Der Untergang der armenischen Kulturregion Berg-Karabach

Das Vabanque-Spiel des armenischen Ministerpräsidenden Nikol Paschinjan vor dem Hintergrund des Ukraine- und Nahost-Krieges

von Philipp Ammon[1]

Der Journalist und Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan stürzte 2018 in der „Samtenen Revolution“ die armenische Regierung. Seine Bewegung stand unter dem unter dem Motto Bekämpfung der Korruption und Armut sowie der Wiedervereinigung („Miazum“) aller Teile Armeniens. Paschinjan, geboren 1975 in Armenien, wurde im Mai 2018 zum Ministerpräsidenten seines Landes gewählt. Bereits früh trat er als Kritiker der Bindung Armeniens an Rußland auf. Bereits als Oppositionspolitiker war er 2013 gegen den Beitritt Armeniens zur von Russland gegründeten Eurasischen Wirtschaftsunion und 2016 gegen die Aufstellung einer unter russischem Befehl stehenden Flugabwehr eingetreten. Armenien solle eine eigene Flugabwehr aufbauen. Nach der Samtenen Revolution kühlte sich das Verhältnis zur nördlichen Schutzmacht spürbar ab. Das russische Programm wurde aus dem kostenlosen Senderpaket des armenischen Fernsehens entfernt, bei Demonstrationen wurden russische Flaggen verbrannt. Weiter verschlechterte sich das Verhältnis, als die Sonderermittlungsbehörde Armeniens 2019 Anklage gegen Politiker erhob, die Russland verbunden waren: die aus Karabach stammenden ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan (1998-2008) und Sersch Sargsjan (2008-18), beide Jahrgang 1954. Als das armenische Verfassungsgericht darauf eine Beschwerde der Anwälte Kotscherjans an die Venedig-Kommission und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte schickte, leitete Paschinjan mit Unterstützung der Open Society Foundation[2] eine Verfassungsreform ein und stellte sich gegen die gesamte ehemalige Regierungselite.

Insgesamt pflegte Paschinjan seit Machtantritt eine großsprecherische Rhetorik. So erklärte er, er werde dafür sorgen, daß die Bevölkerung Armeniens auf mindestens fünf Millionen Staatsbürger anwachsen würde, die Zahl der jährlichen Touristen auf fünfzehn Millionen. Die Arbeitslosigkeit und Armut würden beseitigt, das Bruttoinlandsprodukt verfünfzehnfacht, der Durchschnittslohn versiebenfacht, das Bildungsbudget verzwanzigfacht werden. Armenien würde Fußballeuropa- und Weltmeister werden, bei den Olympischen Spielen fünfundzwanzig Medaillen erringen und ein Armenier wieder Schachweltmeister werden. Ferner würden zehntausend Start-ups und mindestens fünf Technologieunternehmen mit einem Wert von über fünf Milliarden Dollar geschaffen und die armenische zu einer der zwanzig schlagkräftigsten Armeen der Welt aufsteigen.

Der innere Auseinandersetzung in Armenien und die Zeichen der Abkühlung zwischen Moskau und Jerewan wurden in Baku, der Hauptstadt des mit Armenien rivalisierenden Nachbarstaates Aserbaidschan, sehr aufmerksam verfolgt. Im Vorfeld des Feldzuges zur Rückeroberung der de facto unabhängigen sezessionistischen Region Berg-Karabach von 2020 wurden wurden russische Politologen im aserbaidschanischen Fernsehen wiederholt gefragt, ob Russland Armenien im Kriegsfall unterstützen würde. Gleichzeitig modernisierte Aserbaidschan mit den Einnahmen aus dem Gasboom seine Armee und rüstete sie mit türkischen und israelischen Drohnen auf. Über vergleichbare Einnahmequellen verfügt Armenien nicht: „Hajastan – Karastan“, Armenien ist Steinland, heißt ein Sprichwort: Aus einem Stein kann man kein Wasser wringen.

Die Spjurkarmenier, die in Frankreich und Amerika starke armenische Diaspora, konnten zwar in den vergangenen Jahren erreichen, dass der Mord an den Armeniern 2015 international als Genozid anerkannt wurde, konnten jedoch nicht ausreichend Mittel zum militärischen Schutz der Armenier in Karabach bereitstellen. An Aserbaidschan dagegen haben manche Staaten auch militärisches Interesse. Für Israel beispielsweise ist Baku von wichtiger strategischer Bedeutung. Von Aserbaidschan läßt sich nämlich der Iran abhören, vom Luftwaffenstützpunkt Sitalcay lassen sich zudem Angriffe auf die Islamische Republik fliegen.

Die Niederlage

Vom 27. September bis zum 10. November 2020 eroberte Aserbaidschan im ersten Drohnenkrieg der Weltgeschichte den Großteil Bergkarabachs und die umliegenden Gebieten zurück. Seit den 1990er Jahren war er in armenischer Hand gewesen. Auch der von Rußland vermittelte Waffenstillstand, bei dem russische Truppen die Waffenstillstandslinie zum armenischen Restgebiet Bergkarabachs kontrollieren sollten und der die Statusfrage Bergkarabachs noch offenhielt, wurde schon bald brüchig. Im Mai 2021 drangen aserbaidschanische Truppen sogar auf das Territorium der Republik Armenien selbst vor.

Nochmals verbesserte sich die strategische Position Aserbaidschans durch den Ukrainekrieg, der russische Kräfte in der Ukraine bindet und so ein Eingreifen der Russen im Kaukasus erschwerte. Die EU wiederum schloß 2022 ein Gasabkommen mit Aserbaidschan ab, um russische Gaslieferungen zu ersetzen. Im Januar 2023 sagte Paschinjan das mit den Russen geplante Manöver Unzerstörbare Bruderschaft – 2023 abdafür kündigte das armenische Verteidigungsministerium im September im Rahmen der NATO-Partnerschaft für den Frieden ein armenisch-amerikanisches Militärmanöver an, das die Armenier auf internationale Friedensmissionen vorbereiten sollte.

Ohne dem gleichzeitig in der Republik Armenien stattfindenden armenisch-amerikanischen Militärmanöver Eagle Partner 2023 überhaupt Beachtung zu schenken, eroberte Aserbaidschan in einem Blitzkrieg vom 19. auf den 20. September 2023 das armenische restliche Gebiet Bergkarabachs, das 2020 noch nicht von den aserbaidschanischen Truppen eingenommen worden war. Dessen Regierung kapitulierte. Der Großteil der armenischen Bevölkerung ist bereits aus der Enklave geflohen. Nachrichten von Greueltaten gegen die Zivilbevölkerung schrecken die Flüchtlinge von der Rückkehr ab. Die Umbenennung einer Straße in der Hauptstadt von Bergkarabach, Stepanakert, nach Enver Pascha (1881-1922), einem der Hauptverantwortlichen für den Armeniermord von 1915, kontekariert zudem die Beteuerungen des aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew (* 1961), er werde für die Armenier in Karabach ein Paradies schaffen.

Die Rolle Europas im Spannungsfeld zwischen Baku und Jerewan ließe sich als ambivalent bezeichnen. Ende Februar 2023 entsandte die EU die EUMA (European Union Mission in Armenia) mit dem  strategische Ziel, einen Beitrag zur Verringerung der Zahl der Zwischenfälle in dem Konfliktgebiet zu leisten, das Risiko für die dort lebende Bevölkerung zu verringern und damit zur Normalisierung der Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan beizutragen. Auf die Kriegshandlungen im September konnte die Mission wenig Einfluß nehmen. Ursula von der Leyen, die im im Herbst 2019 zu ihrem Amtsantritt als EU-Kommissionspräsidentin ankündigte: „Wir wollen eine starke geopolitische Kommission sein“, nannte Aserbaidschan 2022 einen „entscheidenden Partner auf dem Weg zu Versorgungssicherheit und Klimaneutralität”. Die tschechische Abgeordnete Marketa Gregorova von der Fraktion der Grünen im Europäischen Parlament betonte, es liege im strategischen Interesse Europas, daß „der Einfluß Russlands in Armenien und der Region minimiert wird, Aserbaidschan auf dem Weg zu Demokratie unterstützt wird und der Jahrzehnte währende Konflikt gelöst wird“. Die Einnahme der armenischen Enklave Bergkarabach durch Aserbaidschan konnte den strategischen Einfluß Russlands freilich nur auf Kosten der vertriebenen Karabacharmenier reduzieren.

Durch ihren Exodus aus Bergkarabach empfinden die Armenier einen Phantomschmerz mehr, ihre Geschichte umfasst eine weitere Tragödie. Sie reiht sich ein in die Geschichte der gegen die Armenier gerichteten ethnischen Homogenisierungen im zwanzigsten Jahrhundert.

Paschinjan, der eine Annäherung an den Westen suchte, hatte sich im Vorfelde der jüngsten Karabachkriege von der traditionellen armenischen Schutzmacht Rußland entfernt, ohne sich zuvor des militärischen Schutzes einer anderen Macht zu versichern, und sein Land in eine strategische Isolation geführt. Er pflegte eine populistische Rhetorik, wenn er die Machtwirklichkeiten aus dem Auge verlor und einfach verkündete: „Arzach (armenischer Begriff für Bergkarabach) ist Armenien. Punkt.“ Mit seinem sprunghaften Vorgehen hatte er 2019 bei einem Besuch in Stepanakert „Miazum“ (die Vereinigung Arzachs mit Armenien) skandiert, sein Verteidigungsminister gar in New York vor der armenischen Diaspora (armenisch: Spjurk) die Formel „Neuer Krieg – neue Territorien“ verkündet, was Baku reizte und als Abbruch der Verhandlungen interpretierte. Am 6. Oktober 2022 in Prag und im Mai und im September 2023 erkannte er Aserbaidschan dann aber wiederum grundsätzlich in den Grenzen von 1991 an. Im Mai 2023 wiederholt er diese Aussage und zog aber gleichzeitig einen Austritt aus der von Russland angeführten Verteidigungsgemeinschaft OVKS in Betracht.

Ein weiterer Krieg?

Durch den kürzlich erfolgten Beitritt zum Internationalen Strafgerichtshof, der einen Haftbefehl gegen Putin erlassen hatte, distanziert sich Armenien noch weiter von Moskau. Am 12. Oktober 2023 blieben sowohl Paschinjan als auch sein Außenminister dem Gipfe der GUS, dem Russland nahen Staatenverbund, in Bischkek fern. Mittlerweile ist auch das Territorien der Republik Armenien selbst bedroht. Präsident Alijew erklärte derweil, daß er die Republik Armenien als historisches Territorium Westaserbaidschans betrachtet. Das Hauptinteresse Aserbaidschans wird dabei sein, durch Sangesur, den südöstlichsten Zipfel der Republik Armenien zwischen Aserbaidschan und der Exklave Nachitschewan, eine Landverbindung zur Türkei zu schaffen. Ein Gegenspieler ist dabei der Iran, der gerade diese Landverbindung nach Norden abschneiden möchte. Je mehr sich Armenien jedoch der EU und den USA annähert, entfremdet es sich dem Iran. Bereits die Eröffnung einer armenischen Botschaft in Tel Aviv im Sommer 2020 hatte in Teheran für Irritationen gesorgt, ohne dass dadurch die Militärallianz Israels mit Aserbaidschan geschwächt werden konnte.

Seit dem achten vorchristlichen Jahrhundert gehörte das Gebiet, das die Armenier „Arzach“ nennen, zum sich vom Ararat ausdehnenden Reich von Urartu, in dem die armenische Nationalgeschichtsschreibung das Vorgängerreich Armeniens erblickt. Durch seine sprunghafte Diplomatie und seine wechselhaften Aussagen gegenüber den Nachbarländern verwandelte der armenische Premier Paschinjan Arzach, das bergige Widerstandsnest der Armenier, innerhalb von zwei Jahren in ein Unglücksrabennest.

Dauerhafter Verlust der kulturellen Identität

Als glücklich ließe sich im Rückblick nur die kurze Phase der armenischen Geschichte in der Spätantike bezeichnen. Die Konflikte unter den adeligen Eliten danach kappten die Armenier von der Gesamtkirche ab, so daß sie fortan in einer randständigen Kapsel lebten, weitgehend vom kulturellen Austausch und der Sauerstoffzufuhr von außen isoliert. Bis heute lebt Armenien als eine Art Monade. Nach Untergang des Königreichs blieb den Armeniern schließlich nur noch das Gebiet des heutigen Bergkarabach. Dieses Gebiet war das einzige Gebiet, in dem der altarmenische Adel überlebt hatte, in dem die Armenier über die Jahrhunderte autochthon lebten und nicht in einer Diasporasituation. Es war das Rückzugsort authentischer armenischer Kultur. Alle anderen Gebiete, auch das der Republik Armenien, sind vor allem von Repatrianten geprägt. Im Gebiet der Republik Armenien und in Westarmenien lebten die Armenier jahrhundertelang unter der Vorherrschaft anderer Völker.

Nur in Bergkarabach lebten sie unter sich und für sich, als Herren über sich und ihr Land. Hier verkörperten sie über Jahrhunderte die Souveränität Armeniens. Die Karabach-Armenier besaßen eine andere Sichtweise auf die Welt als die verstreuten Spjurk-Armenier, die stets mit Blick auf die fremde Herrschaft lebten, von deren Gnade sie abhängig waren, und die oft bedrohliche Umgebung, deren Willkür sie ausgesetzt waren. Nach Untergang des Königreichs blieb den Armeniern schließlich nur noch das Gebiet des heutigen Bergkarabach. Dieses Gebiet, das nicht nur im militärischen Sinne ein réduit, einen Rückzugsraum darstellte, ist jetzt verloren.

Möglicherweise erwies sich deshalb bereits die Ablösung der Karabach-Armenier in der Staatsführung des Landes als tragisch. In Anwendung der Begrifflichkeit des britischen Publizisten David Goodhart könnte man sagen, dass im September 2023 die Bastion der historischen Somewhere-Armenier untergegangen und nur ein territorialer Rest Anywhere-Armeniens erhalten geblieben ist. Hierin ist wohl die bleibende kulturelle Bedeutung des Untergangs von Bergkarabach zu sehen. Durch seine sukzessive Lösung des engen Verhältnisses zu Rußland und seine Annäherungsversuche an den Westen hat Paschinjan die bisherige armenische Lebensversicherung gekündigt, ohne vorher eine neue Lebensversicherung abgeschlossen zu haben. Aus Sicht der armenischen Opposition hat er damit Karabach verschenkt und seine Landsleute verraten. Inzwischen gefährdet er auch die Existenz der Republik Armenien selbst.

Anmerkungen

[1] Philipp Ammon ist Historiker und Kaukasiologe. 2020 erschien im Verlag Vittorio Klostermann sein Buch über die historischen Wurzeln des russisch-georgischen Konflikts: «Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russische Okkupation: Die Wurzeln des Konflikts vom 18. Jahrhundert bis 1924».

[2] Open Society Foundation, zu deutsch Stiftung für eine offene Gesellschaft, ist eine Initiative des ungarisch-US-amerikanischen Inverstors und Philanthropen George Soros.