Der gerissene Taktiker am Bosporus

Erdoğans Spiel zwischen den Kriegen

Von Frank Nordhausen (1)

„Im jetzigen Moment traue ich Russland genauso viel wie dem Westen“, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in einem denkwürdigen Interview mit der US-amerikanischen TV-Senderkette PBS im September 2023. (2) Die Aussage „im jetzigen Moment“ ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn Erdoğans politischer Handlungshorizont beträgt erfahrungsgemäß zwei bis drei Monate. Als „Meister der 180-Gradwenden“ ist er jederzeit zu abrupten Kurswechseln bereit, wenn sie ihm oder seinem Land nützen. Mit seiner kaum ein Risiko scheuenden Taktik hat Erdoğan tatsächlich erreicht, dass die Türkei heute machtpolitisch stärker erscheint als je zuvor, selbst wenn sie es nicht notwendigerweise ist.

Die Ukraine ist ein wichtiger Schauplatz von Erdoğans Machtprojektionen und eingebettet in seine komplexe Schaukelpolitik zwischen den Großmächten, welche die Nato-Partner nicht selten vor den Kopf stößt und die Frage aufwirft, inwieweit die Türkei überhaupt noch als verlässlicher Alliierter angesehen werden kann. Tatsächlich ist Erdoğan auch in 2023, dem Jahr des hundertsten Jubiläums der türkischen Republikgründung durch Mustafa Kemal Atatürk, nicht von seinem Ziel „strategischer Autonomie“ abgewichen. Er will die Türkei als eigenständige Regionalmacht zwischen Ost und West etablieren, die keinem Lager auf Dauer angehört und sich alle Optionen offenhält.Deshalb laviert er zwischen den Blöcken und spielt Moskau und Washington gegeneinander aus, wann immer es ihm möglich erscheint.Als ideologischer Parteigänger der ägyptischen Muslimbrüder versucht er seit Langem, sein Land als Führungsnation der islamischen Umma (Gemeinschaft aller Muslime) zu etablieren und damit gleichzeitig an die imperiale Tradition des Osmanischen Reiches anzuschließen. Diese „neo-osmanische“ Strategie geht auf Erdoğans früheren Außen- und Premierminister Ahmet Davutoğlu zurück, der das außenpolitische Konzept angesichts des Arabischen Frühlings in seinem Buch „Strategische Tiefe“ 2011 entwickelte, worin er der Türkei eine Führungsrolle im Nahen Osten und Zentralasien zusprach.

 

Die Rolle der Türkei im Nahostkonflikt

Im aktuellen Nahostkonflikt hat sich die Türkei mit ihrer explizit antiisraelischen Rhetorik und der fortgesetzten Freundschaft ihres Langzeitpräsidenten zu den Chefplanern der Hamas-Anschläge vom 7. Oktober gegen Israel gestellt und zunehmend offen auf die antiwestliche Seite geschlagen. Anfangs zögerte Erdoğan zwar, sich derart klar zu positionieren, denn er spekulierte wohl auf eine mögliche Vermittlerrolle im Nahen Osten, die ihm neues internationales Prestige als Krisenmediator verschafft hätte. Doch indem sie Ankara zunächst nicht in ihre Krisendiplomatie einbezogen, machten US-Präsident Joe Biden und sein Außenminister Antony Blinken schnell klar, dass sie auf türkische Verhandler keinen Wert legten. Als Erdoğans islamistische Verbündete im türkischen Parlament dann massenhaft anti-israelische und antisemitische Demonstrationen in türkischen Städten organisierten, folgte er schnell dem Ruf der Straße und stellte sich an die Spitze der Bewegung.

Von ideologischen und innenpolitischen Gründen abgesehen, kommt der Gaza-Krieg aber auch Erdoğans geopolitischem Zickzackkurs entgegen. Zwei Tage vor dem Hamas-Terrorangriff startete das türkische Militär eine massive Bombenkampagne gegen die Kurdenguerilla PKK im Nordirak und vor allem gegen das selbstverwaltete Kurdengebiet „Rojava“ mit 5 Millionen Einwohnern in Nordostsyrien, die bis zum Januar 2024 anhielt. Die Militäroperation trifft in Rojava hochsensibles Terrain, denn dort sind US-Truppen im Rahmen des Antiterrorkrieges gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) stationiert.

Im Rahmen seiner geopolitischen Schaukelpolitik erscheint Erdoğans Vorgehen jedoch konsequent und erfolgreich. Er könnte versucht sein, die Ablenkung Washingtons durch den Gaza-Krieg für eine umfassende Invasion Rojavas zu nutzen – zumal aus den USA widersprüchliche Signale kommen. So zog ihm das Pentagon mit dem Abschuss einer Angriffsdrohne im Oktober zwar eine rote Linie, beeilte sich aber wenig später, den Vorfall als „bedauerlichen Zwischenfall“ herunterzuspielen und unternahm nichts gegen die weiter andauernden türkischen Luftangriffe auf die kurdischen US-Verbündeten.

Wichtigster Grund für die amerikanische Zurückhaltung ist die in Washington für unverzichtbar gehaltene geostrategische Position der Türkei an der Bruchlinie zwischen Europa, Asien und dem Nahen Osten, aber wohl auch der von Erdoğan vom Mai 2022 an blockierte Nato-Beitritt Schwedens. Anderthalb Jahre hatte Erdoğan damit gepokert, erst im Januar 2024 besiegelte er die türkische Zustimmung. Der türkische Präsident braucht nämlich seinerseits finanzielle Unterstützung aus dem Westen für die Wirtschaft seines Landes. „Erdoğan testet aus, wie weit er gehen kann“, sagt der in Istanbul lebende, für die Johns-Hopkins-Universität tätige Türkei-Experte Gareth Jenkins. Das immerhin haben die Amerikaner verstanden und halten inzwischen dagegen. Am 12. Oktober 2023 verlängerte US-Präsident Joe Biden eine bestehende offizielle Sanktionsandrohung gegen die Türkei um ein Jahr, da Ankara mit der Militäroffensive „Frieden, Sicherheit und Stabilität in der Region zu unterminieren droht“ und dadurch „eine außergewöhnliche Bedrohung der nationalen Sicherheit und Außenpolitik der USA darstellt“. Prompt konterte Erdoğan ebenso harsch und nannte die USA eine „außergewöhnliche Bedrohung der nationalen Sicherheit der Türkei“.

Bis zum Januar 2024 machte Erdoğan keine Anstalten, seinen aggressiven Kurs gegenüber Rojava zu ändern, sondern ließ das Gebiet weiter bombardieren. Der türkische Präsident kann offenbar darauf vertrauen, dass ihm Moskau wie Washington für diesen „Krieg niedriger Intensität“ weitgehend freie Hand lassen. Mit Putin verbindet ihn zudem die eskalierende anti-israelische Rhetorik. Beide Autokraten hatten bis zum barbarischen Hamas-Anschlag vom 7. Oktober gute Beziehungen zu Israels rechtspopulistischem Regierungschef Benjamin Netanjahu gepflegt, die sie nach Beginn der israelischen Gaza-Kampagne abrupt beendeten. Jetzt instrumentalisierten beide Herrscher den israelisch-palästinensischen Konflikt, um sich öffentlich gegen Israel und den Westen zu positionieren und gleichzeitig die eigenen Kriege zu intensivieren – die Türkei in Nordsyrien, Russland in der Ukraine.

Ende Oktober erklärte Putin, dass „das Schicksal Russlands und der ganzen Welt, einschließlich der Zukunft des palästinensischen Volkes, an der ukrainischen Front entschieden wird“. Damit stellte er eine direkte Verbindung beider Konflikte her, die er als Schauplätze eines Weltkriegs zwischen Russland, Hamas und Iran auf der einen, Ukraine, Israel und der Nato auf der anderen Seite definierte. Die Aussage ist erstaunlich klar, weil sie nicht wie so oft vom Kern der Auseinandersetzung ablenkt. Putin hat nämlich in diesem Punkt Recht: Tatsächlich entscheidet sich in der Ukraine die Zukunft der internationalen Weltordnung, des Friedens, der Freiheit und der liberalen Demokratie.

 

Türkisch-russische Machtverschiebungen im Kaukasus

Anders als der russische Herrscher versucht Erdoğan stets, sich möglichst viele Optionen offenzuhalten. Wie die Türkei im Westen als unzuverlässiger Nato-Partner auftritt, so erscheint sie auch gegenüber Russland als ein „paradoxer Freund“. Mit großem Selbstbewusstsein, aber ebenso großer Vorsicht hat der türkische Präsident seit Beginn des Ukraine-Kriegs sein Verhältnis zum Kreml-Chef und die widersprüchliche Beziehung der Türkei zu Russland weiterentwickelt. Außenpolitisch kooperieren beide Länder, wo es möglich ist, bekämpfen sich aber militärisch auf verschiedenen Kriegsschauplätzen mit unterschiedlicher Intensität: in Syrien, Libyen und dem Kaukasus.

Infolge des Gaza-Kriegs hat Erdoğannach einer Periode des Austestens roter Linien Putins derzeit zwar wieder zu einem geopolitischen Gleichklang mit dem großen Nachbarn gefunden, die es in keiner der letzten Krisen mehr gab. Sie dürfte aber nicht von Dauer sein, denn beide Staatschefs versuchen wie bisher, geopolitische Machtverschiebungen zu ihren jeweiligen Gunsten teilweise auf demselben Terrain herbeizuführen. Wobei Putin offensichtlich auf mehr Einfluss im globalen Süden spekuliert, während es Erdoğan vor allem um die Führungsrolle in der islamischen Welt geht. Während Putin aber Probleme hat, den südlichen Regierungschefs seine imperialistische Politik sowie die Angriffe auf Getreidefrachter im Schwarzen Meer zu erklären und sein Einfluss im Nahen Osten wegen seiner Allianz mit Teheran schwindet, gelingt es Erdoğan nicht nur, widerspruchsfreier zu agieren, sondern ihm kommt auch zugute, dass Russland durch den Ukraine-Krieg gebunden und geschwächt ist.

So hat die Türkei im Südkaukasus spätestens seit dem aserbaidschanischen Blitzkrieg um Bergkarabach im September 2023 jene Vormachtrolle übernommen, die zuvor Russland  innehatte. Der Nato-Staat Türkei war offenbar direkt in die militärischen Vorbereitungen der Aseris eingebunden und schickte schon in der ersten Jahreshälfte tonnenweise Rüstungsgüter nach Baku, darunter eine neue Charge Bayraktar TB-2-Drohnenaus der „Baykar“-Waffenschmiede des Erdoğan-Schwiegersohns Berat Bayraktar. (3) Eine unmittelbare militärische Beteiligung türkischer Soldaten oder Techniker gab es diesmal aber offenkundignicht. Sie wäre wohl auch nicht nötig gewesen, hatte doch der aktive Eintritt der Türkei in den lange „eingefrorenen“ Bergkarabach-Konflikt 2020 die strategische Balance im Südkaukasus bereits entscheidend verändert und Erdoğan zu einem spektakulären außenpolitischen Erfolg verholfen. Damals erwies sich die Bayraktar TB-2-Drohne als verheerende „Geheimwaffe“ im Einsatz gegen armenische Panzer- und Infanterieverbände, da Jerewan über keine adäquaten Abwehrsysteme verfügte und von seiner Schutzmacht Russland im Stich gelassen wurde.

Auch diesmal wurden wieder Artilleriesysteme und Kampfdrohnen aus türkischer Produktion – ausgestattet mit elektronischen Komponenten aus Nato-Ländern - bei der Offensive eingesetzt. Die Türkei verspricht sich von dem Sieg Aserbaidschans und der Eingliederung Bergkarabachs in dessen Territorium einerseits eine Normalisierung der Beziehungen zu ihrem historischen Feind Armenien, mittelfristig eine Öffnung der bisher aus Rücksicht auf Baku geschlossenen Grenze und damit einen besseren Zugang für den Handel mit den Kaukasusrepubliken und Zentralasien.

Es ist unklar, ob Russlands mangelnder Einsatz für die Verteidigung der armenischen Interessen auf die Schwächung durch den ressourcenfressenden Ukraine-Kriegs zurückzuführen ist oder ob es Absprachen mit Erdoğan gab, weil Putin die Nord-Süd-Verbindung über Aserbaidschan in den Iran für die Umgehung der westlichen Sanktionen benötigt. Geopolitisch bedeutete der Blitzsieg Aserbaidschans in Bergkarabach gleichwohl einen erheblichen Machtverlust Russlands im Südkaukasus. Erdoğan dagegen hat erneut einen bedeutenden strategischen Erfolg errungen. Er nutzte die Schwäche Putins, um die Türkei als wichtigste Ordnungsmacht in der Region fest zu etablieren.

 

Waffenlieferungen und Sanktionsbrüche: Erdoğans riskante Ukraine-Politik

Auf dem ukrainischen Schauplatz nutzt Erdoğan ebenfalls jede Schwäche Putins für seine Machtspiele und ökonomische Gewinne. Bekanntlich hatte der türkische Präsident der Ukraine zu einem Zeitpunkt, als Deutschland ihr gerade 5000 Helme lieferte, bereits Bayraktar-TB-2-Drohnen geschickt, die wesentlich zur erfolgreichen Abwehr der russischen Angriffe zu Beginn des Krieges beitrugen. Erdoğan sperrte zudem den Bosporus für russische (und andere) Kriegsschiffe und forderte schon im September 2022 die Rückgabe der Krim an die Ukraine, was in Moskau helle Empörung hervorrief.

Die Türkei war 2023 stark im risikoreichen Handel mit ukrainischem Getreide engagiert, und Kiew avancierte zu einem wichtigen Abnehmer türkischer Rüstungsgüter. Umgekehrt eröffnete die Zusammenarbeit mit der Ukraine, einer früheren Rüstungsschmiede der Sowjetunion, der Türkei neue Chancen für die Acquisition von Waffensystemkomponenten, die ihr aufgrund westlicher Exportembargos fehlten. „Die Ukraine wird in der Türkei inzwischen als entscheidende Alternative zu traditionellen westlichen Waffenlieferanten betrachtet“, sagt Ilhan Uzgel, Professor für internationale Beziehungen aus Ankara.

Im Sommer traf Erdoğan mehrere Entscheidungen, die der Kreml als feindlich betrachten musste. Während eines Besuchs des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj in Istanbul im Juli erklärte der türkische Staatschef, die Ukraine „verdiene“ die Nato-Mitgliedschaft. Darüber hinaus ließ er fünf Kommandeure des ukrainischen Asow-Regiments, die sich im Rahmen eines russisch-ukrainischen Gefangenenaustauschs in der Türkei aufhielten, trotz einer gegenteiligen Verabredung mit Moskau in die Ukraine ausreisen. Zu diesem Zeitpunkt war der Kreml mit dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive und dem Aufstand der Wagner-Söldner beschäftigt und beschränkte sich auf verbale Protestnoten. Die einzige ernstzunehmende Reaktion Russlands bestand darin, aus dem Schwarzmeer-Getreideabkommen auszusteigen, obwohl sich die Türkei – und Erdoğan persönlich - um eine Verlängerung bemüht hatte. Dies war ein schwerer Schlag für den türkischen Präsidenten, der das Abkommen 2022 selbst verhandelt und versucht hatte, sich im Krieg Russlands gegen die Ukraine als wichtiger Vermittler zu positionieren.

Wie sehr der Kremlchef Putin die Chuzpe der türkischen Balancepolitik verabscheut, ließ er einen Monat später im August erkennen. Nach dem einseitigen russischen Ausstieg aus dem Schwarzmeer-Getreideabkommen stoppte ein russisches Kriegsschiff einen türkischen Frachter auf dem Weg zum ukrainischen Getreidehafen Ismajil mit Warnschüssen und einem Hubschraubereinsatz, um eine „Inspektion auf verbotene Güter“ – Getreide - durchzuführen. Doch der Denkzettel blieb folgenlos, die Lieferungen gingen trotzdem weiter, und im Januar 2024 verständigten sich die Türkei, Bulgarien und Rumänien sogar darauf, gemeinsam russische Seeminen aus dem Seeweg für die ukrainischen Getreideschiffe zu räumen. Putin lässt Erdoğan notgedrungen gewähren, weil er letztlich von der Partnerschaft mit der Türkei profitiert. Denn trotz ihrer Nato-Mitgliedschaft spielt sie eine Schlüsselrolle beim Unterlaufen der westlichen Russland-Sanktionen, denen sie sich ausdrücklich nicht angeschlossen hat.

Zwar hatte die Türkei ihren Nato-Partnern zugesagt, Moskau nicht bei der Umgehung westlicher Exportkontrollen zu helfen, andererseits hielt sie ihre engen diplomatischen und ökonomischen Beziehungen zu Russland aufrecht. Die Behörden und die Regierung der Türkei legtentürkischen Unternehmen, die brisante Waren irregulär nach Russland schafften, keine Steine in den Weg. Spätestens seit Anfang September sind diese Sanktionsbrüche aktenkundig, als die USA überraschend fünf führende türkische Reedereien und Handelsfirmen sowie einen Unternehmer wegen der Ausfuhr militärisch verwendbarer Komponenten für Drohnen und Sensortechnik nach Russland mit Sanktionen belegten.

In Washington schaut man mit Sorge nicht nur auf die türkischen Sanktionsbrüche, sondern auch auf die enormen Exporterfolge der türkischenWaffenindustrie, die ohne Skrupel an jeden liefert, der zahlt. Die Türkei profitiert dabei vor allem vom Ruhm ihrer Drohnenindustrie - nicht nur finanziell, sondern auch strategisch. Ihre Erfolge auf aktuellen Schlachtfeldern verbesserten einerseits den militärischen Wert der Türkeiin der Nato. Andererseits öffnen die türkischen Drohnenexporte dem Land Türen in Asien, Afrika und am Golf, stärken seine Stellung als aufstrebende Regionalmacht und machen es aus westlicher Sicht immer unkalkulierbarer. Der Ex-Pentagon-Berater und Türkei-Experte Michael Rubin forderte die USA deshalb in einer Publikation des Washingtoner Thinktanks „American Enterprise Institute“ im Juli 2023 mit alarmistischen Untertönen auf, die Türkei mit Sanktionen zu belegen, denn es sei höchste Zeit, „die politische Destabilisierung ganzer Weltregionen von Afrikas Großen Seen zum Kaukasus und vom indischen Kaschmir bis Libyen“ durch die türkischen Drohnenexporte zu stoppen. (4) Die Biden-Administration ging nicht darauf ein.

Nachdem die Vereinigten Staaten im September erstmals Strafmaßnahmen wegen dertürkischen Exporte lebenswichtiger High-Tech-Güter für Russlands Kriegsmaschine verhängten,lenkte Ankara zwar ein und blockierte den direkten Transit sanktionierter Waren über die Türkei nach Russland, doch werden dieseseither offenkundig über Lieferketten im Kaukasus und Zentralasien verschoben. Das Volumen dieses Handels ist laut Medienberichten im vergangenen Jahr sprunghaft angestiegen. Ende November hat Washington daher den politischen Druck auf Ankara noch einmal erhöht, um die fortgesetzte Obstruktion der Nato-Politik durch türkische Firmen zu unterbinden und schickte einen hochrangigen Regierungsbeamten mit warnenden Botschaften nach Ankara, wie die britische Financial Times (FT) in einem Aufsehen erregenden Artikel meldete. Laut dem FT-Bericht werden hochsensible Komponenten für die Rüstungsindustrie über den Umweg ehemaliger Sowjetrepubliken verdeckt nach Russland geliefert. Bisherige Bemühungen, diesen Geisterhandel zu unterbinden, hätten sich als schwierig erwiesen, da die Teile sowohl zivile als auch militärische Anwendungen besäßen (sog. „Dual-Use-Komponenten“). Unter Berufung auf die Zolldaten des schweizerischen Handelsdatenunternehmens „Trade Data Monitor“ publizierte die FT dazu detaillierte Angaben und nannte auch konkrete Firmen. (5)

Aus dem FT-Bericht geht hervor, dass sich die türkischen Einfuhren von hochprioritären „Dual-Use“- Waren aus den G7-Ländern im Jahr 2023 um mehr als 60 Prozent auf fast 500 Millionen Dollar erhöhten, wobei offiziell Waren im Wert von mindestens 158 Millionen Dollar nach Russland und in die fünf Ex-Sowjetrepubliken Aserbaidschan, Georgien, Kasachstan, Kirgisistan und Usbekistan exportiert worden seien. Dort seien diese Waren aber nicht als Importe registriert worden, was den Schluss nahelegt, dass sie Richtung Russland weitergeleitet wurden. Das beträfe 45 sensible Warenkategorien, wie Mikrochips, Kommunikationsgeräte oder Zielfernrohre, die westlichen Ausfuhrkontrollen unterliegen. Nach Einschätzung der USA und der EU verwendet Russland die Komponenten in seinen Marschflugkörpern, Drohnen und Hubschraubern.

Die bisher getroffenen türkischen Maßnahmen zum Stopp des Transits sensibler Güterreichten nicht aus, erklärte der stellvertretende US-Außenminister James O'Brien Ende November. Er warnte Ankara öffentlich, die westlichen Staaten wollten nicht, „dass einer unserer wichtigsten Partner zu einem Ort wird, an dem unsere Sanktionen umgangen werden“ – eine unverhüllte Aufforderung, in der Außenpolitik endlich eine eindeutige Haltung einzunehmen. Das türkische Außenministerium konterte wachsweich, es werde alles getan, um Sanktionsumgehungen zu verhindern, doch gebe es leider solche „Versuche“ durch „obskure Unternehmen“, denen die Sanktionen „gleichgültig“ seien.

Dazu erklärten Türkeiexperten auf einer internationalen Tagung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Nikosia im November, mit der Tolerierung des „Geisterhandels“ sanktionierter Waren revanchiere sich Erdoğan auch für die massive Unterstützung Putins bei den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Mai 2023. Damals habe sich Putin erstmals offen in Türkei-Wahlen eingemischt, indem er türkische Gas-Schulden in Höhe mehrerer hundert Millionen Dollar stundete und Erdoğan damit ermöglichte, seinen Wählern kurz vor dem Urnengang kostenlose Gaslieferungen zu versprechen – ein wichtiger Mosaikstein bei der komplexen Operation Erdoğans, die Wahlen, wenn auch knapp, für sich zu entscheiden, und ein Gewinn für Putins internationale „Achse der Autokratien“. Diese Intervention habe das ohnehin asymmetrische Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden Herrschern zugunsten Putins weiter verstärkt. Es handle sich aber zuvörderst um eine persönliche Abhängigkeit, die nicht mit der ebenfalls bestehenden Macht-Asymmetrie zugunsten Moskaus zwischen beiden Staaten gleichgesetzt werden dürfe.

 

Schaukelpolitik und Verzögerungstaktik

Von allen sogenannten Freunden Russlands ist die Türkei sicher der schillerndste und unzuverlässigste. Das gegenseitige Verhältnis ist seit jeher von tiefem Misstrauen geprägt. Das hat auch mit der langen und wechselvollen Geschichte der beiden über das Schwarze Meer benachbarten Staaten und ihren geopolitischen Verwerfungen zu tun. „Russland ist nun mal einer meiner engsten Nachbarn. Und wir haben eine gemeinsame Geschichte“, sagte Erdoğan in dem oben erwähnten PBS-Interview. Er nannte gute Beziehungen mit der EU, den USA und Russland „Win-Win“-Lagen, die er deshalb weiter fördern werde. Selten hat Erdoğan seine außenpolitische Balancehaltung so klar zum Ausdruck gebracht.

Erdoğans Ansatz steht im Einklang mit dem historischen außenpolitischen Kurs der Türkei. Schon das Osmanische Reich bemühte sich um ein Gleichgewicht zwischen den westeuropäischen Mächten und Russland, seit dieses im 18. Jahrhundert als regionaler Akteur an der Nordgrenze der Türkei auftauchte. Der Balanceakt ermöglichte es der Hohen Pforte, das 19. Jahrhundert trotz des zunehmenden Drucks durch das Zarenreich und die europäischen Mächte weitgehend unbeschadet zu überstehen. Als sich das Osmanische Reich dagegen mit den Mittelmächten im Ersten Weltkrieg verbündete, erlitt es mit ihnen eine historische Niederlage, was sein Ende bedeutete. Atatürks kluge Neutralitätsstrategie half danach dem Land wiederum, den Zweiten Weltkrieg ohne Verwüstungen zu überdauern. Während des Kalten Krieges trat die Türkei 1952 wegen der zunehmenden sowjetischen Bedrohung dem westlichen Nato-Bündnis bei und blieb auch nach dem Ende der Sowjetunion in den 1990er Jahren ein verlässlicher Partner der US-Politik im Nahen Osten und auf dem Balkan.

Angesichts des Arabischen Frühlings und der neu konzipierten neo-osmanischen Außenpolitik führte Erdoğan das Land ab 2011 jedoch wieder auf den alten Pfad der geopolitischen Balancepolitik zurück. In seiner zunehmenden Distanz zum Westen fühlte er sich durch den Putsch des prowestlichen ägyptischen Militärs unter General Abdel Fattah al-Sisi gegen die Regierung des Muslimbruders Mohammed Mursi 2013 ebenso bestätigt wie durch das Bündnis der USA mit den syrischen Kurden und besonders durch den gescheiterten Putschversuch vom Juli 2016, dessen Drahtzieher er – ohne stichhaltige Beweise – in Washington ausmachte. Dagegen war Wladimir Putin der erste ausländische Staatschef, der Erdoğan noch in der Putschnacht seine Solidarität versicherte – was das gegenseitige Vertrauen stärkte, bis russische Kampfjets im Februar 2020 bei einem Bombardement in Nordsyrien 34 türkische Soldaten töteten, auch ein Grund für Erdoğans vorsichtig distanzierte Haltung gegenüber Moskau.

Im Verhältnis mit dem mächtigen nördlichen Nachbarn hat der türkische Präsident aus bilateralen Verwerfungen seit November 2015 allerdings den Schluss gezogen, die machtpolitische Überlegenheit Moskaus grundsätzlich nicht mehr in Frage zu stellen. Damals schoss die türkische Luftabwehr ein russisches Flugzeug ab, das aus Syrien kommend in den türkischen Luftraum eingedrungen war. Russland verhängte umgehend schmerzhafte Sanktionen gegen die Türkei; Erdoğan sah sich zu einer demütigenden Entschuldigung bei Putin gezwungen. Anschließend bestellte Ankara für zwei Milliarden Dollar russische S-400-Luftabwehrraketen und lässt Russland seit 2018 in der Südtürkei das Atomkraftwerk Akkuyu errichten, das türkische Kritiker als russische Basis mitten in ihrem Land anprangern. Russland gab seinerseits grünes Licht für militärische Operationen der Türkei im Norden Syriens und nahm den Bau der Pipeline TurkStream wieder auf, durch die seit Januar 2020 russisches Gas in die Türkei fließt.

Die energiepolitische und ökonomische Abhängigkeit der Türkei von Russland ist in den vergangenen Jahren stetig gewachsen und hat Putin enormes Druckpotential in die Hände gespielt. Seit 2022 plant Russland die Errichtung eines Erdgasknotenpunktes in der Türkei und verhandelt hart mit Ankara um die Verfügungshoheit über diesen „Hub“, der offensichtlich dazu dienen soll, russisches Gas zu türkischem für den Export in die EU weißzuwaschen. Das Handelsvolumen zwischen Russland und der Türkei hat sich seit Beginn des Ukraine-Kriegs stark erhöht und überstieg 2023 mehr als 65 Milliarden US-Dollar. Russland ist erstmals zum wichtigsten Importpartner der Türkei mit Waren im Wert von 58,85 Milliarden Dollar aufgestiegen, eine Verdreifachung gegenüber 2021. (6) Erdoğan versucht daher, im persönlichen Umgang mit dem Kreml-Chef keine Irritationen entstehen zu lassen. Als Putin Anfang September offenbar wegen des gegen ihn verhängten internationalen Haftbefehls einen langgeplanten Besuch in Ankara absagte und den türkischen Staatschef stattdessen nach Sotschi zitierte, kam Erdoğan der Aufforderung umgehend nach.

Trotzdem bleibt Erdoğan wegen seines Strebens nach „strategischer Autonomie“ der Türkei für Putin ein unberechenbares Risiko. Nicht nur, weil Russland nun auf die Türkei als Umschlagplatz für Waren zur Umgehung westlicher Sanktionen angewiesen ist. Sondern auch, weil der türkische Präsident Realist genug ist, um angesichts wachsender russischer Schwäche seine Nato-Partnerschaft nicht zu gefährden und radikale antiwestliche Rhetorik gegebenenfalls durch pragmatisches Handeln auszubalancieren. Wobei sich sein Blick nach Westen ausschließlich auf die USA richtet, denn die Europäer nimmt er wegen ihrer Zerstrittenheit und Abhängigkeit von der Torwächterfunktion der Türkei gegen irreguläre Migranten ohnehin nicht ernst. Dem erfahrenen Instinktpolitiker Erdoğan gelang es während des gesamten Jahres 2023 noch einmal, die heikle Balance zum Westen und zu Russland aufrechtzuerhalten.

Zwar brachte seine Blockade des Nato-Beitritts Schwedens und Finnlands die westlichen Partner gegen ihn auf, doch konnte er mit seiner bewährten Taktik „zwei Schritte vor, einen zurück“, die Zustimmung zum Beitritt Finnlands im März als Durchbruchverkaufen, obwohl er seinen eigentlichen Trumpf – grünes Licht für Schwedens Nato-Mitgliedschaft – weiter in der Hand behielt, um seine Forderung nach der Übergabe US-amerikanischer F-16-Kampfjets an die Türkei durchzusetzen. Sein neues Kabinett besetzte Erdoğan im Juni mit einigen prowestlich eingeschätzten Politikern, und er korrigierte seine verhängnisvolle Währungspolitik, die zum Verfall der Lira und einer Hyperinflation geführt hatte. Auf dem Nato-Gipfel im Juli 2023 in Vilnius (Litauen) kündigte er an, sein Veto gegen den Beitritt Schwedens zurückzuziehen. Er verbesserte die seit dem Sisi-Putsch eingefrorenen Beziehungen zum traditionellen US-Verbündeten Ägypten. All diese prowestlichen Schritte wurden in Washington und Brüssel positiv aufgenommen und – bei gleichzeitigen Strafmaßnahmen wegen der türkischen Sanktionsbrüche –im September mit einem Kredit der Weltbank in Höhe von 35 Milliarden US-Dollar zur Unterstützung der türkischen Wirtschaft belohnt.

Allerdings könnte Erdoğans Pendelstrategie an eine Grenze stoßen, je länger der Ukraine-Krieg andauert. Denn die vorgebliche Neutralität der Türkei wird in Moskau wie in Washington mit wachsender Ungeduld quittiert. Der schmale Grat zwischen den Verpflichtungen als langjähriges Nato-Mitglied und der wachsenden ökonomischen Abhängigkeit von Moskau wird für Erdoğan zunehmend enger.

Im Herbst sah sich der türkische Präsident trotz oder wegen seines radikal antiisraelischen Kurses gezwungen, weitere Signale der Kulanz nach Washington und Brüssel zu senden. So wurde im November der wegen angeblicher Terrorunterstützung seit 2017 inhaftierte US-Botschaftsmitarbeiter Metin Topuz freigelassen, und Erdoğan leitete im selben Monat die Gesetzesvorlage zum schwedischen Nato-Beitritt zur Ratifizierung ans Parlament weiter. Ende Dezember winkte das Auswärtige Komitee des türkischen Parlaments das entsprechende Gesetz durch. Doch blieb es - typisch für Erdoğan - zunächst bei der reinen Geste des Entgegenkommens, denn er verzögerte die Zustimmung des Parlaments noch bis in den Januar 2024.

Erdoğan wartete auf das Okay für die von ihm verlangten 40 F-16-Kampfjets (und 40 Eurofighter) aus der Nato, die er dringend zur Erneuerung der überalterten türkischen Kampfjetflotte braucht. Washington hatte Ankara 2019 nach dem Erwerb der russischen S-400-Flugabwehrsysteme aus dem Programm zur Entwicklung und Produktion der neuen F-35-Maschinen ausgeschlossen. Der US-Kongress blockiert den Rüstungsdeal schon seit mehreren Jahren, da zahlreiche Abgeordnete befürchten, die Türkei könnte die amerikanischen Schlachtflugzeuge gegen ihren Ägäis-Nachbarn Griechenland einsetzen. Im Dezember betonte Erdoğan so klarwie nie zuvor das Junktim zwischen beiden Entscheidungen. Die Mitgliedschaft Schwedens sei mit der „gleichzeitigen“ Zustimmung des US-Kongresses zum Verkauf der F-16-Maschinen an die Türkei „verknüpft“, sagte er auf einer Pressekonferenz in Ankara. Wenn Washington „gleichzeitig und solidarisch“ seinen Beitrag leiste, werde das Parlament in Ankara das Gleiche tun.

Als die Nationalversammlung das Ratifizierungsgesetz schließlich im Januar 2024 billigte, rätselten Türkei-Experten deshalb, ob Erdoğan eine versteckte amerikanische Zusage für die F-16-Jets erhalten habe oder daraufsetzte, mit der türkischen Zustimmung als Vorleistung den US-Kongress doch umstimmen zu können.Nur einen Tag später appellierte US-Präsident Joe Biden an wichtige Kongressabgeordnete beider Parteien, den Deal abzusegnen und die Kampfjets freizugeben. In jedem Fall ebnete Erdoğan mit dem Schrittden Weg für eine dringend nötige Verbesserung der Beziehungen zu den USA.

„Man darf sichkeinen Illusionen hingeben. Erdoğan persönlich ist nicht prowestlich eingestellt“, fasst Yavuz Baydar, Chefredakteur des exiltürkischen Analyseportals „Free Turkish Press“, das Verhältnis des türkischen Präsidenten zur Nato zusammen. „Sein Verbleib im westlichen Bündnis ist rein taktisch motiviert.“

Anmerkungen

  1. Frank Nordhausen waren jahrelang Türkei-Korrespondent der Berliner Zeitung. Als persona non grata eingestuft, musste er 2017 das Land verlassen und lebt seither als freier Auslandskorrespondent deutschsprachiger Medien in Nikosia (Zypern).
  2. Turkey’s Erdoğan says he trusts Russia ‘just as much as I trust the West’. Web: https://www.youtube.com/watch?v=UTwdGz5brKU
  3. Looming Azerbaijan-Armenia War Signals Geopolitical Shifts. Iran International v. 9.7.2023. Web: https://www.iranintl.com/en/202309070919
  4. Michael Rubin: Think Beyond Ukraine: Turkey’s Drone Exports Are a Threat. 19fortyfive.com v. 13.1.2023. Web: https://www.aei.org/op-eds/think-beyond-ukraine-turkeys-drone-exports-are-a-threat/
  5. Turkey’s exports of military-linked goods to Russia soar. Financial Times v. 27.11.2023. Web: https://www.ft.com/content/1cef6628-32eb-49c9-a7f1-2aef9bce4239
  6. Zitiert nach: Turkiye’s growing military exports to Russia prompt US scrutiny, urgent diplomatic visit. Arab News v. 28.11.2023. Web: https://www.arabnews.com/node/2416821/middle-east