Der Kalte Krieg als Geschichte und Gegenwart?
Parallelen und Unterschiede in den Grundmustern der internationalen Beziehungen vor 1989/90 und heute
Von Hermann Wentker[1]
Konflikte in der internationalen Politik haben in letzter Zeit zugenommen. Infolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich die KonfrontationRusslands mit der westlichen Staatenwelt zugespitzt; das Gleiche gilt für das US-amerikanische Verhältnis zu China, das wegen Pekings Expansionspolitik im indo-pazifischen Raum und seiner zunehmend aggressiven Politik gegenüber Taiwan extrem angespannt ist.
In beiden Fällen ist immer wieder von einem „neuen Kalten Krieg“ die Rede, in dem man sich entweder schon befinde oder dem die Welt „in bestürzendem Tempo […] entgegen rast“.[2] Zunehmende Konfrontation gibt es in der Weltpolitik jedoch nicht erst seit einem Jahr; bereits 2016 wurden in einer Interviewreihe Experten und Expertinnen gefragt, ob man sich in einem „neuen Kalten Krieg“ befinde – eine Frage, die damals mehrheitlich verneint wurde.[3] Nicht jede Konfrontation verdient die Charakterisierung „Kalter Krieg“, der überdies eine Epoche sui generis bezeichnet. Jedoch stellt sich die Frage, ob nicht bestimmte Grundmuster, die die internationalen Beziehungen vor 1989/90 bestimmt haben, in gewisser Weise wiederkehren. Oder sind die Unterschiede so gravierend, dass man diese Begrifflichkeit eher vermeiden sollte?
I. Grundmuster des Kalten Krieges und dessen Ende 1991
Zur Beantwortung dieser Fragen sind zunächst einige Bemerkungen zu den herausstechenden Merkmalen dieses epochalen Konflikts erforderlich. Der Kalte Krieg war geprägt vom ideologischen Gegensatz zwischen Demokratie und kommunistischer Diktatur sowie von Marktwirtschaft und sozialistischer Planwirtschaft. Dabei waren beide Seiten davon überzeugt, sich für eine Ideologie und ein System einzusetzen, die sich am Ende durchsetzen würden; es ging um nichts weniger als einen Kampf um die „Seele der Menschheit“.[4] Unauflöslich damit verbunden war ein machtpolitischer Konflikt zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion, die zur Durchsetzung ihrer Ziele zwei Bündnisse um sich scharten, die sich in ihrer inneren Struktur und im Verhältnis zu ihrer Vormacht freilich stark unterschieden: Handelte es sich bei der NATO um einen freiwilligen Zusammenschluss, war die Warschauer Vertragsorganisation (WVO), umgangssprachlich der Warschauer Pakt, ein Zwangsbündnis jener ost(mittel)europäischen Staaten, die nach 1945 in den sowjetischen Einflussbereich geraten waren. Beide Militärblöcke waren hochgerüstet, um den jeweils anderen von Angriffen abzuhalten und sich gegebenenfalls verteidigen zu können. Eine besondere Rolle kam dabei den Nuklearwaffen zu, über die in der NATO die USA, Großbritannien und Frankreich, in der WVO aber nur die Sowjetunion verfügte. Deren Besitz spielte eine höchst ambivalente Rolle, die der amerikanische Historiker Jeremy Suri einmal auf die Formel gebracht hat: „Atomwaffen schreckten die Staaten von einem entfesselten Krieg ab, aber sie trugen zur Eskalation von Krisen bei; sie setzten dem Kalten Krieg gewisse Grenzen, hielten ihn aber zugleich am Leben.“[5]
Nachdem der Kalte Krieg Ende der 1970er noch einmal eskaliert war, entspannte er sich wieder ab Mitte der 1980er Jahre, um mit dem Auseinanderbrechen der WVO infolge von inneren Revolutionen in den Satellitenstaaten und dem parallelen Zerfall der Sowjetunion spätestens 1991 zu enden.[6] An die Stelle des Ost-West-Konflikts trat eine neue, fragmentierte Ordnung, die von den USA dominiert war: Es handelte sich um einen längere Zeit andauernden „unipolar moment“.[7] Die Welt war zwar instabiler als zuvor; aber mit dem Ende des Kalten Krieges gingen vorher für undenkbar gehaltene, vertraglich vereinbarteinternationale Abrüstungsvereinbarungen einher. Diese sahen nicht nur die Vernichtung bestehender konventioneller und vor allem nuklearer Waffen vor, sondern auch die wechselseitige Überwachung dieses Prozesses.[8] Das Ende des Kalten Krieges ermöglichte daher den Ausbruch kriegerischer Konflikte in Europa, etwa in Jugoslawien, aber er befreite die Welt vorerst vom Risiko eines Atomkriegs.
II. Die Rückkehr von Konfrontation und Hochrüstung
Seit der Übernahme des russischen Präsidentenamts durch Waldimir Putin im Jahr 2000, insbesondere aber ab 2007/08, wich die grundsätzlich Kooperationsbereitschaft zwischen Russland und dem Westen einer zunehmenden Konfrontation. Wichtigste, wenn auch nicht alleinige Ursache dafür war und ist Putins Ziel, international die frühere Größe Russlands wiederherzustellen. Dabei orientiert er sich an den Ausmaßen der Sowjetunion, deren Identität mit Russland er wiederholt festgestellt hat. Russland stellte vor allem ab 2007/08 die internationale Ordnung in Frage[9], was sich unter anderem im Auslaufen und in der Kündigung von Abrüstungsverträgen ausdrückte, aber auch in militärischen Interventionen in Georgien (2008), auf der Krim und in der Ostukraine (2014).[10] Befähigt sah sich Putin dazu, weiler die russischen Streitkräfte seit 15 Jahren massiv aufgerüstet und modernisiert hatte, konventionell und nuklear.[11] Die zurückhaltende Reaktion des Westens auf die Annexion der Krim und den Einfall in die Ostukraine sowie die isolationistische, die NATO schwächende Politik von US-Präsident Donald Trump bestärkten Putin in der Fortsetzung seines aggressiven Kurses. Da er den Westen, insbesondere nach dem Debakel des Abzugs aus Afghanistan 2021, vermutlich für zu schwach hielt, sah er sich zu seinem Angriff auf die Ukraine ermutigt. Damit sind alle westlichen Versuche, internationale Sicherheit zusammen mit Russland zu erreichen, gescheitert.
Die NATO muss nun Sicherheit gegen Russland herstellen, so dass sie sich, ohne Kriegspartei zu sein, in Konfrontation zu Moskau befindet. Machtpolitisch erinnert dies durchaus an die Konstellation des Kalten Krieges. Allerdings gibt es drei wesentliche Unterschiede: Erstens hat die westliche Staatengemeinschaft auf die russische Aufrüstung nach 2000 nicht mit Gegenrüstungen reagiert – ganz entgegen der Philosophie der Abschreckung.[12] Zweitens verfolgt Russland heute eindeutig eine revisionistische und damit eine expansive Agenda, während die Sowjetunion seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre tendenziell eine Status-quo-orientierte Macht war, auch wenn dies im Westen anders wahrgenommen wurde. Drittens ist die Situation weitaus gefährlicher als damals, da sich Russland in einem heißen Krieg mit der Ukraine befindet – mitten in Europa.
Auch China, das im Westenlange Zeit für eine Status-quo-orientierte Macht gehalten wurde, hat nicht erst unter der Führung von Xi Jinping in beispielloser Weise seine Streitkräfte modernisiert und aufgerüstet. Nachdem damit bereits in den 1990er Jahren begonnen wurde[13], hat die Aufrüstung seit der Militärreform von 2015 einen weiteren Schub bekommen. China will, wenn man die Worte Xis auf dem Parteitag von 2017 richtig interpretiert, bis 2049 die größte Militärmacht der Welt werden. Schon seit Jahren wachsen die chinesischen Militärausgaben stets mehr als das Bruttoinlandsprodukt.[14] Dabei verfolgt China anscheinend vor allem zwei Ziele: zum einen im indopazifischen Raum, wo es sich im südchinesischen Meer ein Stützpunktsystem aufbaut und wo seine Taiwan-Politik immer aggressiver wird. Xi will nach der Auffassung von Experten bis 2049 sein Leitbild der „großen Auferstehung der chinesischen Nation“ verwirklichen, wozu auch die „Wiedervereinigung“ mit Taiwan gehört.[15] Zum anderen verfolgt Peking seiner 2015 veröffentlichten „Militärstrategie“ zufolge die Absicht, seine Marine zu einer Hochseeflotte zur Sicherung der strategischen Seerouten auszubauen – als globale Handelsmacht will es auch global militärisch aktionsfähig sein.[16]
Vor allem die erste Absicht hat dazu geführt, dass sich die Nachbarn Chinas im Indopazifik von der Großmacht auf dem asiatischen Kontinent zunehmend abwenden und den engen Schulterschluss mit den USA suchen. Washington hat damit begonnen, seine militärische Präsenz in diesem Raum zu verstärken und erste Versuche einer Gegenmachtbildung unternommen: Genannt sei etwa das trilaterale Bündnis zwischen den USA, Großbritannien und Australien (AUKUS), das sich unter anderem die Entwicklung und den Einsatz von Atom-U-Booten zum Ziel gesetzt hat. Japan, Australien und die Philippinen teilen mit den USA die Sorge vor einer Eskalation des Taiwankonflikts; gleichzeitig sind sie allerdings auf den Handel mit China angewiesen.[17] Auch diese Konfrontation ähnelt jener in der Frühphasedes Kalten Krieges, als China auf Seiten der Sowjetunion stand und vor direkten oder indirekten militärischen Konflikten mit der westlichen Welt – etwa im Rahmen des Korea-Kriegs – nicht zurückschreckte. Zwar ist es bisher noch nicht zum Ausbruch von Kampfhandlungen zwischen China und Taiwan gekommen; China verfolgt allerdings einen zunehmend riskanten Kurs, was an dem wiederholten Eindringen seiner Kampfflugzeuge in die taiwanesische Luftraumüberwachungszone deutlich wird. Insgesamt eine Situation, die ebenfalls gefährlicher ist als in den meisten Phasen des Kalten Krieges.
Die USA, Russland und China sind überdies die weltweit führenden Atommächte, wobei die beiden erstgenannten über 90 Prozent fast aller Atomwaffen verfügen; China folgt auf dem dritten Platz, hat aber in den vergangenen Jahren sein nukleares Potenzial erheblich ausgebaut. Durch die Kündigung bzw. das Auslaufen fast aller nuklearen Abrüstungsverträge ist die Welt unsicherer geworden. Russland hat sogar im Verlauf seines Angriffskriegs gegen die Ukraine mehr oder weniger verklausuliert mit dem Einsatz nuklearer Waffen gedroht, ist bisher aber aus nachvollziehbaren Gründen davor zurückgeschreckt. Wie im Kalten Krieg scheint das Gleichgewicht des Schreckens aber zu funktionieren: Einen Nuklearkrieg wollen die großen Atommächte nicht riskieren.
III. Bipolarität und Blockbildung
Der „unipolar moment“der USA infolge der Umbrüche von 1990 ist zwar Geschichte, eine Rückkehr der Bipolarität wie zu Zeiten des Kalten Krieges ist jedoch nicht feststellbar. Stattdessen befinden wir uns in einer multipolaren Welt, in der die USA zunehmend von China herausgefordert wird. Russland spielt global bei weitem nicht die Rolle wie China, hat aber durch sein militärisches Potential im syrischen Bürgerkrieg und erst recht im Ukraine-Krieg gezeigt, dass es als hochgerüstete Militärmacht, die zur Führung eines Krieges bereit ist, die Weltpolitik nachhaltig beeinflussen kann. Inwieweit noch andere Mächte oder Zusammenschlüsse, etwa Indien oder gar die EU zu neuen Kraftzentren werden können, ist zwar nicht absehbar, aber nach derzeitigem Ermessen eher unwahrscheinlich.[18]
Von den militärischen Bündnissen, die den Kalten Krieg prägten, hat nur die NATO überlebt. Nach Ende des Kalten Krieges wurde angesichts des Zerfalls des Warschauer Pakts wiederholt nach deren Sinn gefragt; außerdem waren Fliehkräfte zu beobachten, etwa als die Türkei sich Russland zuwandte und von dort sogar ein Raketenabwehrsystem bezog. Hinzu kamen unter der Präsidentschaft Donald Trumps isolationistische Töne aus Washington, und noch 2019 bezeichnete der französische Präsident Emmanuel Macron die NATO als „hirntot“. Das täuscht jedoch darüber hinweg, dass das Bündnis im Kern weiterhin funktionsfähig blieb und sich den Zeitläuften flexibel anpasste. Das galt sowohl für die von den Balkankriegen und die von der NATO-Osterweiterung geprägten 1990er als auch für die 2000er Jahre, in denen die Allianz infolge der Anschläge vom 11. September 2001 sogar zu einem „globalen Sicherheitsakteur“ aufstieg und weltweit versuchte, Krisenregionen zu stabilisieren, was allerdings nur zeitweise gelang. Seit 2014, insbesondere aber seit dem Februar 2022 hat sie zu ihrer ursprünglichen Funktion zurückgefunden, so dass die Landes- und Bündnisverteidigung wieder im Zentrum ihrer Aufgaben steht.[19] Entgegen seinen Absichten hat Putin das Bündnis nicht geschwächt, sondern gestärkt: Angesichts des Angriffs auf die Ukraine ist dieses nicht nur näher zusammengerückt, sie hat sich auch um Finnland erweitert – der Beitritt Schwedens wird derzeit noch von der Türkei und Ungarn blockiert.Insgesamt hat sich die NATO im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg als handlungsfähig erwiesen, sowohl hinsichtlich der Hilfen für den angegriffenen östlichen Nachbarn als auch hinsichtlich der eigenen Dispositionen.
Im osteuropäisch-asiatischen Raum gibt es seit Beginn des 21. Jahrhunderts neue sicherheitspolitische Zusammenschlüsse. Dazu zählt zum einen die 2002 gegründete Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS)[20], die neben Russland Kasachstan, Armenien, Belarus, Kirgistan und Tadschikistan umfasst und in deren Zentrum eine gegenseitige Beistandsverpflichtung steht. Zum anderen ist die seit 2001 bestehende, von China und Russland gegründete Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) zu nennen, der China, Indien, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Pakistan, Russland, Tadschikistan und Usbekistan angehören. Diese hat zwar auch eine sicherheitspolitische Dimension; inzwischen handelt es sich jedoch eher um ein Regionalforum für wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen Austausch. Aufgrund der divergierenden Interessen ihrer Mitgliedstaaten ist sie indes im internationalen Kontext kaum handlungsfähig. Der NATO steht daher, anders als zurZeit des Kalten Krieges, kein geschlossenes Bündnis mit militärisch integrierten Strukturen gegenüber.[21]
Allerdings hat sich Russland aufgrund des Ukraine-Kriegs stärker an China angelehnt, das die Sanktionen gegen seinen westlichen Nachbarn nicht mitträgt. Daher konnte eine ungleiche Partnerschaft entstehen, von der beide profitieren: Der Handelsaustausch ist deutlich gestiegen, China bezieht mehr Öl und Gas aus Russland, und das zu günstigen Preisen. Russland ist dabei stärker abhängig von China als umgekehrt, da Chinas Russlandgeschäft nur einen sehr geringen Teil seines Außenhandels ausmacht. Russland liefert zwar, wie in früheren Zeiten, Jets und U-Boote an China, das wiederum Drohnen und Schiffsmotoren nach Russland exportiert. Belege für den direkten Export von chinesischen Kriegswaffen gibt es jedoch nicht.[22] Ob sich das chinesisch-russische informelle Bündnis, das vor allem auf einer gemeinsamen antiwestlichen Frontstellung basiert,dauerhaft etablieren kann, ist allerdings ungewiss: China wird sich als globale Handelsmacht nicht an ein Russland binden, das ihm lediglich günstige Energie liefern kann. Hinzu kommt, dass das Verhältnis Chinas zu diesemNachbarn in der Vergangenheit alles andere als ungetrübt war: Verwiesen sei auf den sowjetisch-chinesischen Gegensatz seit den 1960er Jahren und darauf, dass sich China traditionell als überlegene Zivilisation empfand und empfindet.
IV. Ein Krieg der Ideologien?
Während der Westen in Gestalt der NATO und der EU sich als Bündnis von Demokratien definiert, handelt es sich bei Putins Russland und Xis China um Diktaturen. Lebt hier also der Kalte Krieg als ideologischer Konflikt zwischen Demokratien und autoritären Regimenwieder auf? China und Russland verbindet zwar ein gemeinsames Feindbild: die westliche Demokratie und die USA, denen sie Hegemoniestreben vorwerfen. Die Suche nach einer ostentativen Missionsidee, wie sie seinerzeit der Sozialismus zweifellos war, bleibt in Russland aber weitgehend ergebnislos. Hier reduziert sich der Putinismus im Wesentlichen auf einen extremen Nationalismus, der die Zeit zurückzudrehen versucht, auch wenn sich Putin als Wahrer traditioneller russisch-orthodoxer Werte zu inszenieren sucht, der sich angeblich dem westlichen Werteverfall – Stichwort LGBTQ – entgegenstellt.[23] Das postmaoistische China wird zwar immer noch von einer kommunistischen Partei regiert; die kommunistische Ideologie chinesischer Prägung hat indes seit den 1990er Jahren endgültig ausgedient. Stattdessen trat auch in China Nationalismus an deren Stelle.[24] Mit der Herrschaft Xi Jinpings ist die Ideologie dort wieder auf dem Vormarsch. Die Xi Jinping-Ideen wurden 2017 ins Parteistatut und 2018 in die Verfassung übernommen. Wenngleich es sich dabei um kein klares ideologisches Konstrukt handelt, ist inzwischen jedoch ein besonderes Sendungsbewusstsein der chinesischen Führung erkennbar, das an jahrtausendealte Hegemonialtraditionen des „Reichs der Mitte“ anknüpft. Peking scheint insbesondere seit der Weltfinanzkrise davon überzeugt zu sein, „der Welt ein besseres Ordnungsmodell bieten zu können als der Westen“. Anders als der liberale Westen habe das autoritäre chinesische System seinen Bürgern in kurzer Zeit zu wirtschaftlichem und technischem Fortschritt verholfen, so dass man von der eigenen Überlegenheit überzeugt ist.[25] Diese Sichtweise spiegelte sich lange auch in Chinas strikter „No-Covid“-Strategie wider, bis diese in einer halsbrecherischen Kehrtwende im Dezember 2022 revidiert wurde.
In der westlichen Welt ist zwar die Demokratie noch die vorherrschende Staatsform; sie wird allerdings in einigen Ländern,wie Ungarn, zunehmend ausgehöhlt und in anderen, wie in der Türkei, weitgehend abgeschafft. Die Strahlkraft, diedas westlich-liberale Modell nach dem Fall des Kommunismus in den 1990er Jahren noch auf andere ausübte, ist in der vergangenen Zeit zurückgegangen, wenngleich es angesichts der akuten Bedrohung durch autoritäre Regime wieder etwas attraktiver wird. Auch wenn sich heute mit China und Russland auf der einen und den westlichen Staaten auf der anderen Seite autoritär und demokratisch verfasste Systeme einander gegenüberstehen, handelt es sich nicht mehr um einen im Kern ideologischen Konflikt; in dieser weitgehend machtpolitischen Auseinandersetzung geht es nicht mehr darum, die Herzen der Menschen zu gewinnen.
V. Wirtschaftliche Verflechtungen und Wirtschaftskriege als neues Element
Die gegenwärtige weltpolitische Konstellation stellt sich insofern komplizierter als zur Zeit des Kalten Krieges dar, dadie globale wirtschaftliche Verflechtung sehr viel weiter fortgeschritten ist. Das wurde bereits deutlich bei den gegen Russland verhängten Sanktionen, die Moskau mit einem Lieferstopp von Öl und Gas in die westlichen Staaten beantwortete, was den westlichen Volkswirtschaften, insbesondere der deutschen, erhebliche Probleme bereitet hat. Im Falle Chinas, das im Zentrum globaler Lieferketten steht und wichtigster Handelspartner für sehr viele Staaten der Welt ist, wären solche Sanktionen undenkbar. Anders als die sowjetische Volkswirtschaft vor 1989 ist die chinesischenicht nur mit der US-amerikanischen aufs engste verflochten. Das macht China weniger anfällig als die Sowjetunion, die insbesondere wegen ihrer wirtschaftlichen Schwäche zusammengebrochen ist.[26]
Wirtschaftliche Verflechtungen machen militärische Konflikte grundsätzlich unattraktiv, da sie die zum beiderseitigen Vorteil geschlossenen Wirtschaftsbeziehungen schädigen, ja zerstören können. Diese Überlegung hat zu der vorschnellen Schlussfolgerung geführt, dass in der heutigen globalisierten Welt Kriege aufgrund ihrer wirtschaftlichen Nachteile nicht mehr geführt werden. Jedoch lassen sich politische Führer nicht allein von ökonomischem Denken leiten. Dass Xi Jinping etwa zur „Wiedervereinigung“ mit Taiwan auch einen Krieg mit einkalkuliert, ist alles andere als unwahrscheinlich. Gleichwohl dürfte das Interesse Pekings an der Aufrechterhaltung seiner Wirtschaftsbeziehungen, insbesondere in Asien, eine konfliktdämpfende Wirkung haben.
Wirtschaftliche Verflechtung, von der mehrere Partner profitieren, ist die eine, das aggressive Streben nach wirtschaftlicher Vorherrschaft, ja „nach einer möglichst weitreichenden internationalen Kontrolle über das System zur Produktion, zur Verteilung und zum Verbrauch von Waren und Dienstleistungen“[27] die andere Komponente heutiger globaler Wirtschaftsbeziehungen. Insbesondere China kann man ein solches Streben unterstellen: Die sogenannte „Belt-and-Road-Initiative“ – im deutschen Sprachraum „Neue Seidenstraße“ genannt – geht eindeutig in diese Richtung, da hier von Reziprozität in den Wirtschaftsbeziehungen keine Rede sein kann. Dabei zeichnen sich zwar erste Probleme ab: China sieht sich aufgrund wirtschaftlicher Probleme nicht mehr in der Lage, Kredite an andere Staaten in dem bisherigen Ausmaß zur Verfügung zu stellen, und einige Staaten, die sich zunächst einbinden ließen, wollen, nicht zuletzt aus der Erkenntnis, dass sie in eine Schuldenfalle getappt sind, die Verbindungen zu China reduzieren oder sogar kappen. Gleichwohl steht für China bei seinen Wirtschaftsbeziehungen zu Staaten des globalen Südens nach wie vor der ökonomische Nutzen im Vordergrund, während der Westen dort strukturell benachteiligt ist, weil er immer auch politische Reformen einfordert. Ein weiterer massiver Nachteil des Westens besteht darin, dass er in ökonomischer und technologischer Hinsicht China allenfalls ebenbürtig, auf einigen Gebieten – etwa bei Zukunftstechnologien wie der Entwicklung von Künstlicher Intelligenz – teilweise sogar im Rückstand ist. Darin ist ein grundsätzlicher Unterschied zum Kalten Krieg zu sehen, als der Westen dem Osten wirtschaftlich immer und technologisch meistens – manchmal hatte die Sowjetunion in der Raketentechnik die Nase vorn – haushoch überlegen war.
Damit sind neue Felder angesprochen, die prima facie mit der Ausgangsfrage nach einem möglichen Wiederaufleben des Kalten Krieges nichts zu tun haben. Die hier skizzierten Probleme verweisen darauf, dass es nicht damit getan ist, nach Parallelen und Unterschiede zwischen der heutigen weltpolitischen Lage und dem Kalten Krieg zu suchen. Wir dürfen andere Konflikte nicht aus den Augen verlieren, die zwar ebenfalls ihre historischen Vorläufer haben, aber nicht im damaligen Ost-West-Konflikt wurzeln. Das gilt auch für den Krieg im Nahen Osten, der auf den palästinensische-israelischen Konflikt zurückgeht und nach 1948 immer wieder kriegerische Formen angenommen hat. Allerdings konnte unter den Bedingungen des Kalten Kriegs eine Eskalation und ein Übergreifen auf die gesamte Region verhindert werden. Inwieweit das auch heute gelingt, bleibt abzuwarten.
Fazit
Sind es also, um die Ausgangsfrage noch einmal aufzugreifen, die Grundmuster des Kalten Krieges, die die heutige weltpolitische Realität bestimmen? Blicken wir auf die Akteure, so hat als einziges Bündnis die NATO den Kalten Krieg überstanden und existiert heute noch fort – und sie scheint vitaler als noch vor wenigen Jahren angenommen. Die USA konnten ihren Status als Supermacht behaupten; Russland als nuklearer Alleinerbe der Sowjetunion ist zwar weiter Atommacht, aber alles andere als eine Supermacht. China, dessen politische Trennung von der Sowjetunion bis in die 1960er und dessen Aufstieg bis in den 1980er Jahre zurückreicht, ist die weitaus wichtigere Großmacht geworden, die sehr viel eher in der Lage ist, den USA weltweit die Stirn zu bieten. Unabhängig davon, ob das „Reich der Mitte“ den USA als Weltmacht ebenbürtig ist, ist unübersehbar, dass die Weltpolitik heute nicht mehr bipolar, sondern multipolar organisiert ist. Das bedeutet allerdings auch, dass Kooperation – etwa bei der Abrüstung – nun nicht mehr nur bilateral zwischen zwei Supermächten oder zwei Militärallianzen, sondern multilateral ausgehandelt und organisiert werden muss. Zwar lassen sich die gegenwärtigen Mächtegruppierungen, wie im Kalten Krieg, in diktatorische und demokratische einteilen; gleichwohl handelt es sich bei den heutigen Konflikten und Kriegen nicht um ideologisch getriebene, sondern um weitgehend machtpolitische Auseinandersetzungen. Schließlich kommt als letztes Element hinzu, dass die Welt in einem sehr viel stärkeren Maße als vor 1990 wirtschaftlich verflochten ist: Das kann einerseits konflikthemmend wirken, andererseits schließt es bei entsprechender Wirtschaftskraft Wirtschaftskriege zum Erreichen von ökonomischer – und damit politischer – Überlegenheit nicht aus. Insgesamt, so das nüchterne Fazit dieser Überlegungen, lassen sich zwar einzelne Elemente der Weltordnung identifizieren, die an den Kalten Krieg erinnern; die Unterschiede zur damaligen Konstellation sind allerdings sehr viel größer. Größere Komplexität im Verhältnis der Staaten untereinander, die unauflösliche Verquickung wirtschaftlicher und machtpolitischer Ambitionen und die nach 1990 gewachsene Bereitschaft Russlands und Chinas, militärische Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele einzusetzen, machen die Welt zu einem gefährlicheren Ort als vor 1990. Geblieben ist allein die Furcht vor der gegenseitigen nuklearen Vernichtung, die verhinderte, dass aus dem Kalten Krieg ein heißer wurde und die hoffentlich auch einer Ausweitung der heutigen Kriege entgegensteht.
Anmerkungen
[1] Prof. Dr. Hermann Wentker ist Historiker. Seit 1994 ist er an der Außenstelle des Instituts für Zeitgeschichte in Potsdam, später Berlin-Lichterfelde tätig, wo er seit 1998 die Leitung innehat. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der internationalen Beziehungen des 19. Jahrhunderts, die DDR-Geschichte, mit besonderem Fokus auf die Kirche, die Ost-CDU, die Justiz und die Außenpolitik in der DDR.
[2] So im Hinblick auf Russland Hannes Adomeit/Joachim Krause, Der neue (Kalte?) Krieg. Das russische Ultimatum vom Dezember 2021 und die Folgen für die westliche Allianz, in: SIRIUS 6 (2022), H. 2, S. 129-149, hier S. 142-147; im Hinblick auf China Matthias Naß, USA und China. Auf dem Weg in einen neuen Kalten Krieg, in: Die Zeit, 13.3.2023 (hier das Zitat).
[3] Für die Interviewreihe siehe: https://www.portal-militaergeschichte.de/interviewreihe_kalter_krieg und https://www.berlinerkolleg.com/de/interviewreihe-forschung-zum-kalten-krieg (13.12.2023).
[4] So der Titel des Buches von Melvyn P. Leffler, For the Soul of Mankind. The United States, the Soviet Union, and the Cold War, New York 2007.
[5] Jeremy Suri, Logiken der atomaren Abschreckung oder Politik mit der Bombe, in: Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hrsg.), Krisen im Kalten Krieg, Hamburg 2008, S. 24-47, das Zitat S. 46.
[6] Vgl. dazu Hermann Wentker, Vom Zweiten Kalten Krieg zum Ende des Ost-West-Konflikts. Wandel der Weltpolitik und Revolution der Staatenwelt, in: Historische Mitteilungen 27 (2015), S. 244-272.
[7] Der Begriff nach Charles Krauthammer, The Unipolar Moment, in: Foreign Affairs 70 (1990/91), No. 1, S. 23-33. Vgl. auch Hal Brands, Making the Unipolar Moment. U.S. Foreign Policy and theRiseofthe Post-Cold War Order, Ithaca/London 2016.
[8] Vgl. Tim Geiger, Die europäische Friedensordnung von 1990, Beginn einer neuen Ära, in: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung. Online-Dossier Krieg in der Ukraine, https://zms.bundeswehr.de/de/zmsbw-dossier-ukraine-geiger-tim-1-5408530 (18.12.2023).
[9] Vgl. Martin Aust, Die Schatten des Imperiums. Russland seit 1991, München 2019, S. 99.
[10] Vgl. Tim Geiger, Who lost Russia? Der Niedergang der europäischen Sicherheitsordnung 2000-2022, in: Militärgeschichte. Zeitschrift für historische Bildung. Online-Dossier Krieg in der Ukraine, zms.bundeswehr.de/resource/blob/5408576/e83fe01cff70cb54bbda1609a6045992/geiger-niedergang-der-friedensordnung-data.pdf (18.12.2023).
[11] Vgl. Adomeit/Krause, Der neue (Kalte?) Krieg, S. 144.
[12] Vgl. ebenda, S. 141 (mit Bezug auf die Bundeswehr).
[13] Vgl. Frank Umbach, Chinas Aufrüstung – ein Alarmzeichen, in: Internationale Politik 55 (2000), H. 7, S. 29-36.
[14]Vgl. Nele Noesselt, China als Rüstungsakteur. von Maos Papiertigern zu robusten Regenbögen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18-19/2019, S. 27-31.
[15] Zit. nach Frédéric Krumbein, Bedrohte Demokratie. Der Konflikt in der Taiwanstraße, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 26-27/2023, S. 32.
[16] Vgl. Noesselt, China als Rüstungsakteur, S. 28.
[17] Vgl. Peter Walkenhorst, Ein neuer Kalter Krieg?, in Internationale Politik Spezial 3/2021, S. 10; vgl. auch, mit Bezug auf ASEAN Klaus Mühlhahn, Regionaler Hegemon? Kleine Geschichte der auswärtigen Beziehungen Chinas in Asien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 26-27/2023, S. 7f.
[18] Eine andere Auffassung vertritt Herfried Münkler, Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert, Berlin 2023, der die Herausbildung einer neuen Pentarchie, bestehend aus den USA, Russland, China, der EU und Indien, in Zukunft für durchaus möglich hält.
[19] Vgl. Karl-Heinz Kamp, NATO: Rückblick auf ein Dreivierteljahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 47-48/2023, S. 4-9, das Zitat S. 6.
[20] Die OVKS ging hervor aus dem Vertrag über kollektive Sicherheit von 1992 zwischen Russland, Usbekistan, Belarus, Armenien, Kasachstan, Kirgistan und Tadschikistan, der „einen Konsultationsmechanismus samt Infrastruktur nach sowjetischem Muster“ darstellte: Anna Kreikemeyer, Herrschaft statt Sicherheit. Die Organisation des Vertrags für Kollektive Sicherheit, in: Osteuropa 62 (2012), H. 5., S. 81-91, hier S. 87.
[21] Vgl. auch Walkenhorst, Ein neuer Kalter Krieg, S. 10, der betont, dass China „eine einsame Weltmacht“ ist.
[22] Vgl. Ruth Kirchner, China und Russland. Ziemlich beste Freunde, https://www.tagesschau.de/ausland/asien/russland-china-krieg-ukraine-beziehung-101.html (15.12.2023).
[23]Vgl. u.a. Michael Thumann, Revanche. Wie Putin das bedrohlichste Regime der Welt geschaffen hat, München 2023,S. 93-99, 155-157.
[24] Vgl. Klaus Mühlhahn, Geschichte des modernen China. Von der Qing-Dynastie bis zur Gegenwart, München 2021, S. 591-596.
[25] So Nils Ole Oermann/Hans Wolf, Wirtschaftskriege. Geschichte und Gegenwart, Freiburg i. B. 2019, S. 180f. (hier auch das Zitat).
[26] Vgl. Walkenhorst, Ein neuer kalter Krieg?, S. 10.
[27] So Oermann/Wolf, Wirtschaftskriege, S. 190f.