„Willy, wir brauchen Waffen!“

Der Tod von Peter Fechter an der Mauer sorgte im Westteil der Stadt für bürgerkriegsähnliche Zustände – und beschäftigte selbst US-Präsident Kennedy

Von Lars-Broder Keil[1]

Die DDR-Grenzpolizisten trauten ihren Augen nicht. Da näherten sich an diesem 17. August 1962 gegen 17.30 Uhr von westlicher Seite zielstrebig drei Jugendliche der Berliner Mauer. Der mittlere von ihnen trug ein einfaches Holzkreuz mit der Aufschrift „Wir klagen an“. Der kleine Protestzug hielt unmittelbar vor den Grenzanlagen, der „Träger“ grub ein Loch, setzte das Kreuz hinein und fixierte es mit Steinen. Der Sinn wurde auch den verdutzten DDR-Grenzern sofort klar: Hier entsteht ein Mahnmal–für den Osten eine Provokation.

Foto: Peter Fechter Konfirmationsbild

 

Die Aktion der Jugendlichen ist die erste Reaktion auf den Tod des Bauarbeiters Peter Fechter. Der 18-jährige Ost-Berlinerwar am frühen Nachmittag des 17. August zusammen mit seinem Arbeitskollegen Helmut Kulbeik in den Todesstreifen gesprungen, um nach West-Berlin in die Freiheit zu fliehen. Am helllichten Tag, mitten in der Stadt, schräg gegenüber des Axel Springer Verlages. Der Fluchtversuch missglückte, Fechter starb qualvoll am letzten Hindernis. Denn während sein Freund Mauer und Stacheldraht überwinden konnte, wurde er ohne Vorwarnung von DDR-Grenzern beschossen, von einer Kugelgetroffen und nahezu eine Stunde liegen gelassen: eine quälende Ewigkeit für den Flüchtling. Bis ein herbeigerufener Offizier den Abtransport befahl, hatte auf Ost-Berliner Seite niemand Anstalten gemacht, den Verletzten zu bergen. Im Krankenhaus konnte der Arzt nur noch seinen Tod feststellen.

Auf West-Berliner Seite herrschte nach den Schüssen Hilflosigkeit. Zwar hatten einige Polizisten die Mauer erklommen– was allein schon einen Verstoß darstellte, da die Mauer bereits zum DDR-Territorium gehörte, um nach Peter Fechter zu schauen, der deutlich hörbar um Hilfe flehte. Aber keiner von den Beamten wagte, in den Todesstreifen zu springen. Auch der aus dem nahen Axel Springer Verlag herbeigerufene Betriebsarzt Willi Weitze scheute davor zurück. Man warf Fechter Verbandsmaterial aus Weitzes Erste-Hilfe-Kasten herüber, doch er war inzwischen zu schwach, um damit etwas anfangen zu können. Ein Foto vom Verbandsmaterial, das am Stacheldrahthängengeblieben war, zeigte die ganze Hilflosigkeit. Dieses Gefühl hatte auf Westseite auch Augen- und Ohrenzeugen der Schießerei beschlichen, die zum 180 Meter entfernten Checkpoint Charlie gelaufen waren, einem von den Amerikanern betriebenen Grenzübergang. Sie waren sich sicher, dass nur die US-Militärpolizei Fechter herausholen konnte: Kein ostdeutscher Grenzposten würde es wagen, auf die Vertreter der Schutzmacht zu schießen. 

Doch zu ihrer Verwunderung hatte der diensthabende US-Offizier gezögert, nach Rückversicherung beim amerikanischen Stadtkommandanten Albert Watson eine Patrouille losgeschickt, aber weisungsgemäß nichts weiter unternommen. Gegenüber den erwartungsvollen West-Berlinern wählte der Leutnant eine eigene Formulierung: „Das ist nicht unser Problem.“Die Patrouille aus sechs Militärpolizisten machte sofort kehrt, als ostdeutsche Grenzer Nebelgranaten warfen, um die Sicht in den Todesstreifen zu behindern. Für diesen Rückzug seien die GIs von West-Berlinern ausgebuht worden, war am 18. August 1962 in der britischen Zeitung „The Guardian“ zu lesen.[1] 

Foto: Junge Berliner stellen Holzkreuz für Fechter auf.

Bis heute gilt Peter Fechter als eines der bekanntesten Opfer des DDR-Mauerregimes. Er war nicht das erste. In den zwölf Monaten der Mauer waren bereits 26 Menschen an der innerstädtischen Sperrgrenze gestorben. Die meisten von ihnenwaren DDR-Bürger, die bei Fluchtversuchen erschossen wurden, ertrunken oder abgestürzt sind. Aber auch drei West-Berliner Fluchthelfer haben seit dem 13. August 1961 an der Grenze ihr Leben verloren, außerdem drei DDR-Wachposten.Doch der Fall von Peter Fechter zeigte eine neue Dimension der Grausamkeit im Umgang mit Flüchtlingen, die – wie der 18-Jährige – aus Unzufriedenheit mit den politischen Umständen in die Freiheit wollten. Eine Dimension, die erstmals sichtbar wurde. Denn es war ausreichend Zeit für die Dokumentation des Falls geblieben. Dem BILD-Fotografen Wolfgang Bera und Kameramann Herbert Ernst, die zufällig in der Nähe waren, gelangen bedrückende Aufnahmen. Diese sorgten dafür, dass die Nachricht von der gescheiterten Flucht noch am selben Tag weltweit verbreitet wurde und an den Folgetagen über das weitere Geschehen berichtet wurde. Leser der „New York Times“ und der „Washington Post“, des britischen „Observer“ und der kanadischen „The Globe and Mail“, aber auch Leser und Zuschauer in der Schweiz, in Norwegen, in Israel, China und Japan erfuhren vom Schicksal des jungen Ost-Deutschen und nahmen Anteil.   

Als am Abend des 17. August die ersten Aufnahmen von dem Geschehen in den Nachrichten zu sehen waren, reagierten viele Zuschauer entsetzt. Der „Guardian“ schrieb: „Sein lebloser Körper wurde von einem kommunistischen Polizisten wie ein Sack Kartoffeln weggetragen.“[2]Die Bilder wühlten West-Berliner so auf, dass sie noch am Abend des 17. August an der Mauer protestierten. Neben der Anteilnahme für das Schicksal eines jungen Menschen, angetrieben durch den Unmut über das Grenzregime sowie die Ohnmacht, dass niemand etwas dagegen tat.

Foto: Die DDR-Grenzposten ließen den Angeschossenen im Grenzstreifen verbluten. Aus Westberlin griffen weder Polizei noch West-Alliierte ein.

Während am kommenden Tag das „Neue Deutschland“ im Ostteil Berlins, die Tatsachen verfälschend, von flüchtenden Verbrechern sprach, die gewaltsam die Staatsgrenze durchbrechen wollten und dabei von West-Berliner Polizisten aktiv unterstützt worden seien, schrieben sämtliche Zeitungen im Westen am 18. August Klartext. „Flüchtling niedergeschossen und sterbend liegen gelassen“, titelte die WELT. „Gestern 14 Uhr 12: Mord an der Mauer“, schrieb die „B.Z.“. Die „Berliner Morgenpost“ zitierte den Ruf des Opfers: „,Helft mir doch, helft mir doch!‘“, und fügtehinzu: „Ulbrichts KZ-Schergen haben einen neuen Mord auf ihr Gewissen geladen.“ Die emotional aufgeheizte Sprache entsprach der Stimmung.[3]

Die publizistische Empörung weitete sich bereits gegen Mittag zu öffentlichen Protesten aus. In der Sackgasse der Charlottenstraße skandierten rund 500 West-Berliner: „Mörder, Mörder“. Die Polizei stellteabends ein Transparent mit der Aufschrift „Schutzmacht? Morddulder = Mordhelfer“ sicher und nahm die beiden Träger fest. Die simple Gleichung zeigte, dass sich die Wut nicht mehr nur gegen das SED-Regime richtete, sondern auch gegen die Schutzmächte. Ihr zögerliches Verhalten hatte einen empfindlichen Nerv getroffen. Und die Wut brach nicht nur verbal aus. Gegen 17 Uhr hielten rund 700 West-Berliner den Bus der Roten Armee auf, der jeden Tag um diese Zeit über den Checkpoint Charlie sowjetische Soldaten zur Wachablösung ans Ehrenmal im Tiergarten brachte. Es flogen Steine, zwei Scheiben barsten. Nur in Begleitung zweier West-Berliner Funkstreifenwagen konnte der Bus seine Fahrt fortsetzen. Der Bus sollte drei Tage hintereinander „das erfreulichste Ziel der Berliner“ werden, so das Magazin „Time“.[4] 

Foto: Rangelei an der Mauer aus Protest gegen die Erschießung von Fechter und die Untätigkeit der westlichen Sicherheitskräfte

Doch auch die Amerikaner standen im Fokus. Viele West-Berliner verstanden nicht, dass die USA, obwohl sie sich verpflichtet hatten, das Leben in der Stadt zu schützen, keinen Finger gerührt hatten. Zum ersten Mal war der Ruf „Ami, go home!“ zu hören. Vor den Toren der US-Mission fuhren Autos aus Protest hupend hin und her. US-Soldaten wurden in ihren Jeeps beworfen, ausgepfiffen. Als eine US-Patrouille von Passanten bedrängt wurde, trieb das Militär sie mit M14-Gewehren und aufgesetzten Bajonetten auseinander. Erstmals seit Kriegsende kam es in West-Berlin zu Handgreiflichkeiten mit alliierten Soldaten.[5]

 

Foto: Anti-Schutzmacht-Plakat

 

Einer der Rufer der Parole „Ami, go home!“ erklärte gegenüber der „New York Herald Tribune“ die ungewohnten antiamerikanischen Gefühle: „Wir wollen nicht, dass die Amerikaner gehen. Aber wir sind sehr verärgert darüber, dass das passiert ist.“ Die Parole sei die einzige Möglichkeit für viele, sich gegenüber den Amerikanern auszudrücken.[6] Von einer drohenden Vertrauenskrise zwischen der West-Berliner Bevölkerung und den westalliierten Schutzmächten schrieb auch die „Neue Zürcher Zeitung“ am 20. August. Andere Zeitungen benannten dagegen eindeutig die Schuldigen am Mord von Peter Fechter: die DDR mit ihrem unmenschlichen Grenzregime – und die Schutzmacht Sowjetunion. Die norwegische Zeitung „Morgenposten“ etwa kommentierte sarkastisch: In kommunistischen Systemen sei es eine gute Sache, Mitbürger niederzuschießen, die den Wunsch haben, von diesem System loszukommen.

Noch glauben Senat und Behörden, den Protest eindämmen zu können. Am Abend des 19. August versuchte der Regierende Bürgermeister Willy Brandt, etwa 5000 Menschen vor dem Rathaus Schöneberg von einem Lautsprecherwagen aus zu beschwichtigen. In den nächsten Tagen schon würden Maßnahmen ergriffen, „um solche schrecklichen Geschehnisse wie den Tod Fechters künftig unmöglich zu machen“. Seine Zuhörer beschwor er angesichts der Ausschreitungen: „Lasst Euch nicht hinreißen, das macht der anderen Seite nur Freude.“ Tatsächlich bildeten die Zuhörer zusammen mit Passanten am Kurfürstendamm einen friedlichen Protestzug von 20.000 Menschen, der über die Straße zog. Die Ungeduld zeigte ein Plakat mit der Frage: „Wie viel Morde noch?“[7]

Doch so friedlich blieb es am Abend und dem kommenden Tag nicht. Gruppen vor allem Jugendlicher attackierten die Mauer. DDR-Grenzposten reagierten mit Wasserwerfern und Tränengas, und als West-Berliner Polizisten die Granaten wieder zurückwarfen, kam es zu einem regelrechten „Tränengas-Duell“. Die Polizei errichtete auf westlicher Seite rund um den Tatort eine 100 Meter breite Sperrzone. Stacheldrahtrollen wurden ausgelegt und die Einsatzkräfte verstärkt. Eines ihrer Fahrzeuge wurde am Abend des 20. August auf dem Weg zum Checkpoint Charlie schon an der Siegessäule mit Steinen beworfen. In der Kochstraße saßen die Polizisten ab, die Anweisung des Vorgesetzten angesichts Hunderter Demonstranten lautete unmissverständlich: „Gummiknüppel in die Hand! Das ist keine Lakritzstange, der ist zum Reinhauen da.“ Die WELT stellte fest: „Selten war die Erregung der Massen seit dem 13. August 1961 so groß wie in diesen Tagen.“Und weiter: „Die Gefühle, die sich hier ausdrücken, sind nicht nur verständlich. Man muss der Wahrheit ins Auge sehen und sagen, dass sie berechtigt sind.“[8]

Die Ost-Berliner Seite sah im SPD-Politiker Brandt den Schuldigen am „Putsch“. Und natürlich in Axel Springer. „Die Frontstadtjournaille ruft die Frontstadtkanaillen zu neuen Provokationen. Sie hilft, allen voran Herr Springer, die Verbrechen zu organisieren“, schrieb die (Ost-)„Berliner Zeitung“. Auf den Verleger zielte auch das SED-Blatt, „Neue Deutschland“: „Am Freitag haben unsere Grenzsicherungsorgane einen Provokateur auf frischer Tat ertappt und, als er auf Zurufe nicht reagierte, erschossen. Nun heulen Springer und Komplizen Krokodilstränen.“[9]

Die Erregung im Westteil der Stadt führte so weit, dass Bürger und Medien ernsthafte Schritte forderten. Der Interzonenhandel sollte gestoppt und dem Osten kein Pfennig Kredit mehr gewährt werden. Bürgermeister Brandt wurde zugerufen: „Willy, wir brauchen Waffen!“ West-Berliner Polizisten sollten Flüchtlingen Feuerschutz geben. Ein Geschäftsmann forderte gar, Maschinenpistolen und Schnellfeuergewehre zu beschaffen, dann würden Demonstranten, von US-Panzern unterstützt, die Mauer niederreißen.[10]

US-Politiker zeigten wenig Verständnis für die Proteste. Der Vorwurf der Undankbarkeit schwang in ihren Reaktionen mit. In US-Medien war angesichts der Attacken auf ihr Militär abschätzig vom „Mob“ die Rede.[11] In einem Telegramm des US-Außenministeriums an die Militärmission in West-Berlin vom 20. August wurde der Einsatz von Streitkräften gegen Proteste in West-Berlin nicht ausgeschlossen, wenn die Polizei überfordert sei und dies zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung erforderlich werde.[12] 

Der 53-jährige Stadtkommandant Albert Watson zeigte allerdings Verständnis. Gegenüber der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ erklärte der General, dass er den Unmut der West-Berliner nicht übelnehme. Da diese ihren Hass auf das mörderische Grenzregime nicht gegen „das wirkliche Objekt des Hasses, gegen die Urheber der Mauer richten konnten“, habe man sich eben am nächstgelegenen Objekt ausgelassen. Auch Watson selbst wurde Zielscheibe dieses Unmuts. West-Berliner Studenten erstatteten Anzeige gegen ihn – wegen unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge.[13] 

Was die Enttäuschten nicht wussten: Der Stadtkommandant hatte am 17. August 1962 unter Umgehung der Befehlskette direkt im Weißen Haus in Washington angerufen. Laut dem Autor Greg Mitchell fragte Watson, was Präsident John F. Kennedy zu tun gedenke. Kennedy, der sich gerade in Colorado aufhielt, hörte sich eine knappe Zusammenfassung seines obersten militärischen Beraters General Chester Clifton an: „Mr. President, ein Flüchtling verblutet an der Berliner Mauer.“ Was im Nachgang besprochen wurde, ist unklar. Als er nichts aus Washington hörte, rief Watson erneut im Weißen Haus an. Der Tod Fechters hatte sich inzwischen herumgesprochen. „Die Angelegenheit hat sich von selbst erledigt“, teilte er den Beamten im Präsidentensitz mit.[14]

Die US-Regierung steckte in der Zwickmühle. Wie sollte man mit einer Machtdemonstration die West-Berliner beruhigen und zugleich die Lage nicht weiter anheizen? Der Nato-Oberbefehlshaber für Europa, Lauris Norstad, gehörte zu denjenigen, die keine Maßnahmen ausschließen wollten. Am 21. August telegrafierte er an den US-Verteidigungsminister Robert McNamara: „Wir müssen darauf vorbereitet sein, d.h. der Berliner Kommandant muss ermächtigt sein, die militärische Gewalt anzuwenden, die erforderlich ist, um das medizinische Team bei der Erfüllung seiner Aufgabe zu schützen, einschließlich, falls erforderlich, Beschuss.“[15] Aus der US-Politik kam der Vorschlag, den West-Berliner Polizisten zu erlauben, zurückzuschießen, falls Kugeln aus dem Osten im Westen einschlagen. Das könnten DDR-Grenzer als Risiko empfinden, Fluchten mit Waffengewalt zu verhindern. Der „Guardian“ kommentierte diesen Plan als äußerst riskant, weil niemand sagen könne, was ein solcher Schusswechsel auslöse.Viel weiter gingen einige Abgeordnete im US-Kongress: Die Vereinigten Staaten sollten die Mauer mit physischer Gewalt niederreißen.[16]   

Angesichts dieser Diskussionen war der US-Präsident gefragt. Kennedy konnte die Stimmung in Deutschland nicht gleichgültig sein. Nach dem Mauerbau, fast genau ein Jahr vor dem Tod Fechters, war er für seine Untätigkeit kritisiert worden – legendär hier die BILD-Schlagzeile: „Der Westen tut nichts: Präsident Kennedy schweigt…“.[17] Auch den Jahrestag des Mauerbaus am 13. August 1962 ließ er kommentarlos verstreichen. 

Nach dem Mord an Peter Fechter kontaktierte Kennedy seinen Außenminister Dean Rusk. Wie den Aufzeichnungen zu entnehmen ist, bat er ihn um einen Bericht über die Schießerei und die nachfolgenden Ereignisse. Bei einem Austausch am 21. August 1962 wollte Kennedy wissen, welche Pläne für den Umgang mit solchen Situationen existierten. Rusk antwortete vage: „Nun, wir haben einige für größere Episoden…“ Kennedy hakte nach: „Aber was ist mit einer einzelnen Episode wie dieser?“ „Kein Fall ist wie der andere“, wand sich der Außenminister. „Unsere Leute fischen Flüchtlinge zum Beispiel nicht aus dem Wasser. Das wird auf der Ostseite erledigt. Ich denke, der Fehler, der vor Ort gemacht wurde, war vielleicht, dass man keine medizinische Versorgung angeboten hat.“ Kennedy brachte die Proteste in West-Berlin ins Spiel: „Natürlich sind die West-Berliner nicht sehr entgegenkommend, auch zu uns nicht, aber … das ist schon in Ordnung. Ich denke, wir müssen das einfach überstehen.“[18] 

Tatsächlich kehrte am 21. August in West-Berlin wieder Ruhe ein. Zwar wurden 128 Personen kurzzeitig in Gewahrsam genommen, doch gab es keine Straßenschlachten mehr.[19] Als habe jemand einen Schalter umgelegt, änderte sich die Stimmung. Appelle, politische Reife zu zeigen, waren von Jugendorganisationen zu hören. Die Gewerkschaft ÖTV bat um Unterstützung der Polizei bei ihrer „wenig beneidenswerten Arbeit“. Auf Transparenten stand nun: „Demonstriert gegen KZ-Wächter, nicht gegen Polizisten und Amerikaner!“ Der „Tagesspiegel“ schrieb in besonnenem Ton: Die Enttäuschung über die ausgebliebene Hilfeleistung an der Mauer dürfe nicht dazu führen, dass der Verbrecher vergessen wird, der das Leben von Peter Fechter auf dem Gewissen hat.[20]

Politiker in Bonn wie in Berlin analysierten indes das Geschehen.Ein lang gehegter Hass gegen die Absperrmaßnahmen in Berlin hätte die Menschen geleitet, die nicht mehr an die Standfestigkeit der Schutzmächte glaubten, hieß es in einem vertraulichen Schreiben des Bundesministeriums für gesamtdeutsche Fragen vom 23. August 1962. Die Bevölkerung habe anlässlich des Jahrestages des Mauerbaus am 13. August mehr Haltung von Bundesregierung und Senat erwartet. West-Berlins Innensenator Heinrich Albertz bekannte im „Spiegel“, Fechters Tod habe die Ohnmacht des Westens demonstriert und die Bevölkerung desillusioniert.[21]

Doch wie sah eine neue Strategie aus? Zwar lobte Willy Brandt am 22. August vor SPD-Funktionären, die Empörung der Bürger sei ein gutes Zeichen dafür, dass sie sich „mit dem zu beklagenden Opfer an identifizierten“. Andererseits zeige das Geschehen, dass politisches Wunschdenken nicht weiterführe, „juristische Spintisiererei“ schon gar nicht, so Brandt. Kritisch äußerte er sich über die Ausschreitungen bei den Demonstrationen sowie die amerikakritischen Äußerungen und Handlungen und stellte die Frage, ob es sich um eine Vertrauenskrise der Bevölkerung handele –was er umgehend selbst verneinte. Der Regierende Bürgermeister warnte, der starke Drall der „Lautstarken“ gegen die USA und die Westmächte im Allgemeinen käme nur der anderen Seite gelegen, weil von der eigentlichen Provokation, der Mauer, abgelenkt werde.Hier dürfe man keine Rollenverschiebung dulden: „Anti-Amerikanismus ist Gift für diese Stadt.“ Es gehe darum, bei aller verständlichen und berechtigten Empörung klaren Kopf zu behalten und die Ordnung in der Stadt zu sichern. Dazu gehöre für ihn auch, Stimmungen entgegenzutreten, „die darauf hinausliefen, als könnten sich die Berliner, Münchhausen gleich, am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen“.Seine Alternative: Man müsse sich stärker um Verbesserungen im „Personenverkehr zwischen beiden Teilen der Stadt“ bemühen. Denn, so der Regierende Bürgermeister im Zusammenhang mit dem Fall Peter Fechter vor der internationalen Presse: „Das Wohl der Stadt steht höher als der Hass gegen die Mauer. Die Mauer muss weg, aber bis dahin muss Berlin mit ihr leben.“

Einen Weg, den auch Kennedy bevorzugte, wie sein Brief vom 28. August 1962 an US-Senator Mike Mansfield zeigte. Dieser hatte in einem Memorandum für ein hartes Vorgehen in Berlin plädiert, um dem Westen eine wirksamere Rolle im Ostteil der Stadt zu ermöglichen. Kennedy bremste. „Ich denke, die Wahrheit ist, dass Ost-Berlin für uns keine Frage von Krieg und Frieden ist, und deshalb sollten wir keine der drastischeren Alternativen wählen.“ Die Zeit für einen Kampf um eine wirksame Rolle des Westens in Ost-Berlin sei, falls es sie je gegeben habe, seit vielen Jahren vorbei – etwa seit der Blockade durch die Sowjets. Die USA sollten sich weiterhin auf West-Berlin konzentrieren, das Überleben sichernauch für den Fall „weiterer sowjetischer Schritte in Richtung auf eine zunehmend vollständige Eingliederung Ost-Berlins in Ostdeutschland“.[22] 

Diese Position bestimmte auch ein Treffen Kennedys mit Rusk sowie Beratern und Deutschland-Experten am 31. August 1962 zur „Überprüfung der Berliner Notfallplanung“. Sicherlich war es Zufall, dass am gleichen Tag eine mehrseitige Fotoreportage über das Schicksal Peter Fechters im amerikanischen Magazin „Life“ erschien. Darin kam auch die Wut gegen die Amerikaner zur Sprache, die dem 18-Jährigen nicht zu Hilfe kamen. Ganz im Gegensatz zur Dramatik an der Mauer wirkte in der gleichen Ausgabe das „Bild der Woche“: Es zeigte Kennedy in Kalifornien unmittelbar nach einem Bad im Meer, in nasser Badehose, lächelnd und umringt von begeisterten Strandbesuchern. Ein gefundenes Fressen für die Kritiker seiner Deutschland-Politik. 

Die trat bald gänzlich in den Hintergrund, als die Sowjetunion 3.500 Soldaten und Instrukteure auf Kuba stationierte. „Die Leute sind viel mehr beunruhigt über Kuba als über Berlin“, wurde der republikanische US-Senator Kenneth B. Keating am 14. September 1962 in der „ZEIT“ zitiert. Er war der Auftakt der Kuba-Krise, die nach der Stationierung sowjetischer Atomraketen eskalierte. 

Allerdings kehrte das Thema Berliner Mauer im Jahr darauf wieder zurück. Am 26. Juni 1963 stand US-Präsident John F. Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus. Zwei Jahre nach dem Mauerbau, den die Amerikaner nicht verhindert hatten, wollten die West-Berliner in der eingemauerten Stadt vom mächtigsten Mann der Welt wissen, ob die USA weiterhin auch militärisch für ihre Sicherheit sorgen würden. Und welche Zukunft sie in der Stadt haben. Inwieweit Kennedy vor seinem Auftritt an den Fall des Flüchtlings Peter Fechter erinnert wurde, ist unklar. Aber er schwingt mit im berühmten Satz Kennedys, mit dem er den West-Berlinern das erhoffte Zeichen der Solidarität und des Beistands gab: „Alle freien Menschen, wo immer sie leben mögen, sind Bürger dieser Stadt Berlin, und deshalb bin ich als freier Mann stolz darauf, sagen zu können: Ich bin ein Berliner.“

Fotos: Familie  Fechter, Polizeihistorischen Sammlung, BStU-Bundesarchiv

 

Anmerkungen:


[1]Lars-Broder Keil, Journalist und Historiker, arbeitet derzeit als Leiter des Unternehmensarchivs der Axel Springer SE. Von ihm erschien: Mord an der Mauer. Der Fall Peter Fechter, Köln 2012 sowie die vollständig überarbeitete und aktualisierte Ausgabe: Mord an der Mauer. Als die Welt Peter Fechter beim Sterben zusah, Darmstadt 2022 (beides zusammen mit Sven Felix Kellerhoff)

 

Fotos: Urheberlegende folgt. Auswahl Lars-Broder Keil.

Anmerkungen:


[1]Greg Mitchell: Death at the Berlin Wall, 59 years ago today, 17. August 2021. (https://gregmitchell.substack.com/p/60-years-ago-martyr-of-the-berlin); The Guardian and The Observer v. 18. August 1962.

[2]The GuardianandThe Observer v. 18. August 1962.

[3]Neues Deutschland v. 18. August 1962.

[4]Ereignismeldung Kommando der Schutzpolizei v. 20. August 1962(Landesarchiv, B Rep. 002); DIE WELT v. 21. August 1962; “World: Wall of Shame”, Time v. 31. August 1962.

[5]https://history.state.gov/historicalducuments/frus1961-63v15/d95; Landespressedienst Berlin (lbn 50) v. 19. August 1962; New York Herald Tribune v. 22. August 1962.

[6] New York Herald Tribune v. 19. August 1962.

[7] FAZ v. 21. Und 22. August 1962.

[8] DIE WELT v. 20. und 21. August 1962.

[9] Berliner Zeitung v.   , Neues Deutschland vom 19. Augst 1962. Wollen Sie das ergänzen? Bei dieser Gelegenheit müssen wir bei einem Zitat aus dieser Quelle eine Änderung von Ihnen im Text wieder rückgängig machen, siehe auch: Alan Winnington: Die von der Presse vergossenen Krokodilstränen, in: Daily Worker v. 21. August 1962sowie Landespressedienst Berlin (lbn 2) v. 19. August 1962.

[10]Landesdienst Berlin (lbn 20) v. 20. August 1962sowie Brief an Willy Brandt v. 21.8.1962 (BArch, B 137, Nr. 5906)

[11]New York Herald Tribune v. 20. August 1962.

[12]https://history.state.gov/historicalducuments/frus1961-63v15/d96.

[13]DIE ZEIT v. 14. September 1962; Landespressedienst Berlin (lbn 24) v. 19. August 1962.

[14]Greg Mitchell: Death at the Berlin Wall, 59 years ago today, 17. August 2021.

(https://gregmitchell.substack.com/p/60-years-ago-martyr-of-the-berlin).

[15]https://history.state.gov/historicalducuments/frus1961-63v15/d97.

[16]The Guardian and The Observer v. August 1962.

[17]BILD v. 16. August 1961.

[18]John F. Kennedy: The Presidential Recordings, The great crises, Volume one, July 30–August 1962, New York/London 200, S. 535.

[19] Ereignismeldung Kommando der Schutzpolizei v. 21. August 1962(Landesarchiv, B Rep. 002).

[20]Tagesspiegel v. 21. August 1962.

[21]BArch, B 137, Nr. 16410; SPIEGEL v. 5. September 1962.

[22]https://history.state.gov/historicalducuments/frus1961-63v15/d106.