Deutschland muss eine langfristige Strategie entwickeln

 
   

Auch zwei Jahre nach Russlands Überfall auf die Ukraine wird Deutschlands Handeln zu oft über die russische Perspektive definiert. Es bedarf größerer Anstrengungen, um die Verteidigungsfähigkeit zu stärken.[1]

 

 

Von ROBIN WAGENER[2]

Vor fast zwei Jahren hat das russische Regime mit seinem Überfall den Krieg gegen die Ukraine und die europäischen Friedensarchitektur massiv eskaliert. Putin entschied sich zur Vollinvasion, weil er zuvor die Erfahrung gemacht hatte, dass die Reaktionen des Westens überschaubar blieben.

Auf 24. Februar 2022 reagiert Deutschland mit der Zeitenwende. Es trennt sich von der Appeasement-Politik gegenüber dem Kreml. Seither werden die Bundeswehr neu aufgestellt und die energiewirtschaftliche Entkopplung von Russland vollzogen. Diplomatisch soll der Weg nach Moskau heute über Kiew führen – nichts über die Ukraine ohne die Ukraine, lautet das Credo. Aus zunächst lächerlichen Beiträgen wurde eine substanzielle Unterstützung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit. Nominal ist Deutschland der zweitwichtigste Waffenlieferant, wenngleich andere Partner im Verhältnis deutlich mehr leisten. Deutsche Luftverteidigung schützt die Menschen in der Ukraine vor dem russischen Raketenterror.

Marder- und Leopard-Panzer stärken die ukrainischen Streitkräfte. Hier offenbart sich eine Erkenntnis, die kognitive Überwindungskraft erfordert: Deutsche Waffen retten in der Ukraine Menschenleben.

Doch zum zweiten Jahrestag der Vollinvasion braucht es eine erste Zwischenbilanz. Wird Deutschland seiner Verantwortung für Frieden und Sicherheit gerecht? Solidarisch haben wir eine Million Kriegsflüchtlinge aufgenommen, leisten humanitäre, wirtschaftliche und militärische Hilfe, organisieren internationale Mehrheiten, stützen den EU-Beitrittsprozess und übernehmen Verantwortung für Soforthilfe und Wiederaufbau. Und trotzdem bleibt die Bilanz gemischt, denn noch viel zu häufig wird unser Handeln über die russische Perspektive definiert. Noch immer fehlt der Wille, souverän Führungsverantwortung zu übernehmen.

Langwierige Debatten über Waffensysteme lassen an unserer Solidarität zweifeln. Verschleppte Lieferungen erschweren ukrainische Befreiungsmanöver. Russland nutzt diese Zeit für den Bau von Stellungen in den besetzten Gebieten und unterstreicht damit seine illegalen Besitzansprüche. Unser Zögern hat massive Konsequenzen.

Die Munitions- und Rüstungsproduktion muss hochgefahren werden

wir müssen uns von der russischen Folie lösen und dürfen das eigene Handeln nicht wieder und wieder vom Kreml abhängig machen. Das Scheitern Russlands in der Ukraine und nicht unser Platz am Verhandlungstisch sollte Ziel unserer Bemühungen sein. Putin hat jegliche Partnerschaft mit uns aufgekündigt und stellt Russland auf allen Ebenen für einen dauernden Konflikt um. Deutschland hat viel geleistet, doch die solidarische Unterstützung der Ukraine allein ist noch keine langfristige Strategie – auch mit Blick auf unsere Sicherheit. Jetzt gilt es, eine Strategie für Frieden und Sicherheit zu entwickeln. Der Schutz unserer Sicherheitsarchitektur und die euroatlantische Integration der Ukraine sollte dazu als zentrale Ziele formuliert werden. Das stützt die souveräne Entscheidung der ukrainischen Gesellschaft, stärkt das Vertrauen in uns und unser Bündnis und wehrt den russischen Imperialismus ab.

Hierzu bedarf es weiterer Anstrengungen. Nicht nur so lange wie nötig, sondern so umfangreich wie notwendig muss die Ukraine mit den Fähigkeiten ausgestattet werden, die es für die Befreiung des Landes braucht. Das beschleunigte Hochfahren der Munitions- und Rüstungsproduktion samt entsprechender Auftragsvergabe, das zeitweise Absenken regulatorischer Hürden und die Bereitstellung zusätzlicher Mittel sind angesichts der kriegswirtschaftlichen Anstrengungen Russlands das Gebot der Stunde. Wir sollten es zudem Frankreich und Großbritannien gleichtun und die Ukraine mit wirkungsvollen, abstandsfähigen Präzisionswaffen wie dem Taurus ausstatten oder diese Fähigkeiten mindestens im Rahmen von neuerlichen Ringtauschen innerhalb unserer Verbündeten kompensieren. Der argumentative Rückzug hinter unsere verbündeten Nuklearmächte darf weder in Fragen von Panzerlieferungen noch bei modernen Marschflugkörpern als Infragestellung der NATO-Bündnissolidarität interpretiert werden.

Auch ein neues Sondervermögen zur Verteidigung ist angesichts der russischen Rüstungsproduktion dringend nötig. Der Status quo ist für die Ukraine bereits heute unerträglich. Den Ausbau unserer Unterstützung sollten wir daher nicht an den Ausgang der US-Wahlen knüpfen. Die Ukraine braucht finanzielle Planungssicherheit für die Verteidigung des Landes. Die europäischen Staats- und Regierungschefs müssen hierfür zügig die europäischen Mittel auf den Weg bringen. Zusätzlich sollten die Erträge der eingefrorenen russischen Vermögenswerte kurz- und mittelfristig für die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine nutzbar gemacht werden, bevor diese Gelder langfristig rechtssicher dem Wiederaufbau dienen können. Berlin sollte sich entschlossen den entsprechenden Initiativen anschließen.

 

Für all diese Forderungen gibt es ein breites Verständnis und eine wachsende Mehrheit im Bundestag. Der Bundeskanzler ist daher aufgefordert, sich zu Beginn des dritten Kriegsjahres nicht länger isoliert gegen die Mehrheiten von Parlament und Kabinett zu stellen, sondern sein Vertrauen in ebendiese Mehrheiten zu setzen.

 

 

 

 
   

 

 

 


[1] Mit freundlicher Genehmigung des Autors. Erstmals erschienen In: FAZ 26.01.2024. https://www.faz.net/-gpg-blgmj

[2] Mitglied des Deutschen Bundestages/Bündnis 90/Die Grünen. Vorsitzender der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe