Hilfe mit angezogener Handbremse

Die Ukraine und der Westen

Von Klaus Wittmann[1]

Januar 2024

Westliche Berufung der Ukraine

Zwei Jahrhunderte lang wurden die ukrainischen Bemühungen, einen Staat mit eigener Identität aufzubauen, von Russland und später von der Sowjetunion im Keim erstickt. Aus dem Untergang der Sowjetunion ging 1991 schließlich ein souveräner und freier ukrainischer Staat hervor. Seine Sicherheit wurde nicht zuletzt von Russland im Budapester Memorandum von 1994 garantiert. Parallel zur NATO-Russland-Grundakte wurde 1997 eine "Besondere Partnerschaft" zwischen der NATO und der Ukraine einschließlich einer NATO-Ukraine-Kommission eingerichtet. Die Militärreform hatte ihre Höhen und Tiefen, denn ebenso wie im Bereich der Korruption blieb das sowjetische Erbe stark. Die "Orangene Revolution" von 2004 zeigte den Wunsch nach rechtskonformer Politik, doch leider trugen die Hoffnungsträger - Präsident Juschtschenko und Premierminister Timoschenko - durch ihre ständige Rivalität am meisten dazu bei, die Hoffnungen zu zerstören.

Nachdem sich Präsident Janukowitsch jedoch auf russischen Druck hin geweigert hatte, das Assoziierungsabkommen mit der EU abzuschließen, wurde er durch den im November 2013 begonnenen Euromaidan ("Revolution der Würde") hinweggefegt und die Ukraine wurde damit fest auf den Kurs in Richtung Westen gebracht. Präsident Putin, der bereits durch die Massendemonstrationen in Russland 2011/2012 nach seiner Rückkehr an die Macht und den gefälschten Duma-Wahlen äußerst beunruhigt war, fügte der wachsenden internen Repression nun die externe Aggression hinzu. Im Frühjahr 2014 annektierte Russland widerrechtlich die Krim und begann mit Hilfe von Stellvertreter-"Separatisten" den verdeckten Krieg im Donbass.

Der "Waffenstillstand" gemäß dem Minsk II-Abkommen wurde von den Russen zur Vorbereitung des endgültigen Angriffs, der Invasion gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, genutzt. Dieser beendete endlich die Illusionen vieler westlicher Regierungen und Gesellschaften über die Zusammenarbeit mit Russland, auch wenn das die Versuchung, "die Ukraine nur mit russischen Augen zu sehen" (der deutsche Osteuropahistoriker Karl Schlögel), nicht abgebaut hat. Aber es hat die Ukraine noch stärker auf westlichen Kurs gebracht, denn ihr existenziell bedrohtes Überleben hängt derzeit von westlicher Militärhilfe und in Zukunft von der Mitgliedschaft in EU und NATO ab. Abgesehen davon spricht die Erfahrung der Ukraine mit kommunistischem und nationalsozialistischem Totalitarismus für eine feste Verankerung in der freien Welt.

Charakter und Stand des Krieges

Bleibt der Westen also standhaft, hat Putin zumindest teilweise das Gegenteil von dem erreicht, was er anstrebte und weiter anstrebt. Seine Ziele sind sehr klar und wurden in vielen Reden, in seinem Artikel über die "historische Einheit von Russen und Ukrainern" im Juli 2021 und in seinen Briefen an die NATO und die US-Regierung im Dezember desselben Jahres offen ausgesprochen: Revisionistisches "Roll-back" der Veränderungen in Mittel- und Osteuropa seit 1990/91 mit Satellitenstaaten in einer Zone exklusiven russischen Einflusses. Für die Ukraine sind "Entnazifizierung", "Entukrainisierung" und Entmilitarisierung erklärte Absichten, was, vielleicht über eine vorübergehende Neutralisierung, Besetzung und schließlich Annexion des Nachbarlandes bedeutet, dem Putin seit langem das Recht auf eigene souveräne Staatlichkeit abspricht.

Die Welt hat gesehen, was mit den Ukrainern unter russischer Besatzung geschieht: Mord, Folter, Vergewaltigung, Liquidierung von Lokalpolitikern, Zwangsrussifizierung, Deportation von Kindern zu Zehntausenden. Es ist klar, dass sie niemals zustimmen werden, unter der Knute Russlands zu leben - oder ukrainische Gebiete "abzutreten", die jedoch keine abstrakten Landstriche sind, sondern die Heimat von Millionen von Ukrainern, die das oben beschriebene Schicksal erleiden würden. Dies ist einer der Aspekte, bei denen sich Putin - neben der Einigkeit und Unterstützung des Westens und der Leistung seiner eigenen Truppen - völlig verkalkuliert hat: der Mut und der Überlebenswille des ukrainischen Volkes.Putin hat seine strategischen Ziele nicht erreicht, er hat die EU in einem kaum gekannten Ausmaß geeint, eine spektakuläre weitere NATO-Erweiterung herbeigeführt und das ukrainische Volk zusammengeschweißt. Zu allem Überfluss wurde die Fadenscheinigkeit seiner Kriegsbegründung ausgerechnet von seinem kriminellen Kumpan Prigoschin aufgedeckt.

Indem man sich an diesen Krieg gewöhnt zu haben scheint, der nun schon ins dritte Jahr geht, neigt man dazu, seinen Charakter zu übersehen. Es handelt sich nicht um "zwei Kriegsparteien", sondern um einen durchweg verbrecherischen, ungerechtfertigten Krieg zur Unterwerfung und Zerstörung – verbrecherisch nach Grund und Ziel ebenso wie nach den kriegsvölkerrechtswidrigen Methoden. Wenn Russland aufhört zu kämpfen, ist der Krieg zu Ende, wenn die Ukraine aufhört zu kämpfen, ist das ihr Ende.

Verhandlungen zur Beendigung des Krieges?

Das eigentliche Motiv hinter Putins Revisionismus, Imperialismus, Revanchismus und falscher Geschichtsinterpretation ist der Machterhalt. Er hat keine Angst vor der NATO, sondern vor seinem eigenen Volk, sollte es mit dem demokratischen Virus infiziert werden. Putin regiert mit Angst, aber auch aus Angst. Seine vorgeblichen sicherheitspolitischen "Interessen" gegenüber einem total defensiven atlantischen Bündnis sind politisch-psychologische Befindlichkeiten, die er den russischen Eliten und dem Volk in über 20 Jahren Propaganda eingeimpft hat: Opfer- und Demütigungskomplex (Verlierer des Kalten Krieges, in einer Schwächephase vom Westen übervorteilt), imperialer Phantomschmerz (die Auflösung der Sowjetunion die "größte geopolitische Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts"), Frustration darüber, nicht mehr als Weltmacht angesehen zu werden.

Spekulationen über Verhandlungen zur Beendigung des Krieges sinnlos, solange er die Unumstößlichkeit seiner zerstörerischen Ziele immer wieder bekräftigt. Diese müssen durchkreuzt werden. Denn wenn er gewinnt, wird er nicht bei der Ukraine Halt machen; auf der Valdai-Konferenz im Oktober 2023 brüstete er sich damit, er habe "gerade erst begonnen, die Weltordnung zu verändern". Die Kosten für uns im Westen wären viel höher als das, was wir derzeit an Rezession, Inflation, Energiepreisen, Militärhilfe und Flüchtlingen „auszuhalten“ haben.

Russland in der Ukraine zu stoppen, liegt also in unserem ureigenen Interesse. Westliche Waffenlieferungen sind die "Lebensader" des angegriffenen Landes - nicht nur "so lange wie nötig". Diese ständig wiederholte Zusicherung muss durch "mit allem Erforderlichen" und "zeitgerecht" ergänzt werden. Diese Unterstützung ist keine "Gefälligkeit" für die Ukraine. Sie dient unserer eigenen Sicherheit und der Wiederherstellung der europäischen Sicherheitsordnung, die in Helsinki 1975 kodifiziert und in Paris 1990 bekräftigt wurde: souveräne Gleichheit der europäischen Nationen, territoriale Integrität, Unverletzlichkeit der Grenzen, friedliche Streitbeilegung, freie Bündniswahl.

Natürlich haben der Westen und einige andere Länder der Ukraine wichtige Waffensysteme zur Verfügung gestellt, aber in den meisten Fällen zu wenig, zu spät und "mit angezogener Handbremse", was die Anzahl und auch bestimmte Systeme betrifft. Hätte man bei Schützenpanzern und Kampfpanzern nicht so lange gezögert (in Deutschland lagen neun Monate zwischen eindeutigem Parlamentsvotum Ende April 2022 und positiver Entscheidung) und hätte die Ukraine rechtzeitig die Mittel erhalten, um den Schwung der erfolgreichen Gegenoffensive bei Cherson und Charkiw im Spätsommer 2022 zu nutzen, so wäre es den russischen Truppen nicht möglich gewesen, sich ein halbes Jahr lang ungestört zu dreifach tiefgestaffelter Verteidigung einzurichten und das Gelände in großer Dichte zu verminen.

Self-fulfilling prophecies?

Die Lage ist aber insgesamt nicht so hoffnungslos, wie sie oft dargestellt wird. Es gibt viele ukrainische Erfolge gegen Ziele auf der Krim, das Fernhalten der russischen Schwarzmeerflotte von der Küste, Getreideexporte ohne russische Genehmigung, immense russische Verluste an Menschen und Material, Luftabwehrerfolge, Rückeroberung großer Gebiete um Charkiw und Cherson. Darüber hinaus werden weitere westliche Waffensysteme (F16-Kampfflugzeuge, mehr Kampfpanzer und Luftverteidigungsmittel) erwartet.

Die Situation an den Fronten im Süden und Nordosten muss derzeit jedoch als Patt angesehen werden, mit der Gefahr, dass die russische Seite zumindest lokal die Initiative zurückgewinnt und im Stellungs- und Zermürbungskrieg neben der Steigerung der Rüstungsproduktion auch personell aufrüstet. Gleichzeitig bröckelt die militärische Unterstützung des Westens bedrohlich: In den USA ist - lange vor der drohenden erneuten Präsidentschaft von Donald Trump - die Hilfe für die Ukraine zum Spielball politischer Kämpfe geworden, und der Putin-freundliche ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán blockiert die EU-Hilfe. Manche zeigen sich angesichts der ausbleibenden Gegenangriffserfolge im Sommer und Herbst defätistisch - ohne zuzugeben, dass sie diese nicht ermöglicht haben. Wenn diese Stimmung zu mehr Kriegsmüdigkeit und einem weiteren Rückgang der Unterstützung führt, könnte dies zu einer self-fulfilling prophecy, einer "sich selbst erfüllenden Prophezeiung" führen.

Wenn es bei der Halbherzigkeit bleibt, werden Blutvergießen und Zerstörung weitergehen, und auf seiner Pressekonferenz zeigte sich der grinsende russische Kriegsherr siegessicher, dass er die Zeit auf seiner Seite hat und den Westen aussitzen kann.

Die Verantwortung Europas

Was muss von den europäischen Staats- und Regierungschefs, nicht zuletzt vom deutschen Bundeskanzler, erwartet werden?

Die Öffentlichkeit muss viel aktiver über den verbrecherischen Charakter dieses Krieges aufgeklärt werden sowie darüber, was für uns auf dem Spiel steht und dass Europa bald vor der Notwendigkeit stehen könnte, abgesagte US-Unterstützung für die Ukraine zu kompensieren.

Die „Handbremse“ bei Waffenzahlen und -typen muss gelöst werden. Ein Beispiel dafür ist der deutsche Marschflugkörper Taurus, von dem die deutsche Luftwaffe Hunderte in ihrem Bestand hat. Diese Abstandswaffe mit einer Reichweite von 500 km eignet sich hervorragend für die äußerst wichtige Aufgabe, aus sicherer Entfernung hochwertige Ziele hinter den russischen Linien und auf dem russischen "Machtzentrum", der annektierten Krim, zu treffen wie z.B. Gefechtsstände, Depots, Brücken und Transportwege, wodurch die russische Führung und Logistik entscheidend beeinträchtigt werden könnte.Das würde die ukrainischen Frontkräfte enorm entlasten.

Der "ukrainische Sieg", zu dem sich Bundeskanzler Scholz im Gegensatz zu Außenministerin Baerbock und Verteidigungsminister Pistorius nie bekannt hat, bedeutet nicht unbedingt die physische Rückeroberung jedes ukrainischen Quadratkilometers. Aber er bedeutet Abzug der russischen Streitkräfte, weil ihre Position unhaltbar wird und Putin einsieht, dass er seine Ziele nicht erreichen kann.Wie der britische "Storm Shadow" und der französische "Scalp" gezeigt haben, sind weitreichende Marschflugkörper in dieser Hinsicht sehr effektiv. Der Taurus ist seit fast einem Dreivierteljahr in der Diskussion, und wir sehen das gleiche Schema wie bei den gepanzerten Kampffahrzeugen: "sehr deutsche Ausreden".Das erinnert an die Volksweisheit: „Wenn man etwas will, findet man Wege, will man es nicht, findet man Gründe.

Aus dem Kanzleramt hört man, er habe „eindeutige Absprachen“ mit dem (auch übervorsichtigen) Präsident Biden- den es allerdings in einem Jahr möglicherweise nicht mehr gibt. Die Presse nannte als Motiv seiner Ablehnung, dass die Taurus mit ihrer Reichweite russisches Gebiet erreichen könnten. Das wäre kriegsvölkerrechtlich völlig legal, aber schließt man es als Auflage an die Ukrainer aus, so halten diese sich daran.Gegen Ziele auf der Krim einschließlich der für den Nachschub so bedeutsamen, aber für Putin sehr prestigeträchtigen, Kertsch-Brücke, spricht überhaupt nichts.

Die anderen, stets bestreitbaren Gegenargumente (Geodaten, Bundeswehrsoldaten) werden gar nicht mehr genannt. Und das erst jüngst vorgebrachte Argument, die Bundeswehr könne die Geräte wegen Eigenbedarfs nicht entbehren, ist unzutreffend. Das ist allein eine Frage des politischen Willens und der Organisation. Es ist kein Problem, eine größere Zahl dieser Geräte zu ertüchtigen und zu rezertifizieren. In der Zeit (seit Mai – ein Dreivierteljahr!), in der das Thema diskutiert wird, hätte da schon vieles geschehen können. Es ist auch kein Problem, bei der Industrie neue Taurus zu bestellen, wenn ein Teil der älteren abgegeben wurde. All das lässt sich für die Luftwaffe „verträglich“ durchführen. Man muss es nur wollen und endlich mit Vorbereitungen und, wenn nötig, Neubestellungen beginnen.

Aber der Bundeskanzler will es eben nicht, und das Spekulieren über seine wahren Motive entwertetseine deutlichen Aussagen über die Wichtigkeit der militärischen Unterstützung der Ukraine vor dem SPD-Parteitag und in der Dezember-Regierungserklärung. Sein Handeln wirkt halbherzig.

Beim EPG-Treffen in Granada (Oktober 2023) sagte der Kanzler im Hinblick auf Waffenlieferungen, wir müssten „selbstverständlich gewährleisten, dass es keine Eskalation des Krieges gibt“. Das liegt überhaupt nicht in unserer Hand, es sei denn, dem russischen Despoten werden seine Grenzen aufgezeigt durch Entschlossenheit und eine Sprache, die er versteht: Stärke und Entschlossenheit. Beschwichtigungspolitik ist in seinen Augen Schwäche. Es ist wichtig, Putin nicht den Eindruck zu vermitteln, westliche Politiker seien erpressbar.

Nach keiner von der russischen Führung als „rote Linie“ bezeichnete Lieferung bestimmter Waffen ist eine spezifische „Eskalation“ eingetreten. Denn Putin eskaliert nach Belieben und in jeder Hinsicht. Er benutzt als Waffen Ökozid, Urbizid und Hunger bzw. -durch das Terrorbombardement mit dem Herabprasseln von 500 Flugkörpern während weniger Tage in diesem Winter- erneut Dunkelheit und Kälte, um die ukrainische Bevölkerung mürbe zu machen. Und wenn er von „Vergeltung“ für Maßnahmen der ukrainischen Gegenwehr spricht, haftet dem ebenso wenig Legitimes an wie der russischen „Verteidigung“ von geraubtem Land. Zwischen Vernichtungsabsicht und Überlebenskampf ist ein "Kompromiss" nicht denkbar.

Also müssen die richtigen Mittel in ausreichender Zahl und zum richtigen Zeitpunkt geliefert werden. Luftabwehrsysteme aus Deutschland sind äußerst effektiv, aber sie anstelle anderer, dringend benötigter Systeme zu liefern, ist nicht akzeptabel. Die Ukraine braucht noch mehr Luftabwehr, denn es müssen nicht nur die Städte geschützt werden, aber auch mehr gepanzerte Gefechts- und Transportfahrzeuge, Minenräumgeräte, Artillerie, Munition, Ersatzteile, Wartungskapazitäten. All das könnten die NATO- und EU-Mitglieder mit ihrer Wirtschaftskraft, welche die russische um ein Vielfaches übersteigt, in ausreichender Menge zur Verfügung stellen. Dafür muss allerdings die Rüstungsproduktion stärker angekurbelt werden.

Darüber hinaus sollten die europäischen Regierungen Kiews Appell an Hunderttausende geflohener junger Ukrainer unterstützen, zurückzukehren und sich der Verteidigung ihres Landes anzuschließen. Und es ist richtig, dass sich die EU und ihre Mitglieder an den bereits laufenden Wiederaufbaubemühungen beteiligen - nicht zuletzt als Signal der Hoffnung und des Vertrauens. In diesem Sinne hat die Europäische Union auch beschlossen, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine aufzunehmen. Jeder weiß, dass diese langwierig sein werden, aber die Bemühungen Kiews, die Kriterien zunehmend zu erfüllen, müssen rückhaltlos unterstützt werden.

Welcher Ausgang des Krieges?

Drei plausible Szenarien gibt es für den Kriegsausgang: Entweder Präsident Putin setzt seine Ziele durch und erobert die Ukraine. Oder es gibt einen Waffenstillstand mit zumindest zeitweiser Aufgabe der von Russland widerrechtlich besetzten Gebiete. Oder die Ukraine obsiegt, erobert das geraubte Territorium zurück bzw. macht für die russischen Truppen die Situation so unhaltbar, dass nur ihr Abzug bleibt. Was sind die jeweiligen Implikationen?

Setzt Putin seine Ziele durch, so hört die Ukraine auf, als souveräner Staat zu existieren, sie wird zerstückelt und dem russischen Imperium einverleibt. Danach kommen Georgien und Moldawien dran. Und je nachdem, als wie schwach er dann die NATO empfindet, wird er sie spätestens nach einigen Jahren der militärischen Rekonstitution in den Schwarzmeerstaaten Rumänien und Bulgarien und bei den exponierten baltischen Staaten herausfordern. Selbst wenn ein Angriff unwahrscheinlich bliebe, müssten die NATO-Staaten für eine glaubwürdige Abschreckung weit größere militärische Anstrengungen auf sich nehmen.

Gibt es einen Waffenstillstand in einer zunächst geteilten Ukraine, so kennt man das Schicksal des Minsk II-Abkommens: 13.000 Tote während sieben Jahren „Waffenruhe“, schlimmste Drangsalierung der nicht konformen Ukrainer in den „Separatistenrepubliken“ und Massen von Binnenflüchtlingen. Unsinn ist dabei die von einigen geäußerte Idee einer NATO-Mitgliedschaft des (noch) unbesetzten Teils der Ukraine. Und Putin würde alles daransetzen, schrittweise doch Verhältnisse zustande zu bringen, die dem ersten Szenar entsprechen.

Es bleibt der Imperativ, den Ukrainern mit allen verfügbaren Mitteln zu helfen, die besetzten Gebiete zu befreien bzw. die russischen Streitkräfte aus ihrem Land zu vertreiben. Hätte man sie von Anfang an in dieser Weise unterstützt, wäre es vielleicht schon so weit. Je länger man der „Abnutzung“, dem Ausbluten und dem Schwinden der Munitionsvorräte zuschaut, umso schwieriger wird die Erreichung dieses Ziels sein. Aber das ukrainische Volk wird trotz aller Erschöpfung nichtaufgeben, und es gäbe jahrelangen Untergrundkrieg in einer besetzten Ukraine.

Wo steht der Bundeskanzler? Er muss sich eindeutig für die dritte Lesart entscheiden.

Die künftige Sicherheit der Ukraine und Europas erfordert Führungsstärke

Die NATO ihrerseits sollte auf ihrem Gipfeltreffen zum 75. Jahrestag ihrer Gründung in Washington das tun, was sie letztes Jahr in Vilnius versäumt hat: ein klares Signal aussenden, dass die Ukraine nach dem Krieg Mitglied der NATO wird - und dass Russland in dieser Angelegenheit kein Mitspracherecht hat. Es ist verständlich, dass die Ukraine der einzigen Sicherheitsgarantie beitreten will, die funktioniert - dem transatlantischen Bündnis. Nur so kann sichergestellt werden, dass Russland nach dem Abzug der russischen Truppen die Ukraine nie wieder angreifen wird. Andere vorgeschlagene Regelungen sind unrealistisch.

Erforderlich ist Führung durch europäische Politiker ohne falsche Rücksichtnahme auf Putin und seine hohlen Drohungen. Als Deutscher wünscht man sich eine solche Führung von Bundeskanzler Scholz, der auf dem jüngsten Parteitag seiner Partei sagte, Präsident Putin dürfe „nicht darauf rechnen, dass wir nachlassen“, und: Deutschland müsse sich sogar darauf einstellen, noch mehr zu tun, „wenn andere schwächeln“. Wenige Tage später, in seiner Regierungserklärung am 13. Dezember 2023, fügte er hinzu: Es komme „auch sehr auf Deutschland an bei der Unterstützung der Ukraine. (…) Es geht darum, ob Putin sich durchsetzt mit seinen imperialistischen Plänen, die er nach wie vor ganz offen verfolgt. Es geht darum, ob Grenzen in Europa in Zukunft sicher sind oder ob Landraub und Besatzung wieder europäische Normalität werden. Diese Frage ist fundamental für die Sicherheit Europas und für die Sicherheit Deutschlands. Sie entscheidet sich auch in der Ukraine.“ Dies muss in beherzte Entscheidungen und Taten umgesetzt werden.

Scholz sollte sich dem polnischen Ministerpräsidenten Tusk anschließen, der versprochen hat, "laut und entschlossen die volle Mobilisierung der freien Welt ... zur Unterstützung der Ukraine in diesem Krieg zu fordern". Er sollte mit gutem Beispiel vorangehen, indem er endlich eine positive Taurus-Entscheidung trifft und wichtige Länder wie Frankreich und Großbritannien dafür gewinnt, ihre militärische Unterstützung für die Ukraine deutlich zu erhöhen. Jetzt ist eine umfassende Anstrengung erforderlich, die auch eine Ankurbelung der Waffen- und Munitionsproduktion einschließt.

Der 24. Februar 2022 markierte zwar einen epochalen Bruch, aber die "Zeitenwende", die der Bundeskanzler drei Tage später ausrief, muss in vielen Köpfen noch endgültig ankommen. Das dritte Jahr dieses Krieges muss die Wende für die Ukraine im Interesse der Sicherheit Europas und als Voraussetzung für ihre feste Verankerung in der westlichen Gemeinschaft und Allianz bringen.

 


[1 Brigadegeneral Dr. Klaus Wittmann, Berlin, lehrt Zeitgeschichte an der Universität Potsdam (klauswittmann-berlin@gmx.de).