Die Mauer – Abschluss der Spaltung

Von Rolf Steininger[1]

Die zweite Berlin-Krise

Am 10. November 1958 hielt Kremlchef Nikita Chruschtschow im Moskauer Sportpalast eine Rede, in der er die Aufkündigung des Potsdamer Abkommens von 1945 ankündigte. Er legte den Westmächten nah, ihre Beziehungen zur DDR selbst zu regeln und mit ihr ein Übereinkommen zu treffen, falls sie an irgendwelchen Berlin betreffenden Fragen interessiert seien. Die neue Berlinkrise war da. In der ersten von 1948 hatte Stalin die Berliner Verkehrswege blockiert, um die Stadt vom Westen zu trennen. Mit der Versorgungs-Luftbrücke hatten die Westalliierten das Überleben der Stadt gesichert und damit die Krise letztlich überwunden. Diesmal fasste NATO-Oberbefehlshaber General Lauris Norstad in einem Satz zusammen, worum es ging: „Wenn wir nicht wollen, dass wir uns jetzt auf einen erniedrigenden Weg begeben, auf dem wir der DDR Schritt für Schritt nachgeben müssen, dann müssen wir jetzt klarmachen, was Sache ist, und die Russen müssen erkennen, dass wir notfalls Gewalt anwenden werden, um unsere Position zu halten.“

Washington traf eine Grundsatzentscheidung: keine Anerkennung der DDR! Der damalige Außenminister der USA, John Foster Dulles, versicherte dem in Bonn residierenden Bundeskanzler Konrad Adenauer, CDU, die Solidarität der USA. Niemand werde den Eindruck erhalten, dass es der westlichen Politik an Stärke und Verlässlichkeit mangle.

Am 27. November 1958 legten die Sowjets nach und überreichten den drei Westmächten eine gleichlautende Note. „Zwei Drittel historischer Schwachsinn“, wie der Unterstaatssekretär im Foreign Office in London, Arthur Rumbold, es formulierte; das verbleibende Drittel hatte es allerdings in sich: Die Sowjets forderten die „Umwandlung West-Berlins in eine selbständige politische Einheit“ – eine Freie Stadt, und das innerhalb der nächsten sechs Monate. Würde bis dahin keine Lösung erreicht sein, würde die Sowjetunion einseitig handeln und alle Kompetenzen der DDR übertragen. Der 27. Mai 1959 war also der Stichtag; bis dahin musste man in irgendeiner Weise Farbe bekennen. Dem Ultimatum vom 27. November ließen die Sowjets am 10. Januar 1959 den Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland folgen, der auf einer Gipfelkonferenz beraten werden sollte.

US-Präsident Eisenhower war nicht bereit, in irgendeiner Weise der sowjetischen Erpressung nachzugeben. Unterstützt wurde er dabei von den Militärs, die allerdings noch weiter als er gehen wollten. Verteidigungsminister NeilMcElroy deutete sogar die Möglichkeit eines Präventivschlages gegen die Sowjetunion an. Eisenhower wies solche Überlegungen mit Nachdruck zurück. Man solle jeden Augenblick bedenken, dass auch Washington bombardiert werden könnte. Über einen Präventivschlag wolle er nicht einmal nachdenken, „weil wir damit mehr zur Verwirrung als zum Verständnis beitragen“. Am 13. März 1959 machte er allerdings im Kabinett klar, dass die USA nicht nachgeben und notfalls zum Krieg bereit sein würden, obwohl er und auch Dulles davon überzeugt waren, dass es „nicht zu einer solch furchtbaren Tragödie“ kommen dürfe. Sollte allerdings die Zufahrt nach Berlin gesperrt werden, gehe es nur noch darum, zu entscheiden, „ob wir Moskau bombardieren“; würden die Sowjets Berlin mit Gewalt nehmen, dann müsse man die „große Entscheidung“ treffen. Würden die Sowjets diese Entschlossenheit erkennen, würden sie nachgeben, worauf Senator Lyndon B. Johnson, der spätere Präsident, fragte: „Und falls nicht? Bedeutet das dann, auf den Knopf zu drücken?“ McElroy bestätigte, dass es dann keinen anderen Weg als den des atomaren Schlags gebe.

Für Dulles war klar, dass, falls man den sowjetischen Drohungen nachgebe, dies der Anfang vom Ende sei; man müsse absolut fest bleiben. Er war persönlich davon überzeugt, dass die Chancen nicht einmal 1:1000 stünden, „dass die Sowjets es bis zum Krieg treiben“. Nach Meinung der Stabschefs musste man aber entschlossen und bereit sein, „falls alles andere scheitert, einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion zu führen“ und die entsprechenden Vorbereitungen treffen. In jedem Fall sollte der Zugang nach Berlin mit einer Division freigekämpft werden; würde das nicht reichen, sollte auf eine andere Art „action“ umgeschaltet werden. McElroy bestätigte, was das bedeuten würde: „Wenn wir das tun, ist Feuer am Dach“, mit anderen Worden: Krieg. Eisenhower warnte: „Wenn wir uns einmal entschlossen haben, militärische Gewalt anzuwenden, dann sind dieser Gewalt keine Grenzen mehr gesetzt. Dies ist eine Tatsache, über die wir uns im Klaren sein müssen.“ Er hoffte immer noch, dass „Chruschtschow wirklich gemeint hat, was er gesagt hat, dass er nämlich die Welt nicht auf den Kopf stellen wird“.

Am 16. Februar 1959 hatten die Westmächte auf den sowjetischen Vorschlag reagiert und für den Sommer – nach Ablauf des sowjetischen Ultimatums – eine Viermächte-Außenministerkonferenzen in Genf vorgeschlagen. Die Sowjets hatten zugestimmt, die Konferenz hatte stattgefunden – und war am 5. August ohne Ergebnis beendet worden. Allerdings war das sowjetische Ultimatum vom Tisch; die Großmächte begannen, sich zu arrangieren: Chruschtschow wurde zu einem Besuch in die USA eingeladen. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heinrich Krone, schrieb angesichts der für alle sichtbaren Wende der westlichen Politik in sein Tagebuch: „Eine neue Ära der Koexistenz beginnt. Die Gefahr der Illusionen zieht herauf. Die Welt will sich arrangieren. Moskau und Washington sind die beiden Pole.“

Der Besuch in den USA verlief aus der Sicht des sowjetischen Diktators dann allerdings höchst unbefriedigend. In der ihn alles interessierenden Frage machte Eisenhower keinerlei Zugeständnisse, mit Ausnahme einer Äußerung, nämlich dass die Situation in Berlin „abnormal“ sei. Chruschtschow hat dieses Wort dann später immer wieder zitiert, um seine Forderung nach Änderung der Situation in Berlin zu rechtfertigen. Eisenhower versicherte Adenauer, dass es „detaillierte Verhandlungen irgendwelcher Art nicht gegeben“ habe, und wiederholte gleichzeitig die Garantie der USA, „so lange wie nötig für die Sicherheit und Freiheit der Westberliner zu sorgen“.

Zu dem von Adenauer befürchteten Arrangement der Großen kam es dann aber nicht. Am 1. Mai 1960, 15 Tage vor der geplanten Konferenz der „Großen Vier“ – Eisenhower, Chruschtschow, sowie des britischen Premierministers Harold Macmillan und des französischen Präsidenten Charles de Gaulle – wurde bei Swertlowsk ein amerikanisches Spionageflugzeug vom Typ U2 abgeschossen und der Pilot Francis Powers gefangen genommen. Chruschtschow nahm nun diesen Zwischenfall zum Anlass, die Konferenz platzen zu lassen. Er kam zwar nach Paris, forderte aber noch vor Beginn der Konferenz von Eisenhower eine öffentliche Entschuldigung, die dieser verweigerte.

Über Chruschtschows Motive kann immer noch nur spekuliert werden. Der ent- scheidende Grund war offensichtlich seine Erkenntnis, dass er in der Berlinfrage angesichts der Haltung des Westens – insbesondere der USA, aber auch Frankreichs – nicht das erreichen würde, was er sich möglicherweise erhofft hatte. Auf der Rückreise von Paris gab er in Ost-Berlin zu erkennen, dass er auf ein erneutes Gipfeltreffen in sechs bis acht Monaten hoffte: „Die Sache geht uns nicht aus den Augen; warten wir noch, dann wird sie besser heranreifen.“ Er setzte jetzt auf Eisenhowers Nachfolger, der im November gewählt wurde – und John F. Kennedy hieß.

Foto: Die Mauer von der Westseite. Erst Skandalon, dann Touristenattraktion, dann....

Die Krise und Kennedy

Für eine reale Einschätzung der Lage sorgte damals der elderstatesman und frühere Außenminister unter Präsident Truman, Dean Acheson, den Kennedy als eine Art Sonderberater „reaktivierte“. Für Acheson war klar, dass es Chruschtschow bei dem ganzen Unternehmen um mehr ging als „nur“ um Berlin und die DDR, nämlich genau um das, was der Kremlchef am 31. März 1961 gegenüber Ulbricht deutlich machte, nämlich: Würde man Kennedy den Friedensvertrag mit der DDR „abringen, reißen wir die NATO in Stücke, denn die deutsche Frage zementiert die NATO“.

Aus genau dem Grund war an ein amerikanisches Nachgeben nicht zu denken, wie der US- Botschafter in Moskau, Llewellyn E. Thompson, Chruschtschow am 24. Mai unmissverständlich klarmachte: „Wir werden auf Gewalt mit Gewalt reagieren.“ Daraufhin kam es zwei Tage später zu einer denkwürdigen Sitzung des Präsidiums der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, der KPdSU. Chruschtschow nannte Kennedy hinter verschlossenen Türen einen „Hurensohn“ und analysierte die Gefahrenlage folgendermaßen:

„Am gefährlichsten ist Amerika, aber Frankreich und Großbritannien werden den USA nie folgen bei der Entfesselung eines Krieges jetzt in Europa, weil die Atomwaffenexplosionen hauptsächlich auf dem Territorium West-Deutschlands, Frankreichs und Englands stattfinden werden. Das sind kluge Leute, und das kapieren sie. Daher bin ich der Ansicht, dass in dieser Sache ein Risiko liegt und dass dieses Risiko, das wir eingehen, gerechtfertigt ist. Ich würde sagen, dass es, in Prozenten ausgedrückt, zu über 95 % keinen Krieg geben wird.“

Wenige Tage später trafen sich Kennedy und Chruschtschow in Wien.Für Kennedy wurde das Treffen am 3. und 4. Juni 1961, ungefähr eineinhalb Monate vor dem Mauerbau, in vielfacher Hinsicht zu einem Schlüsselerlebnis. Er wollte Chruschtschow vor Fehleinschätzungen der USA in der Berlinfrage warnen und Lösungsmöglichkeiten in anderen Fragen erkunden; Chruschtschow wollte den aus seiner Sicht unerfahrenen und nach der gescheiterten Invasion in Kubas Schweinebucht politisch angeschlagenen jungen Präsidenten massiv einschüchtern und auf diese Weise eine Berlinregelung erzwingen.

Chruschtschow gab sich brutal in Wien. Seine abschließenden Bemerkungen waren eine einzige Drohung. Die Sowjetunion werde jede Herausforderung annehmen; unter den Schrecken eines Krieges würden beide Seiten zu leiden haben; die Wahl zwischen Krieg und Frieden hänge von den USA ab; die Entscheidung der Sowjetunion, einen Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen, sei unwiderruflich; der Vertrag werde im Dezember unterschrieben. Kennedy beendete das Treffen mit dem bezeichnenden Satz, es werde dann wohl ein kalter Winter werden („itwouldbe a coldwinter“).

Im Urteil seiner Berater wurden Kennedys Hoffnungen auf eine Einigung mit Chruschtschow in Wien zerstört. Intern verfluchte Kennedy den Sowjetführer: „Er hat mich wie einen kleinen Jungen behandelt.“ Macmillan hatte später den Eindruck, dass Kennedy „beeindruckt und geschockt“ war. „Es war ungefähr so, als wenn jemand Napoleon auf der Höhe seiner Macht zum ersten Mal träfe.“ Die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Stärke wollte Kennedy woanders unter Beweis stellen: in Südvietnam, wie er noch in Wien intern betonte. Vietnam sollte es dann ja auch werden.

Macmillan bezweifelte im Übrigen die Führungsqualitäten des amerikanischen Präsidenten. Er selbst überschätzte sich maßlos und sah sich immer noch bzw. nach Kennedys Desaster in Wien wieder als führenden Staatsmann des Westens. Von Kennedy erwartete er wenig, vor allem nicht die Initiative zu Verhandlungen, um die Krise zu entschärfen. Von daher sah er seine Stunde erst noch kommen. Am 24. Juni schrieb er an seinen Außenminister, der zu Gesprächen in Washington war:

„Es kann gut sein, dass etwa im September, wenn die Vorstellung vom starken Mann im Weißen Haus endgültig geplatzt ist und die Welt auf den Krieg zusteuert, Sie und ich die Initiative übernehmen können ... Aber wir müssen warten und den richtigen Moment abpassen.“

Und seinem Tagebuch vertraute er an:

„Ich habe das bestimmte Gefühl, dass Präsident Kennedy keine wirklichen Führungsqualitäten besitzt. Die amerikanische Presse und Öffentlichkeit sehen das allmählich auch so. In ein paar Wochen werden sie sich an uns wenden. Wir müssen darauf vorbereitet sein. Andernfalls kann Berlin zu einem Desaster führen – zu einer furchtbaren diplomatischen Niederlage oder (aus reiner Inkompetenz) zum Atomkrieg.“

Als auch in den folgenden Wochen keine Entscheidungen in Washington getroffen wurden, stieg auch beim US-Politiker DeanAcheson der Frust. Am 24. Juni schrieb er an Truman („Dear Boss“): „Kennedys Politik beunruhigt mich und gibt mir Rätsel auf.“

Vier Tage später, am 28. Juni, legte er seinen zweiten Berlinbericht vor, der an Klarheit und Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrigließ und die amerikanische Politik entscheidend beeinflussen sollte. Mit Nachdruck betonte er noch einmal, was er bereits zuvor gesagt hatte: dass es in der Berlinfrage nicht nur um Berlin, sondern um etwas viel Grundsätzlicheres ging: um die entscheidende Machtprobe zwischen den USA und der Sowjetunion, von deren Ausgang das weltweite Vertrauen in die USA als Weltmacht abhing. Auf 35 Seiten listete er auf, was militärisch, wirtschaftlich und politisch zu tun sei, und zwar die Vorbereitung der See-, Luft- und Landstreitkräfte auf einen umfassenden Einsatz in Europa, Verstärkung der Marine, Vorbereitung auf einen umfassenden Atomkrieg. Das Strategische Bomberkommando sollte in Alarmbereitschaft gehalten und gleichzeitig zivile Maßnahmen eingeleitet werden, „möglicherweise auch Atomschutzbunker gebaut werden“. Erst wenn die vom Westen durchgeführten Maßnahmen den „falschen Hund und Kriegstreiber“ Chruschtschow von der Entschlossenheit des Westens überzeugt hätten, seien Verhandlungen sinnvoll; sie könnten dazu dienen, Chruschtschow den Rückzug zu erleichtern.

Kennedys Antwort kam am 25. Juli mit seiner Rede an die Nation. Sie war eine unüberhörbare Warnung an Chruschtschow: Er kündigte ein gigantisches Rüstungsprogramm an und formulierte jene drei Essentials, die von nun an für die Stadt gelten und mit allen Mitteln verteidigt werden sollten: Recht auf Präsenz der Westmächte (in ganz Berlin), Recht auf Zugang, Sicherheit der Freiheit der Bewohner West-Berlins. Ob das eine Einladung zum Bau der Mauer war, ist nach wie vor eine offene Frage. Diese wurde jedenfalls am 13. August gebaut, als das „Maximum dessen, was aus West-Berlin herauszuholen war“, wie Chruschtschow am 6. Februar 1962 Ulbrich klarmachte.

Westliche Reaktionen auf den Mauerbau

Der Mauerbau beeinträchtigte keine Interessen der Westmächte und war in jedem Fall besser als Krieg, wie Kennedy gesagt haben soll (und was in jedem Fall richtig war). Ein Blick in die Akten zeigt, wie wenig realistisch deutsche Hoffnungen auf eine scharfe amerikanische Reaktion waren. Da wollte niemand die Stacheldrahtverhaue niederreißen; Washington wollte mit den Sowjets verhandeln! Der Kontakt sollte vom US-Botschafter George F. Kennan in Belgrad geknüpft werden. Bereits am 14. August erteilte US-Außenminister Dean Rusk seinen Botschafter Kennan („Personal and eyesonlyforthe Ambassador“) in einem top secret-Telegramm die entsprechenden Instruktionen. Den Sowjets sollte die ernste Absicht der amerikanischen Regierung klargemacht werden, dass man eine „friedliche Lösung“ der Berlinkrise wolle, die die Interessen aller Beteiligten wahre. Vor allen Dingen sollte Kennan darauf achten, dass die Alliierten, „insbesondere die Deutschen“, von diesen Gesprächen nichts erfahren würden. Als Historiker nennt man das Realpolitik.

Auch die Briten wurden vom Mauerbau nicht überrascht. Ihr Botschafter in Bonn, Christopher Steel, wunderte sich eigentlich nur darüber, dass die DDR nicht schon viel früher die Sektorengrenzen abgeriegelt hatte, wie er am 14. August nach London berichtete. Dabei wies er noch einmal darauf hin, dass er ja die Botschaftergruppe in Paris eine Woche zuvor gewarnt hatte, dass mit dieser oder einer ähnlichen Absperrmaßnahme zu rechnen sei. Der britische Botschafter in Moskau, Frank Roberts, betonte gegenüber dem Foreign Office, man dürfe die Tatsache nicht übersehen, „dass die Russen bei ihren Maßnahmen, den Flüchtlingsstrom zu stoppen, vorsichtig gewesen sind; sie haben diese Maßnahmen auf ihrer Seite des Eisernen Vorhanges durchgeführt und bis jetzt nichts getan, was die Freiheit West-Berlins und die Rechte der Alliierten dort beeinträchtigt.“

Genauso war es! Erstaunlich war nur, dass sich darüber im Westen jemand wunderte.  Das änderte nichts daran, dass es in West-Berlin und in der Bundesrepublik angesichts der Untätigkeit des Westens zu einer Vertrauenskrise kam. Die Bild-Zeitung brachte es auf der ersten Seite in Großbuchstaben auf den Punkt: „DER WESTEN TUT NICHTS!“ Der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heinrich Krone, schrieb in sein Tagebuch, die „Zone“ und auch Ost-Berlin seien für die Amerikaner „kein Anlass zum Eingreifen“.

Sehr besorgt über die Stimmung äußerte sich allerdings der amerikanische Botschafter in Bonn, Walter C. Dowling. „Objektiv gesehen“, so schrieb er am 17. August nach Washington, „reagieren die Westdeutschen und die Westberliner auf die Abriegelung der Sektorengrenze zwar in höchstem Maße emotional und in umgekehrtem Verhältnis zum Ernst der Lage“, noch mehr dramatische Veränderungen könnten ihnen nicht zugemutet werden, weil das, so warnte er, „letztlich nur zu einer radikalen Umorientierung der deutschen Politik führen kann“.

Die Warnungen der Amerikaner vor Ort in Berlin und Bonn führten dann zu einer graduellen Änderung der amerikanischen Politik – wenn auch nur im Atmosphärischen. Dazu gehörte die Entscheidung Kennedys, die US-Garnison in Berlin, um eine 1500 Mann starke Kampftruppe zu verstärken – dies im Übrigen gegen den Widerstand von Verteidigungsminister McNamara. Zudem wurde der Vizepräsident Lyndon B. Johnson auf Kurzbesuch und der „Held“ der Luftbrücke 1948/49, General Lucius D. Clay, als sein persönlicher Vertreter nach Berlin geschickt.

Für den Briten Macmillan ging es in erster Linie darum, die Situation nicht zu verschärfen. Er setzte daher seinen Urlaub ungerührt fort. Seine wahren Gefühle wurden deutlich, als er beim Golfspielen in Gleneagles am 18. Loch die Beherrschung verlor und meinte, die ganze Krise sei von der Presse hochgespielt worden. Die amerikanischen Aktivitäten betrachtete er mit größter Skepsis – vor allem die Entsendung der Kampftruppe. Für ihn war das „militärischer Nonsens“. Er lehnte auch die Bitte Kennedys nach Verlegung von Soldaten der britischen Rhein-Armee in Stärke eines Bataillons nach Berlin ab und begründete dies mit dem fadenscheinigen Argument, dass die Schlagkraft der britischen Armee dadurch geschwächt würde. Und er gab gleichzeitig den Rat, der Westen solle vorsichtig reagieren, denn „wir wollen doch nicht die Schuld von den Russen und Ostdeutschen weg auf uns verlagern mit der Begründung, dass wir uns bei der Lösung des Problems vollkommen negativ verhalten.“

Die Amerikaner wollten jetzt genauso wie die Briten mit den Sowjets verhandeln. Und das konnte nur auf Kosten der Westdeutschen gehen. „Die Westdeutschen“, so Dean Rusk noch vor dem Mauerbau zu seinem britischen Kollegen, „werden viele Dinge schlucken müssen, die sie bis jetzt für unmöglich gehalten haben“. Die Amerikaner würden die Deutschen härter anfassen, als die Briten bislang geglaubt hätten. Genauso sollte es auch kommen.

Im September wurde der Bundesregierung klargemacht, dass es nun an der Zeit sei, sich mit den Realitäten abzufinden. „Im Interesse des Ost-West-Friedens“ sollte Bonn Angebote machen. Es ging um die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze, die Anerkennung der DDR, Berlin als eine freie Stadt. Kommentar von Heinrich Krone: „Unmöglich! Wir können niemals ja zu diesen Forderungen sagen.“

Bei Adenauer kamen jetzt Starrsinn und Zähigkeit zusammen, um das, was die Amerikaner wollten, zu verhindern oder zumindest zu verzögern. Einen Verbündeten fand er von Anfang an in Charles de Gaulle. Für Frankreichs Staatspräsidenten gab es überhaupt nichts zu verhandeln, da man dem Sowjetdiktator nichts anbieten könne, was diesen zufriedenstellen würde.

Das führte auf anglo-amerikanischer Seite zu erheblicher Frustration, etwa bei George F. Kennan. Als Reaktion auf das o.g. Telegramm von Außenminister Rusk vom 14. August beklagte er sich bei seinem Kollegen Thompson in Moskau:

„Ich weiß nicht, worüber ich mit den Russen überhaupt reden soll. Wir haben Adenauer zugestanden, mit den Sowjets nichts zu diskutieren, was irgendwie von Interesse für sie sein könnte. Wir haben die Franzosen und Deutschen dazu überredet, dass sie uns erlauben, schwimmen zu gehen und sogar unsere Kleider auszuziehen, aber wir haben Mutter Adenauer die Versicherung gegeben, dass wir nicht ins Wasser gehen.“

Das war Sarkasmus pur.

Wie irritiert und frustriert vor allen Dingen auch Macmillan war, wurde bei den Gesprächen mit Kennedy auf den Bermudas am 21. und 22. Dezember 1961 deutlich. Für ihn war alles „sehr verwirrend“. Seiner Meinung nach ging es um folgendes: „Wollen wir eine Vereinbarung mit den Russen, oder wollen wir keine?“ Großbritannien werde jedenfalls auf gar keinen Fall in einen Krieg gehen, bevor nicht Verhandlungen geführt worden seien (schon vorher hatte er angeordnet, für den Eventualfall britische Kinder nach Kanada zu evakuieren, um, wie es hieß, die britische Rasse zu retten). Was seien die Fakten? Ostdeutschland existiere: „Es ist Unsinn, wenn die Westdeutschen so tun, als ob es nicht existiere, aber gleichzeitig Handel mit den Ostdeutschen in einer Größenordnung von 300 Millionen Pfund im Jahr treiben.“ Die Geschichte mit der Nicht-Anerkennung der Existenz Ostdeutschlands sei „reine Fiktion“. Es gehe darum, Ostdeutschland anzuerkennen, „nicht zu viel und nicht zu wenig. Die Franzosen wollen keine Wiedervereinigung, die Russen wollen sie nicht, und ich bin nicht sicher, ob die Deutschen sie wirklich wollen. Wir müssen nur am Anfang der Gespräche sagen, dass Deutschland eines Tages wiedervereinigt wird, und die Russen werden das so lange akzeptieren, als sie sicher sein können, dass nichts geschehen wird.“

Nur einer wollte damals die Mauer niederreißen: General Lucius D. Clay. Im Oktober 1961 kam es zu einer gefährlichen Konfrontation am Checkpoint Charlie. Erstmals standen sich amerikanische und sowjetische Panzer mit scharfer Munition auf Schussweite gegenüber. Am 25. Oktober schickte Clay ein Telegramm an Rusk, in dem er u. a. meinte:

„Falls wir bereit sind, einen schnellen, gewaltsamen Vorstoß nach Ostberlin durch- zuführen und beim Rückzug die Sperren niederreißen, wird das zur Konfrontation mit den Sowjets führen. Das andere bringt zur Zeit nichts.“

Rusk stellte unmissverständlich klar:

„Der Zugang nach Ostberlin ist für uns nicht von lebenswichtigem Interesse, das Gewaltanwendung rechtfertigt.“ Mit dem Bau der Mauer habe man das stillschweigend akzeptiert. Die Lage am Checkpoint Charly deeskalierte.

In selten drastischer Sprache machte Macmillan klar, was er von Clay hielt. Auf einem Telegramm von Steel notierte er, Clay sei immer schon ein „Scheißkerl “ gewesen, jetzt sei er „ein verbitterter Scheißkerl“ und eine Gefahr für die Allgemeinheit.

Gestörtes Deutsch-amerikanisches Verhältnis und Kennedys Berlin-Besuch

Mit der Mauer hatte die Sowjetunion im wahrsten Sinne des Wortes die Verhältnisse in Deutschland zementiert. Für Heinrich Krone war angesichts der Reaktion des Westens „die Stunde der großen Desillusion“ gekommen. Am Jahresende 1961 zog er eine bittere Bilanz:

„An der Mauer entlang ist Deutschland getrennt, verläuft die Grenze des kommunistischen Ostens gegen die freie Welt. Und – was wir immer nicht glauben wollten – die amerikanische Politik nimmt diese Grenze zur Kenntnis. Was später einmal ist, dass die Westmächte uns in Verträgen versprochen haben, dass sie nicht rasten würden, bis Deutschland wieder ein Volk und ein Land ist, das alles hat im Augenblick keine aktive Bedeutung.“

Im Gegenteil: die Amerikaner waren sogar bereit, in einer internationalen Autobahnbehörde Vertreter der DDR mit einzubeziehen und in der Bundesrepublik genauso viele Autobahnkilometer wie in der DDR kontrollieren zu lassen – zum Entsetzen Adenauers, bei dem alte Ängste hochkamen. Zu Botschafter Hans Kroll meinte er: „Trauen Sie den Amerikanern nicht; die bringen es fertig, sich auf unserem Rücken mit den Russen zu verständigen.“

Im Frühjahr 1962, über ein halbes Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer erreichte die Krise im deutsch-amerikanischen Verhältnis einen einsamen Höhepunkt. Es war eine „bedauerliche Trübung der Atmosphäre“, wie der deutsche Botschafter in Washington, Wilhelm Grewe, das freundlich formulierte. Wie sehr die Atmosphäre getrübt war, machte Kennedy im Gespräch mit Grewe am 19. Februar deutlich. Er erhalte laufend Berichte, nach denen von deutscher Seite ständig daran Kritik geübt werde, dass auf die Vereinigten Staaten kein Verlass sei. Und dann brach es förmlich aus ihm heraus:

„Warum ist es immer wieder notwendig, dem Bundeskanzler erneute Versicherungen der amerikanischen Verlässlichkeit und ihrer militärischen Stärke zu geben? Warum ist es so schwierig, die amerikanische Politik in Deutschland verständlich zu machen? Warum kritisiert Verteidigungsminister Strauß immer wieder die Verteidigungspolitik der Vereinigten Staaten? Es muss ihnen doch klar geworden sein, dass die Vereinigten Staaten ihre Verpflichtungen in Berlin bis zum Letzten erfüllen werden, genauso wie sie z. B. ihren Verpflichtungen gegenüber Vietnam nachkommen. Warum gelingt es nicht, das gegenseitige Vertrauen über längere Zeit hinweg zu bewahren?“

Im Frühjahr 1962 ruderten die Amerikaner zur Zufriedenheit Adenauers zurück: Es würde keine internationale Autobahnbehörde geben.

In der Kubakrise im Oktober 1962, als die Sowjetunion Raketen auf der Karibikinsel unweit den USA stationieren wollte, hielt Adenauer – „und zwar deutlich“ – zu den USA“ und war „klarer als viele andere Verbündete“, wie US-Botschafter Dowling dem Kanzler versicherte. Adenauer befürwortete nachhaltig „die Bombardierung und die Invasion“ der Insel, zeigte sich aber gegenüber dem britischen Botschafter erstaunt, dass die Amerikaner überhaupt in eine solche Gefahr geraten waren. Man hätte sich doch denken können, dass Chruschtschow mit dem Kubanischen Führer, Fidel Castro, „kein Fischereigeschäft betreiben wolle“.

Irgendwann gehörte die zum Alltag in Westberlin....

Im Sommer 1963 schienen alle Querelen im deutsch-amerikanischen Verhältnis vergessen. Vom 23. bis 26. Juni besuchte Kennedy die Bundesrepublik. Unvergessen sind jene Bilder der etwa 400.000 jubelnden West-Berliner vor dem Schöneberger Rathaus, wo Kennedy jenen Satz auf Deutsch sprach, der wohl immer mit ihm verbunden bleibt: „Ich bin ein Berliner!“ Bei der Verabschiedung in Berlin sagte Kennedy zu Adenauer, er würde seinem Nachfolger einen versiegelten Briefumschlag hinterlegen, was der tun solle, wenn die Lage besonders schlecht sei. Darin würden nur drei Wörter stehen, nämlich: „Go to Germany.“ Zu seinem engen Vertrauten, Theodor Sorensen, sagte Kennedy auf dem Flug nach Irland: „So etwas wie hier werden wir nie mehr erleben, solange wir leben.“

Ein weiteres Zitat von Kennedy zeigt jedoch, wie sehr sich Politiker wie er in ihrer langfristigen Einschätzungen irren konnten.Unmittelbar nach dem Mauerbau sagte Kennedy intern nachweislich Folgendes:

„Es ist doch einfach idiotisch, dass wir wegen eines Vertrages, der Berlin als zukünftige Hauptstadt eines wiedervereinigten Deutschlands vorsieht, mit der Gefahr eines Atomkrieges konfrontiert sind, wo wir doch alle wissen, dass Deutschland wahrscheinlich nie mehr wiedervereinigt wird.“


[1] Emeritierter Professor für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck.