10 Jahre Westberliner Exil

10 Jahre Westberliner Exil        

von Sabine Auerbach

1979 Sie emigriert mit ihrer Tochter
Ihre Tochter hat einen Kitaplatz und  
sie kann jetzt endlich studieren

Jürgen Fuchs sagt: „wir müssen uns hierintegrieren
Wir melden unsere Töchter in derselben Schule,
derselben Klasse an“  
Am Waterloo Ufer verweigert man ihr die Einreise
In die DDR, jedes Jahr von neuem, zehn Jahre lang

Sie demonstriert gegen das Kriegsrecht in  Polen.

Sie sammelt Geld Solidarnosc verteilt Plakate                                                      

Sie wartet
in derFriedrichstraße auf ihre Mutter            
Stundenlang. Alle acht Wochen. Ihre Mutter
geht an den Grenzern vorbei, auf sie zu
sagt:  es bleibt einem auch wirklich nichts erspart      

Im Orfeo ist die Musik ab 3 Uhr morgens am besten                  

PeterFitz

und Grandiose Theatervorstellung, (die sie je sah) mit
Otto Sander im Transformtheater, Kreuzberg „Warten auf
Godot“

In ihrer ersten WG werden zwei Häuser saniert

Es wird für 20 Leute gekocht
es wird gekifft und gekokst und gedealt                                  

In ihrer zweiten WG wird Rotwein getrunken
und debattiert. Der Hauptmieter bringt       
Parteimitglieder aus der SEW mit.
Wenn sie eine Freundin aus Hoheneck                                  

mitbringt, steht er auf und verlässt den                                     

Raum.

Irgendwann löst sich die zweite WG auf
Sie zieht mit ihren Sachen in vier Keller
Und kommt mit ihrer Tochter bei   
Einer Emigrantin aus Prag unter.   

Jürgen Fuchs sagt: wir machen in Westberlin
Ein Sperber-Symposium. Wir fangen schon mal
mit der Recherche „Sperber in Berlin“ an. 
Sie recherchiert.

Sie bekommt die Wohnung von
Sascha A. (Aber keinen Mietvertrag) lange
bevor er enttarnt wird.

Sie beginnt zu schreiben

Drei Dozenten im großen Hörsaal der FU streiten sich
Einer ist Maoist, einer in der SEW, einer, man weiß es nicht,
Sie liest: Jewgenija Ginsburg „Gratwanderung“ 27 Jahre Gulag
Rudolph Bahro liest an der FU
aus „Die Alternative“

Sie liest Ossip Mandelstam ermordet im Gulag
Im Kunsthistorischen Seminar sprechen alle Studenten
drei Fremdsprachen.  Sie kommt aus dem Osten. Ihr Kopf  
ist voller Mist. Sie schweigt.
In Mittelhochdeutsch macht Pannach die Metrik

Sie übersetzt die Gedichte

Sie liest Nadeschda Mandelstam „Das Jahrhundert der Wölfe“
in jedem Sommersemester wird an der FU gestreikt 
Sie arbeitet im Krankenhaus auf der Intensivstation 
ein Dozent sagt, wenn ich jemanden erwische, der Dr.Faustus
nicht gelesen hat, der fliegt raus.

Sie liest
Manès Sperber? das ist ein Antikommunist, sagt der Dozent. Das interessiert mich nicht. Verlassen Sie
meine Sprechstunde. Was sie nicht weiß, er ist Marxist

Sie liest M. Sperber“ wie eine Träne im Ozean“
Sie fährt Bücher vom Westhafen zu den BuchhandlungenWestberlins

Der nächste Dozent ist gnädig: Sperber, schon mal gehört. machen wir
Das Bafög geht zur Neige, sie arbeitet in einer Küche in   Wilmersdorf, anschließend Kunstseminar, sie sitzt zwischen
den höheren Töchtern und Söhnen aus München und
Hamburg und stinkt nach Zwiebeln

Sie liest und
gibt Deutschunterricht, bereitet sich auf die Prüfungen

vor Magister nach gut sieben Jahren, ihre Mutter sagt:
was hast Du nun, jetzt bist du arbeitslos

Ihre Bafög-Schulden- ein Vermögen, das sie abzahlen muss
erster Arbeitsvertrag für zwei Jahre, sie recherchiert, sucht
assimilierte Juden in einer Kirchengemeinde in
Lichterfelde, die Hobbyhistoriker in Steglitz
sind Profis, von denen sie viel lernt 
Sie liest, schreibt
liest, schreibt

Wühlt in Akten, während es im Osten brodelt.
Liest, die Nazis haben sich der Taufbücher bedient, um die
assimilierten Juden zu erkennen, abzuholen, zu vernichten

Erstes Buch „Wo ist dein Bruder Abel?“ S. Wernitzsch
89 Jetzt kommen die hierher, vor denen sie geflohen ist