Der Tag, an dem Kennedy kam[i]

Von Gerd Nowakowski[ii]

 Als John F. Kennedy im Sommer 1963 West-Berlin besuchte und vor dem Rathaus Schöneberg sagte, „Ich bin ein Berliner“, erlangte die Stadt nicht nur die Aufmerksamkeit der Welt, diese Äußerung brachte die Berliner auch zusammen. Viele von ihnen waren auf den Beinen, um den amerikanischen Präsidenten zu sehen; einer von ihnen war der damals 13-jährige Gerd Nowakowski, der am Checkpoint Charlie auf JFK wartete.

Heiter mit nur sehr geringer Niederschlagsneigung“ hat der Wetterbericht für diesen 26. Juni angekündigt. So herrschen am heutigen Mittwoch beste Bedingungen für den Besuch Mittwoch des amerikanischen Präsidenten, der die ummauerte Stadt schon seit Tagen in eine fiebrige Erwartungshaltung versetzt hat. Unangemessen, so scheint es manchem, ist nur die Wortwahl im Wetterbericht: „Der Luftdruckanstieg der letzten Tage hat Deutschland in das Niemandsland zwischen zwei Fronten gebracht“, steht im Tagesspiegel. Auf so eine Wortwahl reagieren wir in Berlin empfindlich; wir leben schließlich in der „Frontstadt“. Hier aber geht es um ganz andere Fronten: Über der Nordsee hängt das Tief Melusine, und über Warschau, weit im Osten, hält sich der Kern eines Hochdruckgebiets.

 

Warschau, das ist nicht nur an diesem Mittwoch für den 13-jährigen Schüler unvorstellbar weit entfernt. Am Checkpoint Charlie, hinter jener weißen Linie in der Friedrichstraße, doch im Niemandsland, da kennen er und seine Freunde sich aus, die diesen Besuch als Abwechslung im Schulalltag ansehen. Allerdings, Niemandsland war eigentlich nicht der korrekte Begriff, denn die paar Meter vor der hässlichen mit Stacheldraht gekrönten Mauer gehörten eigentlich schon zu Ost-Berlin.

Von Ost-Berliner Seite kamen nur selten Soldaten zur Inspektion des Mauerwalls, hinter dem die gefährliche Zone lag, mit starken Scheinwerfern, die den gerodeten Todesstreifen beleuchteten. Von West-Berliner Seite trauten sich die Polizisten auch nicht auf den Streifen im Schatten der Mau- er. In diesem Niemandsland hatten er und seine Freunde sich schon häufiger aufgehalten, und die kleineren Jungen hatten zugeschaut, wenn sich die Älteren mit wichtigtuerischer Geste eine Zigarette ansteckten.

Heute ist der Junge wieder hier. Alle Schüler der eingemauerten Stadt haben schulfrei. Jetzt stehen Tausende von Menschen hier und jubeln einem Mann zu, der hundert Meter entfernt auf einem weiß gestrichenen Podest steht und nach Osten über die Mauer schaut. Gut, dass er so erhöht steht. Sonst hätten die 13-Jährigen den US-Präsidenten inmitten der Menge gar nicht sehen können. Sie haben ihren Platz gefunden, in dem schmalen Streifen zwischen der Mauer, deren Platten und Steine so grob und nach- lässig gefugt sind, dass sich der Mörtel herausgedrückt hat, und der Fassade des einzigen Hauses, das der Krieg an diesem Ort noch übriggelassen hat und in dem die Apotheke Zum weißen Adler liegt.

 

Die Jungen haben ein paar Pappschilder dabei — gebastelt im Schulunterricht. „Welcome, Mr. President“, haben sie sorgfältig mit weißer Farbe darauf geschrieben. Er hat sein Schild an ein roh gehobeltes Vierkantholz genagelt. Es ist so lang, dass er es weit über seinen Kopf in den Himmel strecken kann, damit der Gast es nicht übersieht. So roh ist das Holz gehobelt, dass sich der Junge einen Splitter in die Hand bohrt. Das tut weh. Aber das stört ihn nicht. Er will den Mann sehen, der für ihn und seine Freunde wie ein Filmstar ist.. Ein Mann wie aus einer anderen Welt, den USA.. Keiner von den Jungs war jemals dort, eine solche Reise können sie sich gar nicht vorstellen. Viele Nachmittage haben sie nach der Schule am Tempelhofer Feld hinter dem Zaun gestanden, hinter dem die Flugzeuge der amerikanischen Luftwaffe starten und landen, und sich ausgemalt, wo- hin die Menschen wohl fliegen. Die USA sind fern wie der Mond, den die Amerikaner erobern wollen; sie haben schon ein halbes Dutzend Astronauten ins All geschickt. Doch wissen die Jungs, dass alle Amerikaner riesige Autos fahren und in ihren Häusern riesige Kühlschränke stehen. Keiner ihrer Väter hat ein Auto, geschweige denn einen solchen Straßenkreuzer. Viele Eltern haben ja noch nicht einmal einen Kühlschrank.

Die Apotheke Zum weißen Adler, die sich hier im toten Winkel der Weltgeschichte befindet und erst 1970 dicht machen wird, hat heute ge- schlossen. Oben in den Fenstern des Eckhauses aber, das 18 Jahre nach Kriegsende so aussieht, sei es nur notdürftig hergerichtet, stehen die Menschen und winken dem Präsidenten zu. Schon Tage vorher hatte die Polizei überall in der Stadt die Bewohner wegen der Sicherheit des Präsidenten aufgesucht.

Alle Mieter wurden mit Merkzetteln versorgt, auf denen ihnen eingeschärft wurde, keine Fremden in ihre Wohnung zu lassen. Die Hausbewohner, die näher an der Trennungslinie zwischen den Weltmächten leben, als ihnen lieb ist, haben heute einen Logenplatz. Diesmal für einen freudigen Anlass. Sie können direkt auf den Präsidenten und auf die vielen Kamerateams herunterschauen. Die Journalisten stehen auf einer eigens aufgebauten Plattform, direkt neben dem großen Schild mit der Aufschrift „Sie verlassen jetzt den amerikanischen Sektor, ,You are leaving the American  Sector, was auch in französischer und russischer Sprache zu lesen ist. Kurz nach 12 Uhr mittags ist die Luft sommerlich warm. Der Präsident ist seit dreieinhalb Stunden in der West-Berlin. Acht Stunden sind für den Besuch in der geteilten Stadt, dem östlichsten Vorposten der demokratischen Welt, eingeplant. Eine kurze Zeit, doch für die Berliner sind es die längsten acht Stunden ihrer Geschichte. An diesen Tag hat kann sich jeder Berliner, der dabei war, noch erinnern. Der Besuch John F. Kennedys ist eingebrannt in das kollektive Gedächtnis West-Berlins; ähnlich wie die Nacht der Maueröffnung im November 1989 - 26 Jahre später.

Am 26. Juni 1963, dem Tag des Kennedy-Besuchs, ist West-Berlin eine in ihrer Zukunft bedrohte Stadt. Frisch in Erinnerung ist noch die Blockade der Halbstadt durch die Sowjetunion 1948, als die westlichen Alliierten, vor allem die USA anderthalb Jahre lang die abgeriegelte Stadt mit Hunderten Flügen der „Rosinenbomber“ täglich versorgten und ihr Überleben sicherten. Seit dem 13. August 1961, an dem die DDR-Regierung mit Billigung der sowjetischen Führung das unmenschliche Bollwerk gebaut hat, sind die Berliner in einem mentalen Schockzustand, einer kollektiven De- pression, weil niemand weiß, wie es weitergehen soll. Viele haben schon nahezu verschämt und heimlich die Konsequenzen gezogen, ihre Häuser oder Grundstücke verkauft oder sind dabei, die Produktion ihrer Unterneh men Stück für Stück in die sichere Bundesrepublik zu verlagern.

Nun kommt ein Präsident, der den Menschen Mut macht. „John - you our best friend“, steht in einem etwas ungelenken Englisch auf einem Plakat. Schon auf dem Weg des Präsidenten ins Stadtzentrum nach seiner Landung auf dem Flughafen Tegel stehen hunderttausende Berliner am Stra-ßenrand und jubeln diesem charismatischen Präsidenten zu. Er hat sich auf der Fahrt durch die Stadt schon ins Herz der Menschen eingeschrieben, die nach Ermutigung dürsten, bevor er vor fast einer halben Million Zuhörer am Rathaus Schöneberg den einen Satz sagen wird, der , eine Beschwörung und zugleich ein Versprechen ist: „Ich bin ein Berliner.“

Die Stadt hat sich seit Tagen auf den Besuch vorbereitet. Alle sollen, alle wollen den Präsidenten sehen. Die Ämter und Museen bleiben geschlossen, in vielen Betrieben ruht die Arbeit, die Gerichte arbeiten nach Notdienst- plan. Nicht nur die Müllabfuhr fällt aus, sogar die Brötchen werden früher gebacken, weil die Bäckerei-Innung genau wie die Fleischereien und anderen Lebensmittelhändler ab zwölf Uhr eine Schließung der Läden empfiehlt. Auch die Postämter schränken ihre Öffnungszeiten ein. Dafür aber gibt es einen Post-Sonderstempel mit der Inschrift: „Besuch des USA-Präsidenten Kennedy“ und dem Staatswappen der USA. Die Schließung der Schwimmbäder in allen Bezirken ärgert nur wenige Schüler. Sie alle wollen  Kennedy sehen, dessen Route sie seit Tagen kennen, weil jede Zeitung den Plan abgedruckt hat. Überall in der Stadt haben sich die Menschen Plätze ausgesucht, um einen besonders guten Blick auf Kennedy zu erhaschen.

Manche sitzen auf Verkehrsschildern oder Laternen, klammern sich stun- denlang an Zäune oder haben aus Bierkisten Pyramiden gebaut.

Das Schild zur Begrüßung des jugendlich wirkenden Chefs der westlichen Weltmacht ist den Jungen am Checkpoint Charlie inzwischen schon abhanden gekommen. Es war ihnen im Gedränge der Menschenmassen so- wieso schnell lästig geworden. In der fiebrigen Erregung der Berliner, die der Junge nicht in Worte fassen kann, die er aber spürt, scheinen alle sonst geltenden Regeln außer Kraft gesetzt. Kein Erwachsener hat geschimpft, als der Junge auf eine Laterne geklettert ist, selbst die Polizisten haben nur Au- gen für den Besucher aus Übersee. Wer abenteuerlustig genug ist, kann auf dem Platz vor dem Schöneberger Rathaus , durch die geöffneten Haustüren bis zum Dachboden hochsteigen und durch eine Luke aufs Dach gelangen.

Am Checkpoint Charlie steht der Präsident zuerst an der weißen Linie, welche die Grenze zwischen den feindlichen Blöcken markiert. Er blickt hinüber nach Ost-Berlin, wo sich weit entfernt am Ausgang des U-Bahnhofs Stadtmitte einige hundert Menschen eingefunden haben. Am Bran- denburger Tor hat die DDR-Regierung mit großen Planen einen Blick von hüben nach drüben verhindert, nun versuchen die Menschen an der Friedrichstraße, John F. Kennedy trotz der aufmarschierten Volkspolizisten nahezukommen. Einige Minuten schauen die US-Gäste in den Osten. Der Bruder des Präsidenten, Robert Kennedy — fünf Jahre nach der Ermordung von JFK wird er ebenfalls einem ungeklärten Anschlag zum Opfer fallen — hat seinen Fuß sogar jenseits der weißen Linie postiert.

Nun steht J.F. Kennedy also im Niemandsland, genau wie jene Kreuzbe rger Jugendlichen, die sich hier jeden Tag aufhalten. Am Checkpoint Charlie, dem Übergang für Ausländer mit der kleinen Kontrollbaracke, sind all die eleganten und in Berlin seltenen ausländischen Wagen zu sehen, die hier die Grenze zum „Ostsektor“ passieren. Es ist genau die Stelle, an der die Jugendlichen auch knapp zwei Jahre zuvor im August standen, als dort Weltgeschichte geschrieben wurde und sich die Panzer gegenüberstanden: hier die „nach drüben“, in den sowjetischen Machtbereich gerichteten Pan zerrohre der Amerikaner, auf der anderen Seite die sowjetischen Panzerkolosse. Damals hielt die Welt den Atem an.

Im Oktober 1961, war die Stimmung am Checkpoint Charlie gedrückt, es herrscht eine merkwürdige Stille, als könnte schon unangemessener Lärm eine Eskalation auslösen. Dies spürten auch die Jungen. Damals entsandte der frisch gewählte US-Präsident Kennedy einen Sonderbeauftragten, General Lucius Clay, nach Berlin — jenen Mann, der den Berlinern schon einmal, während der Blockade und der Luftbrücke, gezeigt hatte, dass die USA entschlossen waren, sich nicht der sowjetischen Führung zu beugen.

Jetzt steht der Präsident selbst am Checkpoint Charlie. Nun ist nicht die Zeit der Stille, nun ist die Zeit des Jubels. Als er von der Aussichtsplattform heruntersteigt und die hundert Meter zur Kochstraße, heute Rudi-Dutschke-Straße genannt, zurückläuft, wo die Wagenkolonne auf ihn wartet, — die müssen selbst seine Personenschützer aufgeben. Sie haben schon auf der Fahrt durch die Stadt immer wieder Menschen abdrängen müssen, die auf den offenen Wagen zustürzen, um Kennedy die Hand zu schütteln. Mancher hatte ein Kleinkind auf den Schultern oder einen Blumenstrauß in der Hand. Eine Bäckersfrau versuchte vergebens, eine Torte in den Wagen zu reichen.

Hier an der Kochstraße taucht der Präsident selber in die Menschenmenge ein und schüttelt die Hände von begeisterten Berlinern. Pierre Salinger, der Pressechef des Weißen Hauses und Vertraute Kennedys erzählt später, nichts habe den Präsidentenstärker beeindruckt als dieser Empfang in Ber- lin. Dies habe er ihm nach dem Abflug gesagt.

Mitten in der Menge befindet sich der Präsident, ein Albtraum für die auf Sicherheit bedachten US-Geheimdienstler. Auch die zur Absperrung eingeteilten Berliner Polizisten verlieren ihre strenge Formation; nur ihre weißen Mützen blitzen noch in der großen Menge auf. Bis der Präsident wieder in seinen nachtblauen Lincoln steigt, um seine Triumphfahrt fortzusetzen. Die Berliner lassen Konfetti und Luftschlangen auf ihn regnen. Dieser emotionale Ausnahmezustand dauert acht Stunden. Die längsten acht Stunden der Berliner Stadtgeschichte. Dieser Tag schwirrt von den unendlich vielen Geschichten, die am Abend erzählt werden, weil ein jeder etwas erlebt hat, was diesen Tag überdauern wird. Noch fünfzig Jahre später wissen die Berliner genau, wo sie an diesem Tag waren.


[i] Aus: Eva Schweizer (Hg.): Unser Westberlin. Ein Lesebuch. Berlin 2019. Mit Dank an die Herausgeberin und den Autor.

[ii] Gerd Nowakowski. Geb. in Westberlin, Journalist bei der TAZ und dem Berliner Tagesspiegel