richtung Mauer geschleift. Am Nachmittag des 30. Juni war es dann so weit: Der vereinbarte Gebietsaustausch zwischen West- Berliner Senat und der DDR-Regierung wurde vollzogen. Die noch verbliebenen Besetzer wiederum verständigten sich am Abend, dass sie das Gelände nicht einfach verlassen wollten.

Es war sehr warm in dieser Nacht. Vor dem Lenné-Dreieck warteten unzählige Journalisten aus dem In- und Ausland auf das, was nun kommen würde. Ich war mit meinem Aufnahmegerät auf dem Gelände, die Besetzer saßen zusammen beim Bier, kleine Feuer wurden entzündet, eine Gruppe trommelte, um sich wach zu halten. Mitternacht kam, der 1. Juli brach an doch nichts geschah. Gerüchte schwirrten, wonach das Gelände erst am frühen Morgen geräumt werden sollte. Manche rollten sich auf dem Gras zusammen, um noch ein bisschen Schlaf zu tanken. Andere wanderten auf dem Gelände umher, um wachsam zu bleiben und Abschied zu nehmen. Es war, als hielten alle für ein paar Stunden den Atem an.

Doch um kurz vor fünf waren alle schlagartig wach. Es wurde bereits hell, als die Polizei die Stille beendete: „Liebe Bürgerinnen und Bürger auf dem Lenné-Dreieck“, tönte es aus ihren Lautsprechern,

„das Gebiet gehört seit Mitternacht zu West-Berlin und stellt wegen der dort vermuteten Munition eine Gefahr dar. Nehmen Sie Ihr Hab und Gut und verlassen das Gelände Richtung Brandenburger Tor!“

Von überall her waren über Nacht Mannschaftswagen der Polizei angerückt, gefolgt von schweren Lastfahrzeugen, die spanische Reiter und Hamburger Gitter geladen hatten. Dazwischen Wasserwerfer und Räumfahrzeuge. Um 5.15 Uhr begann die Räumung. Erste Polizisten stürmten das Gelände. Die noch rund zweihundert Besetzer wichen zurück Richtung Mauer. In Windeseile wurden die zuvor gezimmerten Leitern aufgestellt, schon nach wenigen Minuten saßen die ersten auf der Mauerkrone. Auch ich war dabei, wollte nicht verpassen, was als nächstes geschehen würde. Und so konnte ich sehen, dass auf der Ostseite mehrere Pritschenwagen heran rollten, beladen mit Sandsäcken, eskortiert von Volkspolizisten in brauner Uniform, die lächelten zu uns herauf und winkten. Es dauerte nur wenige Augenblicke, dann sprangen die ersten beherzt in den Osten. Ich wollte auch wollte wissen, was dort geschieht, berichten können, was den Besetzern im Osten widerfährt, dabei sein in diesem Moment, der Geschichte schreiben sollte. Doch mein Kollege, der gemeinsam mit mir in der Nacht gewacht hatte, hielt mich zurück. Umklammerte meinen Fuß und schrie mich an: „Du willst doch nicht im Ernst in die DDR, wer weiß, was die da mit euch machen! Vielleicht kommst du nie wieder!“ Ichgab nach und ließ die anderen ziehen. Und so weiß ich alles, was dann in Ost-Berlin geschah, nur vom Hörensagen: 182 Besetzerinnen und Besetzer hatten die Flucht gen Osten gewählt. Dort wurden sie in den Räumen der Staatssicherheit mit einem Frühstück versorgt und mit der Belehrung entlassen, zukünftig das Staatsgebiet nur noch über die hierfür vorgesehenen Grenzübergangsstellen zu betreten. Man gab ihnen sogar noch Fahrscheine mit, damit sie unbehelligt wieder in den Westen konnten.

Ich blieb auf dem Gelände und musste mit ansehen, wie die West-Berliner Polizei die von den Besetzern aufgebauten Sperren kurzerhand und mühelos beseitigte. Mit einem solch problemlosen und erfolgreichen Einsatz hatten sie nicht gerechnet. Entsprechend gut gelaunt durchsuchten sie die zurückgelassenen Schlafsäcke, Zelte und Decken und begannen, das Gelände nach Munition abzusuchen. Über alledem kreiste währenddessen ein britischer Hubschrauber. Das Kubat-Dreieck war Geschichte.

 


[1] Zuerst erscheinen in: Eva Schweizer (Hg.): Unser Westberlin. Ein Lesebuch. Berlin 2019. Vielen Dank an die Herausgeberin

[2] Martina Schrey, Redakteurin beim Inforadio des RBB, damals Radio 100