Kein Symbol der Solidarität!
BVV Friedrichshain-Kreuzberg lehnte die Benennung eines Kyiv-Platzes ab
Glossierender Kommentar von Uta Gerlant
Der Tagesordnungspunkt war ganz nach hinten verlegt worden. Vom Januar war nur noch die letzte Stunde vor Mitternacht übrig, als die Abgeordneten von Friedrichshain-Kreuzberg über den Antrag berieten, der kleinen Freifläche des Elise-Tilse-Parks am Halleschen Ufer Ecke Möckernstraße den Namen Kyiv-Platz zu geben. Geisterstunde in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV). Denn der Kulturausschuss der BVV hatte am 30. November 2023 empfohlen, diesen Antrag abzulehnen.
Die Initiative zu dem Antrag hatte Timur Husein bereits im Oktober 2022 ergriffen. Damals war er noch Fraktionsführer der CDU in der BVV; inzwischen ist er ins Abgeordnetenhaus gewählt worden. Seine Idee zum Kyiv-Platz geht wiederum auf einen Aufruf der damaligen regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) zurück, die im Juli 2022 die Bezirke aufgefordert hatte, Berliner Straßen und Plätze nach Orten in der Ukraine zu benennen, die vom Krieg besonders stark betroffen sind. Dem ist Steglitz-Zehlendorf noch 2022 mit dem Charkiw-Park nachgekommen, und seit 2023 gibt es in Pankow einen Riwne-Platz und in Lichtenberg einem Odesa-Platz.
Nun also Friedrichshain-Kreuzberg. Man konnte gespannt sein. Die Tribüne des BVV-Saals war gut besetzt an diesem 31. Januar 2024: Ukrainerinnen hatten eine riesige ukrainische Fahne mitgebracht, die sie schon 2014 beim Volksaufstand auf dem Maidan in Kyiv dabei hatten. Und sie stimmten sogar „Wie kann ich Dich nicht lieben, mein Kyiv“ an. Voller Hoffnung hatten sie die Debatten verfolgt, bis endlich gegen 23 Uhr „ihr“ Tagesordnungspunkt aufgerufen wurde. Der CDU-Vertreter begründete den Antrag auf einen Kyiv-Platz damit, dass es sich hierbei um mehr als um Symbolik handele, nämlich um ein sichtbares Zeichen der Solidarität mit der Ukraine, um damit im Herzen der Bundeshauptstadt den Namen der ukrainischen Hauptstadt hochzuhalten.
Die Vertreterin der Linken erwiderte, so eine Benennung sei reine Symbolpolitik, nicht mehr. Die BVV hingegen sei gegenüber dem Partnerbezirk von Friedrichshain-Kreuzberg Kyiv-Darnyzia konkrete Schritte der Solidarität gegangen. Darnyzja, denke ich, Darnyzja - das ist doch der Stadtteil im Südosten Kyivs, in dem die Deutsche Wehrmacht im November 1941 ein riesiges Kriegsgefangenenlager errichtet hatte. Zigtausende sowjetische Soldaten kamen damals dort zu Tode: durch Unterernährung, Krankheiten, Hinrichtungen…
Jetzt also Solidarität!? Diese schilderte dann Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann von den Grünen in aller Ausführlichkeit. Mich beschlich ein unangenehmes Gefühl: Weil wir sowieso schon so gute Menschen sind, brauchen wir beim konkreten Anliegen der Benennung des Kyiv-Platzes nicht „gut“ zu sein? Wie viel „gut“ ist genug? Solidarität ersetzt Symbole? Was für ein merkwürdiges Ausspielen von Verhaltensweisen, die einander nicht ausschließen, sondern zusammengehören. Und selbst wenn es wirklich nur um reine Symbolpolitik ginge – sollte sie nicht vereinbar mit der angeführten Solidarität sein?
Ein weiteres Abwehrargument, nun von den Grünen vorgebracht: der Platz sei zu klein und daher der Benennung nach Kyiv unwürdig. Auch die SPD teilte dieses Bedenken. „Wir machen ihn schön!“, rief eine Ukrainerin daraufhin von der Tribüne. Sogar der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev hatte sich schon im Sommer 2023 im Kulturausschuss persönlich für diesen Platz eingesetzt. Doch selbst seine Exzellenz beeindruckte die meisten Abgeordneten nicht. Die SPD war immerhin in der Lage, ihre Bedenken hintanzustellen angesichts der Tatsache, dass die Ukrainerinnen auf der Tribüne offenbar kein Problem mit dem Platz hatten. Ein CDU-Vertreter appellierte an die BVV, die ukrainischen Zuschauerinnen, unter denen mindestens die Hälfte Kriegsflüchtlinge seien, zufrieden nach Hause gehen zu lassen.
Auch wenn alle Rednerinnen und Redner betonten, an der Seite der Ukraine zu stehen - zu diesem kleinen Schritt, für den nicht einmal ein Briefkopf hätte geändert werden müssen, konnten sich die Meisten von ihnen nicht durchringen. Merkwürdig. Wenn ihnen der Platz „unwürdig“ erschien, warum haben sie dann nicht einen Vorschlag für einen größeren, schöneren Platz eingebracht? War der Antrag etwa zu bescheiden daher gekommen? Ich bin mir ziemlich sicher, bei einem anderen Platz hätten sich andere vorgeschobene „Argumente“ gefunden, das Anliegen abzulehnen.
Besonders unlogisch und beschämend äußerte sich die Linken-Sprecherin: Es gäbe ja viele Kriege auf der Welt, und wenn man begänne, Straßen und Plätze nach entsprechenden Orten zu benennen, müsse man sehr viele Plätze umbenennen. Man könne jedoch nicht einen Krieg gegen den anderen ausspielen. „Genau das tun sie gerade“, rief Timur Husein da von der Tribüne. Und ja, dann sollen sie doch viele Plätze und Straßen umbenennen – damit wir daran erinnert werden, wie fragil Frieden und Freiheit sind und keineswegs selbstverständlich!
Aber da würden dann wieder Linke und Grüne erst recht nicht mitmachen. Hatten sie doch ihre Ablehnung des Kyiv-Platzes im Kulturausschuss unter anderem scharfsinnig damit begründet, dass Kyiv keine Frau sei. Denn weil so viele Straßen und Plätze in Berlin nach Männern benannt seien, müsse jetzt die weibliche Seite nachziehen. O pseudogegendertes Schubfachdenken! Binärer geht es kaum. Kyiv ist keine Frau, nein, Kyiv ist sehr viele Frauen!
Ein SPD-Vertreter rief seine Abgeordnetenkolleginnen und -kollegen noch auf, bei dieser Entscheidung unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit abzustimmen. Was am Ende nicht geschah. Während Grüne und Linke geschlossen (mit 21 Stimmen) der Empfehlung des Kulturausschusses folgten, den Antrag abzulehnen, stimmten CDU und SPD (mit 14 Stimmen) dagegen, was aber nicht reichte. Damit wird es keinen Kyiv-Platz in Kreuzberg geben.
Die BVV hat Kreuzberg um die Chance gebracht, seine solidarische Haltung gegenüber der Ukraine zu dokumentieren. Sie hat die Ukrainerinnen brüskiert, die das Hin und Her von der Tribüne aus beobachteten. Timur Husein allerdings wird weitersuchen – nach einem anderen Berliner Bezirk, der sich als würdiger für einen Kyiv-Platz erweist als Friedrichshain-Kreuzberg. Die Ukrainerinnen verließen gegen Mitternacht mit ihrer Fahne das Rathaus in der Yorckstraße enttäuscht, aber nicht gebeugt. Sie werden weiter dafür sorgen, dass ukrainische Belange Aufmerksamkeit und Berücksichtigung finden, und sich durch Rückschläge nicht entmutigen lassen.