West-Berlin, ein Höhlengleichnis

Von Wolfgang Büscher[1]

Je länger West-Berlin her ist, desto irrealer erscheint es. Gab es diesen Ort überhaupt? Und falls doch, war es wirklich ein Ort oder eher ein Geisteszustand? Meine Kinder, aufgewachsen in einem wie selbstverständlich ungeteilten Berlin ohne Bindestrich, schauen ein wenig ungläubig, wenn ich, was selten vorkommt, die Erinnerungskiste „West-Berlin“ öffne. Staubiger alter Kram, Flohmarktzeug, Vater erzählt von der Zeit nach dem Krieg.

Und sie haben ja recht. West-Berlin, das war die angehaltene Zeit, das war diese Stadt nach dem Krieg, und sie blieb es, als überall sonst der Krieg längst historisch geworden war. West-Berlin, das war die Höhle der Bilder irgendwo tief im Osten. Für geborene Westdeutsche wie mich führten drei Zeittunnel dorthin: einer von Hof, einer von Helmstedt, einer von Hamburg her. Für mich waren es wirklich nur diese drei Tunnel. Im Frühjahr 1983 erhielt ich Einreiseverbot in die DDR, und das blieb so. Bis der ganze Mauerspuk 1989 zersprang, waren die drei Transitstrecken sechseinhalb Jahre lang meine einzigen Stollen aus und nach West-Berlin.

Bei Hof oder Helmstadt kroch ich hinein, an der Avus kroch ich heraus. Gern nachts. Dann war es eine Fahrt durch vollkommene Finsternis, wie es sich für einen Stollen gehört, und am Ausgang Dreilinden wartete der Lohn der Finsternis, und erst recht an der Avus-Ausfahrt Halensee: Der Ku’damm leuchtete. West-Berlin leuchtete. Ein bisschen.

Um dieses Leuchten tief zu empfinden, befreiend, musste man durch die DDR hergefahren sein, wo nichts leuchtete. Gar nichts. Lebte man aber in West-Berlin, ließ die Leuchtwirkung bald nach. Man wurde die Düsternis gewahr, die zugige Existenz im Weitweg von allem, die Höhle. Zumal im Winter. Mein erster West-Berliner Winter war eine Initiation in die Höhlenregel. Als Höhlennovize landete ich, na klar, als Untermieter in Kreuzberg, das mit dem heutigen internationalen Ausgehviertel nichts, aber auch gar nichts zu tun hatte. Kreuzberg -61 immerhin- Nostizstraße, vierter Stock.

Das Zimmer, das man mir zuwies, war die Küche der Wohnung gewesen. Es war keine Wohnung mehr. Es war die Ruine einer Kreuzberger Beziehung. Die Küche war frei, ich zog ein. Und ich bewohnte sie nicht allein. Ich teilte sie mit dem etwa achtzigjährigen, ausladend gemauerten Herd. Ich mochte ihn nicht. Er machte sich breit, allzu breit, er musste raus. Mit Hammer und Meißel trug ich ihn ab. Trug den Schamott aus Kaiser-Berlin, den Ruß aus Vulkan-Berlin, die Kohlereste aus Hitler- und Kennedy-Berlin eimerweise hinab in den Hof.

Alles war düster auf meinen Wegen treppab, treppauf, und auch sonst in diesem ersten Winter. Meine Straße, mein Viertel, mein Hofgang, mein Himmel. Der Himmel von West-Berlin glich den tiefer gehängten Zimmerdecken in Altbauwohnungen, deren Bewohnern die alte Stuckpracht und Deckenhöhe unerträglich war. Die bevorzugte Kleidung dieser Bewohner war schwarz.

Es glaubt mir keiner, ich weiß, aber West-Berlin war ein düsterer Ort. Das Klima war noch nicht in der Krise, dieser Winter war eisig und hart. Nur selten – man kann sich das heute wirklich nicht mehr vorstellen – leuchtete in der Kreuzberger Düsternis ein Licht. Ein Ladenlicht für Bestattungen oder andere Reisen und wenn man Glück hatte, die fahle Säufersonne einer Eckkneipe.

Alisch war eine in meiner Nähe. Paar Stufen hoch, da stand der Wirt dieses Namens hinter seinem Tresen, ein stoischer Zapfer, und zapfte und zapfte und sagte kein Wort. Ich weiß nicht, was mich ritt, ihn zu reizen. Ich hatte ihn im Verdacht. Ich hatte die Höhle im Verdacht. Krumme Geschäfte. „Palette Videorekorder. Interesse?“ Er zapfte. Ich wartete. Als ich seine Antwort nicht mehr erwartete, sagte er, ohne aufzublicken: „Wann kannste liefern?“ Da wusste ich, woran ich war.

Schräg gegenüber die Billard-Kneipe. Neonröhren. Alles so kalt, so nackt wie möglich. Gast an der Theke zum Gast, der am Billardtisch gegen sich selbst spielt: „Biste Kanake?“ Der Spieler, mäßig empört: „Bin kein Kanake. Bin Jugo.“ Und spielt weiter. Der am Tresen bestellt noch ein Gedeck. So gingen die Tage, die Nächte dahin.

Wollte ich mich mal richtig waschen, ging ich zum Volksbad. Da gab es Kabinen mit Badewannen drin, eine neben der anderen, in der oberen Etage. Die Bademamsell in ihrer weißen Kittelschürze reichte mir Seife und Handtuch, wies mich in eine ihrer Zellen, schloss die Tür. „Beeilung, nach 30 Minuten ist Schluss!“ Die Wanne war tief und beinahe rechteckig, ein römischer Sarkophag, wie kam er hierher? Wasser einlassen, ausziehen, reinsteigen, einseifen. Dösen. Die rätselhafte Schrift der Risse an den Wänden betrachten, die gelb-bräunlichen Aquarelle, an die Decke gehaucht vom Wasserdampf der Epochen. Seliges Wegdämmern, opiatisches Driften. Dann der Schlag gegen die Tür. „Zeit is‘ rum! Raus!“ Die Bademamsell.

Wir reden über die achtziger Jahre. Über eine Zeit lange nach dem Krieg – anderswo. Über eine Zeit, in der es ein München gab mit seinen Filmleuten, seinen Bars und Cabrios, seinem: „Ich fahr heut nach Verona, kommst‘ mit?“ In der es ein Frankfurt gab mit seinen Banken, seinem himmelstrebenden architektonischen Amerikanismus. Und ein Bonn, das Weltbühne spielte im Kammerformat. All das muss man sich vor Augen halten, um zu verstehen, wie unfassbar weit weg West-Berlin von alldem lag. Wie sehr es Höhle war, Bilderhöhle.

Lebende Bilder aus fernen Zeiten gingen hier um. Junge Männer in Lederjacken im Thälmann-Stil. Junge Frauen in Opas knielangen Oberhemden. Es roch auch so. Die Klamotten hatten lange in einem der Antik-Läden im Souterrain gehangen, das Aroma kriegte man nicht mehr raus. Kaiser-Wilhelminismus und Rosa-Luxemburgismus mit Mottenpulver. Und nebenan die Kohle-Handlung. Und wenn es hoch kam, irgendwo ein Öko-Café mit Rastazopf und steinhartem Kuchen. Aber nur eines. Die Leidensmystik der Höhlenmütter. 

Irgendwann wurde es Sommer. Niemand, der nicht diese Winter durchlebte, kann die Erlösung ermessen, die diese Sommer gewährten. Eines Abends ging ich zu einem Konzert. Ein besetztes Haus hart an der Mauer, im Ödland um den Anhalter Bahnhof. Oder war es gar nicht besetzt, stand es bloß als Ruine da, letzter kariöser Zahn im Stadtskelett, und wurde nur hin und wieder für Nächte wie diese benutzt? Wer weiß das. Stockfinster das Treppenhaus, kahl wie ein Rohbau. Ich tastete mich hinauf, immer dem Lärm nach. Hier hatten mal Menschen gelebt. Hier hatte man mal gewohnt, nahe dem belebten Bahnhof. Hatte gearbeitet. Geheiratet. Kinder großgezogen. Lange her. In einer ehemaligen Wohnung, vollkommen lichtlos auch sie, die Punk-Band, die den Krach machte. Es ging nicht um Musik, es ging um die Feier von Dilettantismus und Bier.

Ich tastete mich durch die Finsternis höher, bis ich unterm Nachthimmel stand. Das Dach des Hauses fehlte, weggebombt wahrscheinlich, ich stand auf der Decke der Wohnung im vierten Stock. Nach und nach gewöhnten sich meine Augen an das Dunkel, aus dem hier und da ein fernes Licht glühte. Ich war nicht allein hier oben. Ein paar junge Männer lagen im Anschlag wie im Häuserkampf, aber dem echten, nicht dem, was man damals in Kreuzberg darunter verstand. Sie hatten eine Pistole, und sie hatten Munition. Sie schossen über die nahe Mauer hinweg auf ein Haus dort drüben. Das war so lichtlos, so unbewohnt augenscheinlich wie dieses hier. Eine schwarze Silhouette in der Schwärze der Nacht. Sie schossen auf die Fenster. Glas splitterte. Ich fragte mich, ob die Grenzer von drüben zurück feuern würden und ging in Deckung hinter einem abgebrochenen Schornstein. Die jungen Männer gehörten, ihrer Art und Kleidung nach, zum Punk-Publikum, das weiter unten lärmte und trank. Sie lachten und schossen nochmal. Sie hatten Spaß an der Sache.

Ein prophetischer Moment, ganz und gar unfreiwillig. Die Kinder von Kreuzberg spielten Krieg. Einen Krieg, in dessen Ruinen es sich herrlich hausen ließ. Einen Krieg, an den keiner mehr glaubte. Einen Krieg, der aber nur schlief. Der genauso wiederkehren würde, wie sie ihn spielten. Später in Sarajewo, noch später in Cherson. Zahn um Zahn, Haus um Haus. Sie spielten und spielten. Auch das Ende des Mauerspuks spielten sie, anderthalb Jahre, bevor es geschah.

Mitten in der Stadt kam es im Mai 1988 zu einem Gebietstausch mit der DDR. Das Lenné-Dreieck wurde aus der Umarmung der Mauer entlassen und kam zu West-Berlin. Ein vollkommen braches Stück Zentrum. Die Kinder von Kreuzberg freute das. Sie hatten einen wunderbaren neuen Abenteuerspielplatz. Sofort besetzten sie die Brache, bauten Zelte und Erdhöhlen und freuten sich ihres Lebens. Dann kam der Tag der Räumung, und ich sah etwas Unglaubliches. Etwas abermals Prophetisches.

Die Kreuzberger Spielschar lief zur Mauer, die an die Kante der Brache zurückgesetzt worden war und kletterte hinauf. Auf der Mauerkrone erschienen uniformierte Grenzer. Sie aber, die noch vor kurzem jeden erschossen hätten, der es gewagt hätte, ihre Mauer zu erklimmen, reichten nun den Kreuzberger Kindern ihre helfenden Hände. Sie halfen ihnen hinüber in die DDR auf ihrer Flucht vor der West-Berliner Polizei. Stullen und Kaffee hätten in Ost-Berlin für sie bereitgestanden, berichteten sie, nachdem sie guter Dinge in den Westen wiederkamen.

Es fällt schwer, jemandem, des das alles nicht kannte, zu erklären, was dieses Bild auf der Mauerkrone in mir auslöste. Die Mauer war die Körpergrenze von West-Berlin. So sehr, dass man sie kaum mehr wahrnahm. So wenig, wie man den eigenen Atem wahrnimmt oder den eigenen Arm. Die Mauer war die Wand, die die Höhle umschloss. Die steinerne Umarmung, in der West-Berlin sich angewöhnt hatte zu existieren. Die Wut, der Schmerz der ersten Jahre nach dem Mauerbau, das Anrennen und Protestieren gegen den Schnitt durch die Stadt, wie bald war das alles verglüht und verraucht.

Die Mauer wurde liebe West-Berliner Gewohnheit und blieb doch Tabu. Nicht ganz geheuer, der fremde Graue im Saal. Der tut nichts, nein, der tut nichts, aber ein Rest des Unheimlichen bleibt. Ab und zu wurde geschossen. Nichts Ernstes, einer blieb liegen, man sprach nicht groß drüber. Und jetzt das. Als ich die Hüter der Mauer sah, wie sie den Kreuzberger Kindern hinüberhalfen, da sah ich, wie das Tabu fiel. Wie der Schrecken verfiel, unwiderruflich. Die Mauer war weg. Sie wusste es bloß noch nicht. Die Kreuzberger Kinder wussten es auch nicht. Aber sie spielten es. Das reichte fürs erste. Ich wusste Bescheid.

 


[1] Autor und Journalist.