Die deutsche Teilung als zentraler Modus der „Vergangenheitsbewältigung[1]

Von Gerd Koenen[2]

Es war einige Tage vor dem 9. November 1989, als mich eine Anfrage der US-Fernsehgesellschaft NBC erreichte, die für ihre aus aller Welt nach Deutschland einfliegenden Reporter sogenannte „Researcher“ suchte, Leute also, die diesen Journalisten aus dem Stegreif erklären konnten, wann „diese Berlin-Blockade“ denn eigentlich gewesen war (1948), oder: „Who exactly is Egon Bahr? “, wohlgemerkt, schon auf der Fahrt zum Interview mit Mister Bahr. Die fünf Teams, die in kurzer Folge hier in Frankfurt einliefen, waren im übrigen gerade im Juni erst in Beijing zusammen unterwegs gewesen, „during the Tienanmen-events“, dem Massaker, das chinesische Sicherheitskräfte im Frühjahr 1989 gegen Pekinger Demonstranten, meist Studenten, angerichtet hatte.

Erst hätte ich mit einem Team in ein Auffanglager für Flüchtlinge an der tschechischen Grenze fahren sollen – aber dann am 7. November hieß es: Alle nach Berlin! Dort war unser Auftrag, eine Reportage über eine durch die Mauer geteilte deutsche Familie zu machen, die in Sichtweite voneinander wohnen sollte und möglichst an Versuchen beteiligt gewesen war, die Mauer zu untertunneln, um Angehörige aus dem Osten herauszuschmuggeln. Vergeblich versuchte ich meinen amerikanischen Kollegen zu erklären, dass dies arg naiv gedacht sei, dass die Deutschen auf beiden Seiten der Mauer sich längst separiert und auseinandergelebt hätten, usf. Sie waren nicht zu beirren, und am 9. November hatten wir diese idealtypische Home-Story fast beisammen.

Dann kam nach 18.00 Uhr die Pressekonferenz mit Günther Schabowski. Kaum war sie vorbei, stürzten meine Kollegen an die Telefone und vor die Kameras, um in die USA zu melden: „The Berlin Wall is breaking“. Wieder tippten wir Deutschen im Team uns unisono an den Kopf: Die spinnen, die Amerikaner! Zwar sollte die Neuregelung für den Grenzübertritt Richtung Westen „ab sofort“ gelten, aber das hieß natürlich: Ab morgen. Dann würden die Ostberliner sich in lange Schlangen stellen und ein Tagesvisum besorgen können. Das Beste wäre, heute früh schlafen zu gehen, um morgen beizeiten zur Stelle zu sein. Nicht zu machen mit meinen NBC-Kollegen, die wie ihre Konkurrenten von ABC und CBS bereits hektisch dabei waren, am Brandenburger Tor und verschiedenen Grenzübergängen große Hebe-Bühnen mit Kränen und Scheinwerfern in vorderster Linie aufzubauen, während vom Ersten und Zweiten Deutschen Fernsehen noch nichts zu sehen war.

Auch wir schwärmten also wieder aus, mein Team zum Checkpoint Charlie, dem alliierten Übergang, wo sich amerikanische und sowjetische Militärpolizisten nervös gegenüberstanden und die Grenze martialisch abriegelten -.weil sich ausgerechnet hier ab 20.00 Uhr die Kreuzberger Szene unter schwarz-roten Anarchofahnen versammelt hatte und spielerisch das Überschreiten der weißen oder roten Linie von Westen her übte, unter Absingen von Liedern wie „Reih Dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil Du auch ein Arbeiter bist!“ Eine surreale Szene, und noch hatten wir keine Ahnung, was an anderen Stellen gerade passierte. 1989 war noch nicht das Zeitalter der Mobiltelefone. Erst als wir kurz nach 22.00 h zurück zum NBC-Stützpunkt im Budapester Hof fuhren und ich auf mein Hotelzimmer hochging, rief meine Frau an und fragte, ob ich denn nicht wüsste, was los sei. Ich stürzte wieder nach draußen, konnte schon kein Taxi mehr finden, die ganze Stadt hatte sich schlagartig in einen Bienenkorb verwandelt, also lief ich die Kilometer zum Moritzplatz hoch; vereinzelt begegneten mir schon Leute, die an ihren Jeanskluften als Bewohner dieses unbestimmten „Drüben“ erkennbar waren, die ersten Trabis waren zu sehen, und am Übergang kamen sie dann schon in dichten Kolonnen, während eingehakte Vopos beschäftigt waren, die von Westen nach Osten Vorwärtsdrängenden abzuwehren, unter die ich mich versuchsweise dann auch gemischt habe – vergeblich.

Irgendwann nach Mitternacht habe ich einen der Trabis mit zwei jungen Leuten angehalten, bin mit ihnen durch die Stadt gefahren, wir haben uns in den hupenden Corso von Ostautos auf dem Kudamm eingereiht, und das Mädchen rief immer wieder: „Zwick mich, ick gloobs nich!“ Und das ist für mich der Satz dieser Nacht des 9. November 1989 geblieben.

Nun hätte ich wie Goethe über die Kanonade von Valmy „sagen dürfen, ich bin dabei gewesen“. Eher fällt mir allerdings Robert Musil ein, der notierte: „So also sieht Weltgeschichte aus der Nähe aus! Man sieht nichts.“ Ganz so war es nicht, man sah und spürte natürlich sofort, dass die Welt nach diesem Dammbruch nicht mehr dieselbe sein würde. Das Eigentümliche war nur, dass sich dieses historische Ereignis in einer derart undramatischen, man möchte sagen: „undeutschen“ Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit vollzog, so als wären die „von drüben“ einfach durch eine Tapetentür gegangen. Wie hatte man dieses unmittelbare, absurde Nebeneinander gleich hinter der Wand aber derart ignorieren und sich in diesem Weltzustand einrichten können?

In seinem wunderbaren Buch „Drei Stunden Null“ – gemeint waren die Jahre 1945, 1968 und 1989 – hat Wolfgang Büscher, der den größten Teil seines erwachsenen Lebens in Westberlin verlebt hat, genau über dieses eigentümlich schwerelose, irgendwie derealisierte Leben in der ehemaligen Frontstadt vor oder hinter der Mauer (je nach Perspektive) geschrieben:

„Die Mauer ging durch die Stadt wie ein Gerücht ... Das Ding war häßlich gewesen, früher einmal, aber es zog keinen Haß mehr auf sich – nur Kunst. Um 1427 malte ein junger Florentiner die Heilige Dreifaltigkeit auf eine Kirchenwand. Als das Fresko enthüllt wurde, löste es starke Verwunderung aus. Die Wand, die doch nur eine Wand war, öffnete sich vor aller Augen tief in den Raum einer Kapelle hinein. Der Maler Masaccio hatte die lange vergessene dritte Dimension der Bilder wiedergefunden, die Passage in den Raum. In Berlin zeigte es sich, daß der Pfad der Wahrnehmung auch zurückführt. Wie eine Kirchenwand ein Raum werden kann, kann ein ausgesprochen räumlicher, die Stadt umgreifender, teilender Körper zur Tapete schrumpfen. Man bemalt und besprüht das Ding so lange, bis es auf nichts mehr verweist als auf sich selbst ... Nur noch ahnungslose Touristen stiegen auf die Aussichtsplattformen des Kalten Krieges. Der aufgeklärte Maueranrainer wußte: Es lohnt nicht nachzuschauen. Da ist nichts hinter der Wand.“

So ist es tatsächlich gewesen: Für ein ständig wachsendes Segment der Westdeutschen und Westberliner war gerade die DDR zu einem weithin unbekannten Land, oder vielmehr: zu einem weißen Fleck auf der Netzhaut ihres Weltbildes geworden. Dieser im Nachhinein schwer verständliche Umstand resultierte aber aus einem sozialpsychologischen Prozess, der sich nicht allein aus der physischen Macht dieses schäbigen Bauwerks oder der bloßen Gewöhnung an die Teilung erklären läßt. Immerhin repräsentierte die Mauer ja nicht nur eine Teilung Berlins und Deutschlands, sondern eine Teilung Europas, sogar eine Teilung der Welt. Aber gerade die Westdeutschen – mit den Ostdeutschen verhielt es sich etwas, aber nicht völlig, anders – hatten sich in dieser geteilten Welt eingerichtet, jede Generation allerdings auf ihre eigene Art und Weise.

Natürlich waren die Linien der Teilung sowohl Deutschlands wie Europas im Kern diejenigen, an denen die Armeen am Ausgang des zweiten Weltkriegs zum Stehen gekommen waren. Dennoch griffe es zu kurz, die deutsche Teilung ausschließlich als ein Diktat der Sieger und zwangsläufiges Ergebnis ihres Kalten Kriegs zu betrachten. Das war sie zweifellos auch, aber es muss eben doch einiges in der gesellschaftlichen und psychischen Verfassung der Nachkriegsdeutschen gegeben haben, das dem entgegenkam.

Dazu ein paar Überlegungen: Deutschland war nie ein klassischer Nationalstaat. Über Jahrhunderte lebten die Deutschen in der beschützenden Sphäre einer kleinstaatlichen, pfahlbürgerlichern, „heimatlichen“ Existenz – oder sie strebten hinaus in die Sphäre eines erweiterten „Reichs“. So rückte die Politik und Publizistik des eben erst konstituierten Wilhelminischen Reiches die aufstrebenden Deutschen bereits in die Rolle eines „Weltvolks“, das prädestiniert sei, die Weltpolitik, Weltwirtschaft, Weltkultur, Weltarbeit usw. in einer noch tiefer greifenden Weise zu bestimmen als das insgeheime Vorbild und der Hauptrivale Großbritannien.

[…]

Wenn man fragt, wie die Deutschen sich von diesem tiefsten Punkt ihrer Geschichte in den Jahren nach 1945 so vergleichsweise rasch und reibungslos in einen neuen, zivilgesellschaftlichen Zustand haben überführen lassen, wird man die Gründe jedenfalls kaum in einer erfolgreichen alliierten Reeducation oder sozialistisch-antifaschistischen Umerziehung, und noch weniger in einer eigenen, tiefgehenden politisch-moralischen Läuterung finden. Ein Faktor dessen war, dass sich die beiden beschriebenen Komponenten der deutschen historischen Existenz – das Pfahlbürgerliche und das Großreichsdenken – auf eine neue Weise kombiniert haben. In Gestalt der westdeutschen Bundesrepublik wie der DDR kamen einerseits die älteren, kleinstaatlichen, föderalen, „heimatlichen“ Existenzformen der Deutschen wieder zu ihrem Recht. Die Deutschen – um es zuzuspitzen – waren durchaus teilbar, jedenfalls entlang bestimmter historischer Bruchlinien, wie die Elbgrenze eine war. Die DDR, aber auch die Bundesrepublik und die westdeutschen Bundesländer trugen viele Züge der alten deutschen Kleinkönigreiche und Duodez-Fürstentümer. Andererseits war die neue Nachkriegsordnung, die sich in zwei einander gegenüberstehenden Militärblöcken materialisierte, im Kern um die beiden deutschen Staaten herum konstruiert, jedenfalls in Europa. Das spielte ihnen beiden als Mit-Garanten des europäischen Status quo eine Bedeutung zu, die weit über das hinausging, was sie als Teilstaaten jeweils an politischem oder wirtschaftlichem Gewicht repräsentierten.

Insofern bot der 1947/48 ausgebrochene „Kalte Krieg“ für die Bürger beider deutscher Staaten – in allen traumatischen Härten und Risiken, und vielleicht gerade in Verbindung damit – auch Tröstungen und Chancen. Indem sie für die eine oder die andere Siegermacht optierten, brachten sie, die eben noch historisch-moralisch Schwerstbelasteten, sich auf die Seite der Sieger und der Gerechten und standen auch gleich schon in vorderster Frontlinie gegen die neuen, und wie sich nun herausstellte, die eigentlichen Weltfeinde: hier die Kommunisten oder Sowjets, dort die Kapitalisten und Imperialisten. Man schlüpfte also in eine neue demokratische oder sozialistische Haut – und hatte sofort neue, weite Perspektiven. Die „freie Welt“ reichte bis Hawai, das in den deutschen Schlagern der fünfziger Jahre unermüdlich besungen wurde, während das „Weltfriedenslager“ bis zum Amur und an den Jangtse reichte und ebenfalls mit russisch-schwermütigem Timbre besungen wurde.

Eine andere, verschwiegenere Basis dieser zunehmenden Stabilisierung und westlichen Akkulturierung war die Art und Weise, wie das Gros der Bundesbürger die moralisch-politischen Hypotheken der jüngsten deutschen Geschichte „bewältigte“. Auch dafür, so möchte ich behaupten, spielte die deutsche Teilung eine zentrale Rolle.

Dazu gehörte insbesondere auch die Art und Weise, in der eine übergroße Mehrheit vor allem der Westdeutschen die staatliche und politische Spaltung halb-bewußt in Kauf genommen hat, ohne sich allerdings dazu zu bekennen. Im Gegenteil, große demoskopische Mehrheiten hielten über Jahrzehnte hinweg die „deutsche Wiedervereinigung“ als das Staatsziel Nr. 1 hoch. Jenseits dieses leeren Anspruchs waren die Bundesbürger aber weit davon entfernt, irgendwelche Konsequenzen zu ziehen. Diese scheinbar patriotisch motivierte Nichtanerkennung der deutschen Teilung zeitigte zwangläufig paradoxe Resultate. Indem die real existierende DDR die ganzen 50er/60er Jahre hindurch nur als „die Zone“ bezeichnet und bis in die frühen 80er Jahre hinein in den konservativen Zeitungen, vor allem des Hauses Springer, nur in Gänsefüßchen genannt wurde, rutschte sie als ein Nicht-Staat, eine Non-Entität, ein unbestimmtes „Drüben“ umso mehr aus dem Bewußtsein der Bundesbürger hinaus. Zwischen Sonntagsreden und Alltagsbewußtsein entstand eine solche Kluft, daß man wohl von einem chronisch gespaltenen Bewußtsein sprechen darf.

Ich würde noch weiter gehen und sagen, dass die Inkaufnahme der deutschen Teilung zu einem zentralen Modus der „Vergangenheitsbewältigung“ wurde. Man hatte für die Verbrechen des Nationalsozialismus und  einen von Deutschland entfesselten, mörderischen Weltkrieg schließlich „bezahlt“ – nicht nur durch die zerstörten Städte und Millionen der eigenen Kriegs-, Bomben-, Vertreibungs- und Lageropfer, die Wiedergutmachungsleistungen an Israel und an einige der jüdischen Überlebenden, sondern auch noch in Gestalt der verlorenen Ostgebiete – und schließlich auch der DDR, die als historische Konkursmasse stillschweigend abgeschrieben wurden. Man hatte – wenn man es zuspitzen will – Geschichte gegen Territorium getauscht und konnte danach neuen Ufern zustreben.

Den heute gern als Verderbern eines natürlichen gesamtdeutschen Patriotismus blamierten „68ern“ kann das zumindest nicht von Haus aus ins Sündenregister geschrieben werden. Fast im Gegenteil: Die Außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik mit ihren intellektuellen Vorläufern aus der „58er“-Bewegung hatte sich ursprünglich gerade auch gegen diese Doppelbödigkeit und Heuchelei der offiziellen Politik und des gesellschaftlichen Bewußtseins gerichtet, einschließlich der absehbaren Zementierung der deutschen Teilung durch die Wiederbewaffnung und geplante Stationierung von Atomwaffen. Die Nichtanerkennung des Godesberger Programms der SPD, die 1961 zum Ausschluss des Kerns der späteren APO-Aktivisten, des SDS, geführt hatte, hatte sich nicht zuletzt gegen die Wendung dieser größten Oppositionspartei zur Politik der Adenauerschen Westintegration gewendet. So waren die neuen Frontstellungen zwischen APO und Establishment (um in den Begriffen dieser Jahre zu sprechen) hoch paradox.

Das lässt sich an keiner Figur so deutlich diskutieren wie an der des kurz vor dem Mauerbau 1961 aus der DDR abgehauenen Rudi Dutschke und seiner engeren Gefährten, wie etwa Bernd Rabehl. Tatsächlich finden sich in Rabehls wie Dutschkes Texten aus den Jahren 1967/68, etwa dem hunderttausendfach verkauften rororo-Band „Rebellion der Studenten“, Zitate, die sich heute ziemlich erstaunlich lesen. Dutschke etwa sprach wiederholt vom „Verrat der CDU an der deutschen Wiedervereinigung“. Und Rabehl berichtete emphatisch über die Wochen nach dem 13. August 1961, als „die gutgläubigen Studenten und die Arbeiterjugend“, darunter er selbst wie Dutschke, die Mauer zu stürmen versucht hätten: „Die Ernüchterung folgte schnell und zog die Erkenntnis nach sich, dass der Mauerbau mit Zustimmung der USA stattgefunden hatte.“ Die USA, so Rabehl weiter, hätten sich mit dieser Neubestätigung der Weltordnung von Teheran, Jalta und Potsdam die Freiheit erkauft, „ungestört die Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt zu zerschlagen“. Gleichzeitig habe die defensive Haltung der westberliner und bundesdeutschen Politiker klar gemacht, „dass sie nicht zur ‘entscheidenden Tat’ bereit waren“. Kurzum, „das Desinteresse der Westmächte und der Bundesregierung an der deutschen Einheit“ sei grundlegend für die Erfahrung und Einsicht der jugendlichen Mauerkämpfer von 1961 gewesen, dass „die vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse in den Metropolen mit den Befreiungskriegen in der Dritten Welt“ zusammengedacht werden müssten. Diese Evozierung einer mythischen „Dritten Welt“ als Ausbruch aus der zementierten Weltordnung war, so könnte man fast sagen, die Kernidee von 1968.

Nicht nur bei Dutschke gab es – auch über das Jahr 1968 und das fast tödliche Attentat des ebenfalls aus der DDR stammenden jungen Rechtsradikalen Josef Bachmann hinaus – den Phantomschmerz eines unbestimmten „Leidens an Deutschland“, an „der Eigenartigkeit des deutschen Volkes“, an seiner „Geschichtslosigkeit“ und „Identitätslosigkeit“, wie seine amerikanische Frau Gretchen voller Irritation bei ihrem Mann beobachtet hat. Nur dass dieses „Leiden an Deutschland“ sich je länger, je mehr an der Ignoranz der eigenen, vor allem der jüngeren westdeutschen Genossen stieß, die kaum noch ein Organ dafür hatten. Auch sie strebten neuen, allerdings ganz anderen Ufern zu, als es das Gros der Bundesbürger ohnehin tat. So blieb die Welt hinter der Mauer für das Gros der bundesdeutschen Linken der 70er Jahre ebenso imaginär wie das rote China oder Vietnam, Albanien oder Kuba – alle diese fernen Projektionsflächen eines vermeintlich ganz „Anderen“, das die Realität der eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse transzendierte.

Es ist kein Zufall, daß erst der Film eines Jüngeren, Oskar Roehlers „Die Unberührbare“ von 2000, gezeigt hat, welche unsichtbare Macht „die Mauer“ auf die Köpfe dieser ersten bundesdeutschen Nachkriegsgeneration ausgeübt hat. Der Film zeichnet ein Psychogramm seiner Mutter, der Schriftstellerin Gisela Elsner, die ihn als Kind fortgegeben hatte, um ihren Ekel an der Welt der Bundesspießer, der „Riesenzwerge“ (so der Titel ihres bekanntesten Romans) auszuleben und sich als eine kommunistische Parteischriftstellerin und strenge, schöne Priesterin eines pharaonischen Lenin-Privatkultes selbst völlig neu zu erfinden. Der Film zeigt ihre tiefe Verstörung nach dem Mauerfall 1989 und endet (wie im wirklichen Leben) mit ihrem Selbstmord. Was in den Begegnungen mit den real existierenden Menschen der plötzlich in Auflösung übergangenenen DDR in ihr – so sagt die Heldin des Films es an einer Stelle – „wie ein Bovist geplatzt“ und „zu Staub geworden“ sei, war eben weniger eine tiefe politische Überzeugung als vielmehr eine negative, künstliche Identität, die der realen DDR niemals hatte näher treten wollen, sondern sich ihrer nur als eines fiktiven Anderen und Gegenübers zur Welt der Bundesrepublik bemächtigt hatte. Darin liegt die metaphorische Kraft dieser wahren Geschichte.

Und – selbst? Für mich selbst könnte ich ja durchaus in Anspruch nehmen, dass ich durch die intensive Beschäftigung mit der polnischen Arbeiter- und Bürgerrechtsbewegung „Solidarität“ seit 1980 und meine vielfältigen Kontakte mit osteuropäischen und russischen Oppositionellen ein eher untypisches Sensorium für die Unhaltbarkeit der (ost)-europäischen Nachkriegssituation entwickelt hatte. In meinem Buch „Der unerklärte Frieden“ von 1985 antizipierte ich unmittelbar vor dem Machtantritt Gorbatschows eine „große Reform von oben“ in der Sowjetunion, die mit Bemühungen Moskaus verbunden sein könnte, die „deutsche Frage“ als Hebel einer Öffnung nach Westen, aber auch einer Spaltung der westlichen Allianz ins Spiel zu bringen, etwa durch den Vorschlag eines Friedensvertrags und einer deutsch-deutschen Konföderation. Im September 1989 gründeten wir in Frankfurt das „Palais Jalta“, das sich das Ziel einer Überwindung der Teilung Europas aufs Panier geschrieben hatte.

Und doch war ich, als ich am 9. November in Berlin (eher zufällig) den Mauerfall „live“ erlebte, völlig überrumpelt. Allerdings würde ich auch heute behaupten, dass der Bruch der Berliner Mauer eher ein europäisches als ein deutsches Ereignis war – auch wenn die demokratisch-fordernde Losung „Wir sind das Volk“ der Leipziger Montagsdemonstranten bald schon durch das patriotisch-appellative „Wir sind ein Volk“ ersetzt wurde. Es war – im historischen Rückblick vielleicht noch deutlicher erkennbar als damals – tatsächlich weniger die heiße Sehnsucht der schmerzlich getrennten Deutschen „Hüben und Drüben“ und ihre machtvolle Forderung nach einer Wiedervereinigung, die die Mauer zum Einsturz gebracht und den Eisernen Vorhang definitiv zerrissen haben. Sondern es war der sich sukzessiv aufbauende Druck einer vielfältigen, von Osten nach Westen verlaufenden Ereignisfolge, einer Kette von inneren Erschütterungen und Erosionen des sowjetischen Machtblocks.

Diese Erschütterungen und Erosionen hatten im Frühjahr 1989 beim Runden Tisch in Warschau und in den halbfreien polnischen Wahlen im Juni bereits erste entscheidende Durchbrüche erzielt. Entsprechendes gilt für die Gedenkkundgebungen für die Toten von 1956 im Juli in Budapest und die anschließende Öffnung der Grenze nach Österreich, dann die Durchfahrt der Prager DDR-Flüchtlinge und die großen Leipziger Demonstration im Oktober, und schließlich der 4. November mit seiner Großdemonstration in Ostberlin. Und natürlich hing für einen guten Ausgang alles davon ab, dass die sowjetische Führung unter Michael Gorbatschow, die in ihrer ganz eigenen Bredouille steckte, es damals weder für opportun noch für machbar hielt, den Weg des Massakers zu gehen, den die Pekinger Führung im Juni erst gegen die Demonstranten auf dem Tianmenplatz eingeschlagen hatte. Noch hätte allerdings niemand (in Moskau wie im Westen) im Traum daran gedacht, dass die Dominokette der Regierungsstürze in Osteuropa binnen weniger Monate auch die Sowjetunion selbst erfassen und dass die vermeintliche zweite Supermacht dieses Zeitalters im Jahr 1991 derart sang- und klanglos kollabieren könnte.

Wendet man auf diese Ereigniskette der Jahre 1989-91 die Leninsche Definition einer revolutionären Situation an, die dann eintritt, wenn die Herrschenden nicht mehr können und die Beherrschten nicht mehr wollen, handelte es sich zweifellos um eine Kette von Revolutionen – die aber vor allem deshalb so relativ friedlich verliefen, weil die Herrschenden selbst nicht mehr weiter wussten. Es waren also, ohne den Mut der Streikenden in Danzig oder der Montagsdemonstranten in Leipzig zu verkennen, doch eher Implosionen oder Involutionen als Aufstände oder klassische Revolutionen. Wenn der Fall der Mauer diese lange Ereigniskette tatsächlich irreversibel machte, dann vor allem deshalb, weil damit auch die innerste Klammer der zementierten europäischen Nachkriegsordnung zersprungen war. Das war die präzise historische Bedeutung des 9. November 1989 in Berlin, die ihr insoweit schon den Rang eines Schlüsselereignisses gibt.

Dass der Fall der Mauer und die friedliche Revolution, die das bewirkt hat, bis heute – allen routinierten medialen und staatspolitischen Seelenmassagen zum Trotz – kein selbstverständlicher Teil eines republikanischen Selbstbewusstseins und Selbstbilds der Bundesbürger Ost und West geworden ist, hat freilich noch einmal eigene, verschlungene Gründe, die von der Fortdauer des in diesem Text beschriebenen Syndroms zeugen. Dass noch zwanzig Jahre nach der Vereinigung die in ihrer Infantilität umso bezeichnendere Rede von den „Wessis“ und den „Ossis“ weiterhin gang und gäbe ist, ist ein mentalitätsgeschichtliches Faktum, für das es kaum historische Parallelen gibt und das in den Tatbeständen einer realen oder angeblichen „sozialen Ungleichheit“ zwischen alten und neuen Bundesländern schwerlich aufgeht.

Darin kann man (neben anderen Faktoren) eine Bestätigung des Befundes sehen, wonach der Modus der Spaltung der Hauptmodus der Bewältigung der eigenen Geschichte und Gegenwart der Nachkriegsdeutschen gewesen – und offenbar geblieben – ist, einer inneren Spaltung wohlgemerkt, die sich in einem latenten Misstrauen der Deutschen gegeneinander und gleichsam gegen „sich selbst“ als Gesamtkollektiv äußerte. Insofern hat Günter Grass zu dieser inneren Nachkriegsgeschichte mit seinem denkwürdigen Ceterum censeo des Jahres 1990 das gültige Postskriptum geliefert, als er dafür plädierte, dass die deutsche Teilung wegen der nicht abtragbaren Hypothek von Auschwitz auf Dauer gestellt bleiben müsse. Das ließe sich, zumal mit Blick auf die letzten biographischen Enthüllungen und Selbstinterpretationen des deutschen Nobelpreisträgers,[3] fast als Appell verstehen, einen „Antifaschistischen Schutzwall“ in und gegen sich selbst aufrechtzuerhalten.

Ich nehme mich selbst aus dem Syndrom , keineswegs aus. Aber wenn sich in meinen aufgesetzten Räsonnements an jenem denkwürdigen 9. November 1989 noch Residuen eines solchen Denkens gefunden haben sollten, dann haben sie sich in dieser Nacht in einer Sekunde aufgelöst, als das Mädchen aus Ostberlin rief: „Zwick mich, ick gloobs nich!“

 

[1] Gekürzte Fassung der Erstpublikation in: Ulrich Bahrke, (Hg.): Denk ich an Deutschland … Sozialpsychologische Reflexionen, Brandes & Apsel, Frankfurt 2010. Mit freundlicher Genehmigung des Autors

[2] Publizist

[3] Es wurde spät bekannt, dass Grass als junger Soldat zur Waffen-SS eingezogen worden war.