Ein Blick zurück: Jugendprotest 81 – Der Vogel-Senat und die „Berliner Linie“[1]

Eine Jugendsenatorin erinnert sich an eine Herausforderung

Von Anke Brunn[2]

 

Mit Berlin verbinden mich zwei aufregende Jahre von 1981 bis 1983 als Mitglied im Berliner Senat und später im Abgeordnetenhaus. Über Nacht telefonisch herbei gerufen landete ich am Morgen des 23. Januar 1981 aus Köln kommend im damals noch eingemauertenWest-Berlin und beendete diesen Tag als Mitglied des „Vogel-Senats“, als Senatorin für Familie, Jugend und Sport in einer Stadt in Aufruhr.

Berlin befand sich in einer tiefen Krise. Streit um die Stadtpolitik, Korruption, gewalttätige Straßenkrawalle, Straßenschlachten zwischen Jugend und Polizei, Jugendprotest, Jugendarbeitslosigkeit, zunehmende soziale Probleme prägten das Bild der Stadt. Während der Protest der 68er Jugend seinen Schwerpunkt bei der akademischen Jugend hatte, Schah-Besuch und Vietnam-KriegThemen waren, richtete sich der Jugendprotest 81 nach innen: Leerstand von ca. 1.000 Häusern und ca. 10.000 Wohnungen, Abbruch bewohnbarer Häuser zugleich mit Luxussanierungen wirkten als ständige Provokation für jugendliche „Instandbesetzer“ mit der Folge einer steigenden Zahl von Hausbesetzungen.

Die Lage war dramatisch: Die Stadtregierung, der „Stobbe-Senat“, war durch Heckenschützen aus den eigenen Reihen gestürzt worden. Volksbegehren für Neuwahlen waren angelaufen. Die Fortsetzung der sozial-liberalen Koalition stand infrage. Die Springer Zeitungen förderten ein Klima der Hysterie in der von der Mauer umschlossenen Stadt.

Vor diesem Hintergrund suchte die SPD einen starken Neuanfang für die Berliner Stadt-Regierung und entsandte für einen neuen SPD/FDP-Senat neben Hans-Jochen Vogel als Regierenden Bürgermeister sechs weitere „West-Importe“, darunter mich. Angesichts der Vorgeschichte war Skepsis angebracht. Tatsächlich aber wurde der neue Senat gewählt und konnte sofort die Arbeit aufnehmen. Die Einschätzung der Öffentlichkeit schwankte zwischen Anerkennung und Himmelfahrtskommando ohne Rückfahrkarte.

Hans Jochen Vogel war über viele Jahre Oberbürgermeister der Stadt München gewesen, bevor er als Bundesjustizminister nach Bonn ging. Vor diesem Hintergrund verstand er die Berliner Konflikte nicht nur als Ausdruck sektoraler Probleme. Ihm ging es nicht nur um Polizeiprobleme, Wohnungsleerstand, Jugendprobleme, Korruptionsbekämpfung. Ihm ging es nicht nur darum, unversöhnliche Blöcke in der Berliner SPD zu überwinden, nicht nur um den Neustart der Berliner sozialliberalen Koalition, sondern um die Formulierung einer neuen sozialdemokratischen Großstadtpolitik. Ausgehend von Thesen der Eidgenössischen Kommission für Jugendfragen zu den Jugendunruhen in Zürich deutete er den Jugendprotest als Ausdruck tiefer liegender grundsätzlicher gesellschaftlicher Probleme, als Ausdruck einer Orientierungskrise in der Stadtpolitik. Darauf sollte eine neue ganzheitliche Stadtpolitik antworten.

Am Beispiel Berlin wollte er ein Zeichen für ganz Deutschland setzen, auch für eine gesamtdeutsche Politik. Er wollte nicht nur die West-Berliner ansprechen, sondern auch denen eine Stimme geben, die hinter der Mauer wohnten, hinter dem Eisernen Vorhang, der die Stadt durchtrennte: Er wandte sich an die Menschen „in und um“ Berlin. Diesen Gedanken unterfütterte er später symbolträchtig mit dem Angebot an die Ost-Berliner Regierung, die in West-Berlin aufbewahrten von Schinkel geschaffenen Figuren wieder an ihrem Platz auf der Schlossbrücke im damaligen Ost-Berlin aufstellen zu lassen. Auch die Wiedereröffnung der Diskussion um die S-Bahn und das Reichsbahngelände gehört in diesen Zusammenhang.

Mein Schwerpunkt in der Landespolitik in Nordrhein-Westfalen (NRW) als stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion war Jugendpolitik, besonders die Bekämpfung von Jugendarbeitslosigkeit. In Berlin waren die Probleme gleich gelagert wie in NRW, nur verschärft wie in einem Brennglas durch die Insellage. Dazu kam in Berlin eine starke Alternativbewegung, die aus der 68er Bewegung gewissermaßen herausgewachsen war. Es gab einen Mangel an produktiven Arbeitsplätzen und zugleich einen Zuzug bzw. Verbleib junger Männer, die nach Berlin gezogen waren, um dem Wehrdienst zu entgehen. Zu den Jugendfragen konnte ich mich unmittelbar in die Vorbereitung der Regierungserklärung einbringen.

Diese wurde binnen weniger Tage erarbeitet und von Hans Jochen Vogel am

12. Februar vorgetragen: Darin wurde die Krise ebenso benannt wie Markierungspunkte für Umdenken und Änderung. Fragen, Zweifel, Ängste der Jugend sollten als legitim anerkannt und in die Politik einbezogen werden. Neues Regierungshandeln wurde gefordert und Leitlinien und Schwerpunkte dazu benannt: Änderungen in der Wohnungs- und Sanierungspolitik, Vorrang politischer Lösungen in der Hausbesetzerfrage, Beibehaltung der Mietpreisbindung, Verzicht auf spektakuläre Autobahnprojekte wie die West-Tangente, Integration der S- Bahn in das Berliner Verkehrsnetz.

In Beschlüssen des Senats am 3. Februar und am 10. März wurden die Positionen und Maßnahmen des Senats zu den Hausbesetzungen detaillierter bestimmt und damit der Kern der „Berliner Linie“ festgelegt: Wohnungsleerstand und Hausbesetzungen wurden als politisch verursacht bezeichnet und die Lösungen vorrangig auf der politischen Ebene gesucht und vor dem polizeilichen Eingreifen. Als kurzfristige Schritte wurden Programme zur einfacheren Modernisierung und Instandsetzung und zur Selbsthilfe unter Einbeziehung von Mietern, Eigentümern und Initiativgruppen aufgelegt. Eine Senats-Kommission sollte die Aktivitäten koordinieren und zunächst eine Übersicht über den Leerstand und Möglichkeiten der Nutzung gewinnen. Gegen Gewalttätigkeit und Zerstörung wurde entschieden Stellung genommen, das Gewaltmonopol des Staates betont. Gleichzeitig erklärte der Senat seine Bereitschaft zum Gespräch und zu friedlichen Lösungen und bot Hausbesetzern Möglichkeiten der Legalisierung an, z. B. durch Nutzungsverträge. Soziale Projekte zur Nutzung und Wiederherstellung leerstehender Gebäude sollten bewilligt werden, auch unter Einbeziehung jener Gruppierungen vor allem junger Menschen, die sich vollständig an den Rand der Gesellschaft gedrängt sahen. Treuhand- und Stiftungsmodelle sollten erprobt werden.

Im hoch emotionalisierten und aggressiven Meinungsklima der Stadt bedeutete diese Positionierung einen schwierigen Spagat zwischen einer Jugend- und Alternativszene im „Häuserrausch“ und einer traditionell eingestellten Verwaltung, in der Justiz und Polizei und einige Eigentümer in aller Härte ihre Macht demonstrieren wollten. In den ersten zweieinhalb Monaten des neuen Senats wurde dennoch eine positive, konstruktive, beruhigende Wirkung der neuen Politik mit neuen Gesichtern wirksam; es gab einen medialen Stimmungsumschwung und einen Zugewinn an Glaubwürdigkeit der Politik.

Zugleich setzten sich aber Konflikte um Häuser und Hausbesetzungen unvermindert fort. Es gab sogar oft einen Wettlauf um einzelne Häuser zwischen verschiedenen Interessenten. Erst Ende März begann die Spannung abzuflauen, als sich erste konkrete Lösungen im Sinne der neuen Vorhaben abzeichneten und zudem das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Besetzern und Polizei ermüdete. Verhandlungslösungen wurden sichtbar. Die Jugendverwaltung beendete den Leerstand eigener Liegenschaften z. B. auch selbst  –durch Besetzung mit eigenem Personal. Es wurde immer wieder klar gestellt, dass der Senat sich bei Hausbesetzungen an geltendes Recht halte: Strafbare Handlungen aus besetzten Häusern wurden verfolgt. Für besetzte Häuser wurde nach Lösungen gesucht; Räumungen wurden unter dem Gesichtspinkt der Verhältnismäßigkeit durchgeführt, was mehrfach gerichtlich bestätigt wurde. Dennoch beklagten Opposition und Springer-Presse die angebliche Entstehung rechtsfreier Räume und ein Zurückweichen des Rechtsstaats vor dem Chaos. Die CDU kündigte für den Fall ihres Wahlsieges an, dass sie hart durchgreifen und mit Rechtsbrechern wie Hausbesetzern niemals nach Übereinkünften suchen, geschweige denn mit ihnen sogar Verträge abschließen würde.

In der Osterwoche - verursacht durch ein falsches Gerücht – zog ein randalierender Trupp meist Jugendlicher über den Kudamm und demolierte dort die Glasvitrinen, während Polizei sich demonstrativ zurückhaltend in die Nebenstraßen zurückgezogen hatte. Daraufhin kippte die Stimmung. Der Aufwärtstrend des neuen Senats in den Meinungsumfragen stagnierte. Da rasche Neuwahlen zugesagt und angesetzt waren, trat am 10. Mai bei den Neuwahlen zum Abgeordnetenhaus ein, was zu erwarten war: die SPD erlitt eine dramatische Niederlage. Sie gewann zwar im Vergleich zum Stand der Meinungsumfragen vom Januar 10 Prozent dazu und erreichte 38,3 %. Die CDU erhielt mit Ihrem Spitzenkandidaten Richard von Weizäcker 48% ihr bis heute bestes Ergebnis. Die Alternative Liste(AL), die sich als politischer Arm der Alternativszene verstand, kam erstmals ins Abgeordnetenhaus und wurde mit 7,2% drittstärkste Kraft, die FDP schwächelte mit 5,6% an vierter Stelle. Die SPD ging in die Opposition, mit Hans Jochen Vogel als Fraktionsvorsitzendem.

Richard von Weizäcker, auch er ein Import aus dem Westen, wurde Regierender Bürgermeister eines CDU-Minderheitensenats, geduldet von Teilen der FDP-Fraktion. Seine Regierungserklärung am 2. Juli lässt sich als eine Serie subtiler Ausgrenzungen von Minderheiten beschreiben, von Jugendlichen, Ausländern, Auswärtigen. Er umschrieb eine neue Selbstsicherheit für die Mehrheitsgesellschaft durch ein Wir-Gefühl für Menschen, die sich im Recht fühlen. Man brauche keinen Zuzug nach Berlin von Menschen, um mit Gleichgesinnten ein Ghetto der Überdrüssigen zu bilden.

Bald nach Regierungsübernahme kam es zu Annäherungen des neuen an den zuvor neuen, nun alten Senat: Man wolle die Berliner Linie des Vogel-Senats fortführen, nur besser. Programme zur Leerstandsvermietung, zur einfachen Modernisierung und zur Selbsthilfe bei Instandsetzung wurden fortgesetzt und zugleich als eigenständige Politik des neuen Senats vorgestellt. Einzelne früher bekämpfte Sozialprojekte wurden stillschweigend fortgesetzt und dann einige Monate später im Rahmen einer Antwort auf eine Große Anfrage der CDU ideologisch uminterpretiert und als eigenständige Politik des Neuen Senats dargestellt. Der Begriff der Berliner Linie wurde auf die Polizeitaktik reduziert, nicht in jedem Fall zu räumen. Allerdings wurde der Gedanke der Verhältnismäßigkeit ausgespart. Kurz nach dem Regierungswechsel wurde genau jenes Haus geräumt, gegen dessen Räumung sich der vorherige Senat vor Gericht erfolgreich durch zwei Instanzen gewehrt hatte. Erneut kam es in Berlin zu Straßenschlachten.

Für die Zeit nach den Sommerferien wurden weitere Räumungen angekündigt; am 22. September wurden 7 Häuser geräumt. Nach der Pressekonferenz des Innensenators in einem gerade geräumten Haus forderten anschließende Tumulte ein Menschenleben. Zu Tode kam Klaus Jürgen Rattay, einer von jenen in Westdeutschland Ausgestoßenen, ein Arbeiterkind vom Niederrhein, Sonderschüler, Ausbildungsabbrecher, ein 18jähriges Kind von großspuriger Hilflosigkeit. In der Stadt breitete sich eine Stimmung ungeheuren Hasses und heftigster Aggressionen aus. Blutige Witze machten die Runde. In Bus und U-Bahn konnte man beobachten wie ältere ‚Berliner‘ junge ‚Zugereiste‘ beschimpften. Man hörte von 14- bis 16-Jährigen, die Rezepte zum Herstellen von Bomben austauschten, die Frage der bewaffneten Verteidigung ihrer Häuser erörterten oder über kollektiven Selbstmord sprachen.

Im Abgeordnetenhaus wurden Misstrauensvoten gegen die betroffenen Senatoren erörtert. Eine weitere Verschärfung der Lage war zu befürchten ebenso wie weitere Todesopfer. In dieser Situation rief Hans Jochen Vogel Richard von Weizäcker dazu auf, in einer gemeinsamen Anstrengung aller relevanten gesellschaftlichen Gruppen eine Deeskalation zu versuchen. Obwohl Vertreter der jungen Generation und Vermittler der Hausbesetzer nicht teilnehmen wollten und obwohl der Regierende Bürgermeister ein Räumungsmoratorium nicht erklären wollte, war das Ergebnis dieser ‚Friedensrunde‘ war zwar kein erklärtes aber ein faktisches Räumungsmoratorium. So wurde Spielraum für erneut einsetzende Bemühungen um friedliche Lösungen geschaffen. Neue Initiativen gingen von der Evangelischen Kirche und von den Bezirken, z. B. Kreuzberg aus. Im Oktober wies der Bischof der Evangelischen Landeskirche in einem Hirtenbrief auf die geänderten Wertvorstellungen junger Menschen hin, die weit über die Hausbesetzer-Szene hinausgingen und ermahnte die Erwachsenenwelt und Mehrheitsgesellschaft, auf die junge Generation zuzugehen.

Schritt für Schritt erklärte sich der CDU-Senat zur Tolerierung von Verhandlungslösungen bereit, ohne selbst direkt initiativ zu werden. In der bereits erwähnten Antwort auf die Große Anfrage zum Alternativen Leben wurde sodann eine Annäherung an die Alternativbewegung gesucht. Beschlüsse und umstrittenen Projekte des vorherigen Senats wurden übernommen. Obwohl in der Anfrage kein einziges neues Projekt, kein neues Förderkriterium hervorgehoben wurde, kein neues Geld in die Hand genommen wurde, wirkte diese Antwort als Ausdruck einer neuen Politik von Selbsthilfe.

Damit übernahm der neue Senat zwar den Maßnahmeteil des Vogel-Senats als Signal neuer liberaler CDU-Großstadtpolitik aus Berlin, aber ohne an den zentralen Problemlagen in Berlin etwas ändern zu wollen. Die Machtverhältnisse zwischen der Jugend- und Erwachsenenwelt wurden wieder in die alte, rechte Ordnung gebracht. Die ‚Berliner Linie‘ wurde definitiv zu einem Teil einer Polizei-Taktik. Immerhin wurden die Figuren auf der in Ostberlin gelegenen Schlossbrücke wieder aufgestellt als ein erstes Zeichen einer Annäherung der getrennten Teile Berlins und Erfolg einer innerdeutschen Diplomatie von Berlin aus. Die grundsätzlichen Herausforderungen der Städtebau-, Wohnungs- und Eigentumspolitik sind bis heute präsent. Notwendige Schritte gegen Missbrauch und Verabsolutierung des Eigentums an Grund und Boden und Schritte für eine soziale Stadtentwicklung und für menschenwürdiges Wohnen stehen immer noch bevor. Für mich war diese Berliner Erfahrung eine positive und wichtige Lehre, die ich nicht missen möchte. 

 

 

 


[1]  Für diesen Text habe ich Teile meines Tagungsbeitrags zur Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung vom 27./28. März 1982, „Jugendprotest 81“ in der Villa Borsig in Berlin verwendet. Die Zusammenfassung von Referaten und Arbeitsgruppenberichten wurde im Anschluss an die Tagung als Broschüre herausgegeben vom Berliner Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung. A.B.

 

[2] Anke Brunn, SPD, war Jugendsenatorin in der Regierung Vogel und blieb noch danach einige Jahre der Berliner Politik erhalten.