Polen nach der Wahl. Was ändert sich in Hinblick auf den Ukraine-Konflikt?

Von Wanda Jarząbek[1]

Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine Ausbruch im Februar 2022 war die polnische Ukraine-Politik weitgehend Konsens. Auch die damalige Opposition (die derzeitige Regierungskoalition in Polen) kritisierte diese Politik nicht grundsätzlich, wohl aber die Art und Weise der Umsetzung. Das Wichtigste für Warschau war, einen russischen Sieg zu verhindern. Es sollte daran erinnert werden, dass die polnische Politik gegenüber der Ukraine ziemlich emotional war. Die Ukraine war angegriffen worden, in Polen brachen Solidaritätsgefühle mit dem angegriffenen Nachbarn aus, die durch die schlechten Beziehungen zum Aggressor und die Erinnerung an die Bedrohung der polnischen Unabhängigkeit durch Russland in der Vergangenheit noch verstärkt wurden. Weit verbreitet waren Befürchtungen, die Ukraine könne eine Niederlage erleiden und die russische Grenze sich an die derzeitige Grenze der Ukraine zu Polen verschieben. Daraus erwuchs die militärische, finanzielle und humanitäre Hilfe, sowie die Unterstützung der raschen Integration der Ukraine in die NATO und in die EU. Man war schon seit Jahren der Auffassung und die Fortsetzung dieses Ansatzes wurde nun vom polnischen Außenminister Radosław Sikorski bekräftigt, dass die Unterstützung der Ukraine eine Investition in die Sicherheit Polens ist. Diese Prämisse kann jedoch auf unterschiedliche Weise in die Praxis umgesetzt werden. Präsident Andrzej Duda sagte während des NATO-Gipfels in Vilnius in 2023 sogar, dass er dort die Interessen der Ukraine vertrete – zum Ärger mancher Polen, die ihn daran erinnerten, dass er der polnische Präsident sei. Die Haltung Warschaus zur Aufnahme der Ukraine in die NATO stimmt weitgehend mit der von Litauen, Lettland, Estland und anderen Ländern der Region überein (abgesehen von Ungarn). Diese Länder sind der Ansicht, dass eine Beschränkung der russischen Einflusssphäre in Europa und die Beseitigung von Grauzonen, insbesondere im postsowjetischen Raum, für ihre Sicherheit garantieren würde. Sie befürworten eine deutliche Schwächung Russlands, damit es die Stabilität in dieser Region nicht mehr gefährden kann. Im Falle der Länder westlich von Polen wird die Aufmerksamkeit auf andere Fragen gelenkt. Viele Politiker dort sind der Meinung, dass die Aufnahme der Ukraine in die NATO für Russland inakzeptabel wäre und keinen langfristigen Frieden garantieren würde (so auch die Haltung von Ungarn). Viele Beobachter westlich von Polen fürchten zudem die Schwächung Russlands und seine mögliche Zersplitterung. Zu den Bedenken gehört auch das Schicksal des russischen Atomwaffenarsenals.

Über die Kosten der polnischen Hilfe für die Ukraine sowie deren mögliche Aufnahme in die NATO und in die EU wurde in Polen lange Zeit wenig diskutiert. Man war der Meinung, dass die Kriegszeit kein guter Zeitpunkt dafür sei, dieses zu problematisieren. Besonders im Falle einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine könnten die wirtschaftlichen Auswirkungen für Polen erheblich sein. Die zeigte sich schon jetzt. Nachdem die EU ihre Politik gegenüber der Ukraine liberalisiert hatte, wurde Polen mit ukrainischem Getreide überschwemmt, was zu einem erheblichen Preisverfall führte. Die Bauern weisen darauf hin, dass Produkte auf den Markt gekommen sind, die nicht den von der EU auferlegten Anforderungen entsprechen. Man begann sich daran zu erinnern, dass im Falle des EU-Beitrittskandidaten Polen sehr lange Zeit restriktive Vorschriften galten, die den Zugang polnischer Produkte zu den EU-Märkten verhinderten, und zwar nicht so sehr wegen ihrer Qualität, sondern wegen der Preise, die sich aus den niedrigeren Produktionskosten in Polen ergaben. Die Kritik an der Regierungspolitik begann im Wahljahr und beeinträchtigte die Popularität der PiS (Partei Recht und Gerechtigkeit). Als die Regierung nach einiger Zeit mit der Verhängung von Einfuhrverboten für bestimmte ukrainische Waren reagierte, begann die Ukraine Polen zu beschuldigen, sich mit Russland zu verbünden und den Transit zu blockieren. Warschau war über diese falschen Anschuldigungen erstaunt, da der Transit nicht blockiert wurde. Die Abkühlung der Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine wurde auch durch den historischen Hintergrund beeinflusst. Im Zusammenhang mit dem 80. Jahrestag des Beginns des Massenmordes an den Polen durch die UPA (Ukrainische Aufständische Armee) im Juli 2023, erwartete Warschau die Genehmigung für Exhumierungen und Beerdigungen der damals Getöteten, was jedoch nicht geschah. Im Herbst 2023 begannen dann die Proteste von Bauern und Transportunternehmern an der ukrainischen Grenze. Die Liberalisierung der Vorschriften für ukrainische Spediteure durch die EU hat polnische Spediteure in eine schlechtere Lage gebracht. Polnische Spediteure sind an EU Mobilitätsregeln gebunden, ukrainischen Unternehmen nicht. Die Grenzblockaden haben den Handel beider Seiten behindert, so dass nur humanitäre und militärische Hilfe für die Ukraine durchgelassen wird.

In einer solchen Situation kam es im Dezember 2023 in Polen zu einem Regierungswechsel. Donald Tusks Kabinett nahm daraufhin Gespräche mit den Protestierenden auf, die zu einer Aussetzung der Proteste nicht aber zu ihre Ende führten. Die neue Regierung kündigte auch Gespräche mit der Ukraine an, um strittige Fragen zu klären.Aber eine tiefe Änderung der Hauptlinie der polnischen Politik gegenüber der Ukraine, hat es nicht abgezeichnet. Außenminister Radoslaw Sikorski hat in Erklärungen, unter anderem auf dem Portal X, darauf hingewiesen, dass Anstrengungen unternommen werden sollten, um sicherzustellen, dass der Krieg mit einer Niederlage Russlands endet. Im Falle des Treffens in Davos klangen die Erklärungen von Präsident Duda und Außenminister Radosław Sikorski zur Förderung der Bestrebungen der Ukraine, der NATO und der EU beizutreten, grundsätzlich recht ähnlich. Auch der Besuch von Premierminister Donald Tusk am 22. Januar 2024 in Kiew deutet nicht auf eine Neuausrichtung der polnischen Politik in grundlegenden Sicherheitsfragen hin. Auch im bilateralen Bereich gab es keine plötzliche Veränderung.Von einigen Politikern in Kiew wurde erwartet, dass der Regierungswechsel zu einer Änderung der polnischen Politik in Bezug auf die Einfuhrverbote führen würde, doch bisher ist dies nicht geschehen, was in Kiew Berichten zufolge auf Enttäuschung gestoßen ist. Die polnische Regierung muss die wirtschaftlichen Interessen ihrer eigenen Bürger im Auge behalten. In Polen werden im Frühjahr Kommunalwahlen stattfinden, im Juni Wahlen zum Europäischen Parlament und im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen, was ebenfalls zu einem vorsichtigen Vorgehen in der Ukraine-Politik veranlasst. Gegner der neuen Regierung behaupten ohnehin, Tusk sei bereit, polnische Interessen ausländischen Interessen zu opfern, indem er sich dem Diktat Brüssels (und Berlins) beugt.

Die Regierung kündigte außerdem an, dass Warschau der Erklärung von Vilnius der G7 beitreten werde. Eine Geste, die Bereitschaft zeigt, mit europäischen und anderen Partnern in der Ukraine-Frage stärker zusammenzuarbeiten. Für die derzeitige Regierung ist es sicherlich einfacher als für die abgewählte, PIS geführte Regierung, in vielen Fragen eine gemeinsame Basis mit anderen Regierungen zu finden. Dies könnte sich auch in gewissem Maße auf die Beziehungen zur Ukraine auswirken, die sehr an guten Beziehungen zur EU interessiert ist. Was feststeht ist, dass es nach dem Dezember 2023 einen Wechsel in der zentralen Behörde gibt, die die polnische Ukraine-Politik leitet. Bis zum Regierungswechsel spielte der Präsident eine führende Rolle in der Ukraine-Politik. Derzeit gibt es einen Konflikt zwischen dem Präsidenten und der Regierung. Sie betrifft in erster Linie innenpolitische Fragen. In Folge dessen kann von einer Arbeitsteilung in der Ukraine-Politik keine mehr Rede sein. Der Schwerpunkt der Entscheidungsfindung hat sich in dieser Frage auf die Regierung verlagert.

Sichtbar wurde dies auf dem EU Gipfel Anfang Februar. Tusk zeigte sich nach seinen eigenen Worten „Orban-müde“, nicht „Europa-müde“. Bisher hatte Polen verhindert, dass Ungarn das Stimmrecht entzogen werden könnte, wenn es weiter die Ukraine-Finanzhilfen blockiert. Sicher war die bisherige polnische Politik gegenüber der Ukraine immer eine andere als die Ungarns. Dass Tusk sich jetzt aber entschieden auf die Seite seiner europäischen Kollegen gestellt hat, dürfte ein wesentlicher Punkt für das Nachgeben von Viktor Orban gewesen sein.

Nach der polnischen Rechtsordnung werden die meisten Entscheidungen auf der Ebene der Regierung getroffen, obwohl einige, auch in der Außenpolitik, die Zusammenarbeit mit dem Präsidenten erfordern. Der Präsident ist der oberste Chef der Armee (aber nicht der Oberbefehlshaber in einer Militärsitzung) und genehmigt u.a. die Ernennung von Generälen. Vorläufig hat der Präsident die vom neuen Verteidigungsminister vorgeschlagenen personellen Veränderungen in der Armee gebilligt. Dies bedeutet jedoch keine bedingungslose Zusammenarbeit in der Zukunft.

Es ist noch unklar, wie sich die Politik der Regierung und die Ansichten des Präsidenten in der Ukraine-Frage weiterentwickeln werden. Ob es zu einer anderen polnischen Ukraine-Politik der Tusk-Regierung kommen wird, ist derzeit noch schwer abzusehen. Die Einschätzungen sind unterschiedlich. Einige glauben, dass sich die neue Regierung weniger für die Interessen der Ukraine einsetzen wird. Die rechtskonservative Wochenzeitung "Do Rzeczy", die die Ukraine-Politik der PIS-Regierung kritisierte, veröffentlichte kurz vor Tusks Besuch in Kiew einen Artikel mit dem Titel "Diener der Ukraine", eine Anspielung auf den Namen der Partei "Diener des Volkes" von Präsident V. Selenskyj. Sie wies darauf hin, dass sowohl die alte als auch die neue Regierung eine übermäßig pro-ukrainische Haltung einnahmen. Solche Stimmen sind in den Medien jedoch nur vereinzelt zu hören. Kritiker der Unterstützung für die Ukraine werden in Polen oft als von Russland inspiriert oder gar als dessen Interessenvertreter angesehen. Aufgrund der Lage Polens ist die Politik der Unterstützung der Ukraine bei ihren militärischen Anstrengungen und ihren Bestrebungen, sich den westlichen Strukturen anzuschließen, in der Bevölkerung gut angekommen. Aber es mehren sich die Stimmen, die meinen, dass ein baldiger Beitritt zur NATO nicht möglich sein wird. Heutzutage weisen einige Kommentatoren auch darauf hin, dass die Aufnahme der Ukraine in die EU nicht nur ein wirtschaftliches Problemen für die EU-Länder darstellt (nicht nur Polen), sondern auch, dass es sich um einen Staat mit einer spezifischen inneren Struktur handelt, in dem Oligarchen eine starke Rolle spielen und der zudem korrupt ist (auch im Fall von Einkäufen für den laufenden Krieg und Verteilung von humanitärer Hilfe). Dies zusammen mit den Erfahrungen in den bilateralen Beziehungen der letzten Zeitführt gegenüber der Zeit zu Kriegsbeginn zu leicht veränderten gesellschaftlichen Emotionen. Die Erwartungen sind derzeit hoch, dass die Regierung die wirtschaftlichen Interessen Polens in den bilateralen Gesprächen mit der Ukraine und in den Gesprächen mit der EU durchsetzen wird. Die neue Regierung wird diese Haltung berücksichtigen müssen.


[1]Wanda Jarząbek , Dr.  hab., Professor am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Sie arbeitet über die Geschichte Polens im 20 Jh. und  die Geschichte des Kalten Krieges,  einschließlich der Funktionsweise des Ostblocks, Menschenrechte in der internationalen Politik, deutsch-polnische Beziehungen.  Derzeit forscht Sie über die Transformationsperiode nach 1989. Sie war unter anderem Gastwissenschaftlerin am Cold War International History Project in W. Wilson Center  und an der School of European, Russian and Eurasian Studies an der G. Washington University, Gastwissenschaftlerin am Deutschen Historischen Institut Warschau im Rahmen des Projektes Gewalt und Fremdherrschaft im Zeitalter der Extreme.  Von 2017 bis 2021 Vertreterin Polens  im Internationalen Beirat der Gedenkstätte Mauthausen.