Was braucht die Ukraine jetzt am Dringendsten?

Gedanken eines Ukraine-Helfers vor Ort

Von Joerg Drescher[1]Dezember 2023

Die Frage, was die Ukraine momentan am Dringendsten benötigt, ist deshalb schwierig zu beantworten, weil es darauf ankommt, wem man sie stellt. So hieß es zum Beispiel kürzlich von Seiten der Vereinigten Nationen, dass zirka vierzig Prozent der in der Ukraine verbliebenen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen seien. Andere sagen, die Ukraine brauche „Nach-Hilfe“ im Bereich Dezentralisierung und Verwaltung, um das Land auf einen möglichen EU-Beitritt vorzubereiten. Andere Bereiche, die Unterstützung bei Reformen brauchen könnten, wären das Gesundheitssystem, der Bildungssektor, das Justizwesen oder auch der Kulturbereich. Man könnte sicher auch die Korruptionsbekämpfung nennen, weil der russische Angriffskrieg nicht automatisch zu einer Abnahme der Bestechung führte. Und da die Ukraine während des Kriegs wegen des Wirtschaftseinbruchs weniger Steuereinnahmen generiert, aber stetig Ausgaben hat, ist das Land dringend auf finanzielle Mittel angewiesen, um diese Löcher zu stopfen. Eine langfristige Lösung wäre, innerhalb der Bevölkerung das Bewusstsein für Steuerzahlungen zu schärfen, da leider immer noch ein starkes Misstrauen vorherrscht, dass staatlichen StrukturenGelder nicht sachdienlich verwenden, weshalb die Steuervermeidung blüht. Auch das ukrainische Militär bittet um Munitionsnachschub und neue Waffenlieferungen. Manche Vorschläge zielen darauf ab, Mittel zur Wirtschaftsförderung im militärisch-industriellen Komplex bereitzustellen, damit das Land in Kürze selbst Waffen produzieren kann und gleichzeitig Arbeitsplätze, Einkommen und Steuereinnahmen generiert. Damit wäre dann zum Teil auch das Thema Wiederaufbau angesprochen, was aber mit Wohnraum, Infrastruktur und Industrieanlagen viel weiter zu fassen ist.

Was ist nun aber „am Dringendsten“?

Auffällig ist, dass sich die genanntenBeispiele von „Dringlichkeiten“weitestgehend mit Geld regeln lassen, das größtenteils schon von den Unterstützern der Ukraine bereitgestellt wird. Doch ohne ein Ende des Kriegs wärenviele Hilfenein Fass ohne Boden. Also kann man sagen, das Dringendste wäre, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden und die Anstrengungen auf ein solches Ende zu konzentrieren. Schließlich spüren nicht nur die Menschen in der Ukraine die Auswirkungen des Kriegs, sondern auch andernorts möchte man zurück zu einem Nichtkriegszustand.

Allerdings erwecktdie an die Ukraine gelieferte militärische Unterstützung eher den Eindruck, dass dem Land gerade so viel gegeben wird, dasses nicht verliert und den Angreifer vor weiteren Gewinnen abhält. Dabei gehen die Unterstützer der Ukraine von zweiAnnahmen aus: zum einen, dass Russland das Land besetzen wolle und sich nicht damit zufriedengeben würde, wenn dieses Ziel erreicht wäre. Zum anderen, sollte Russland zu der Auffassung gelangen, dass es diesen Krieg verlieren wird, auch irrational handeln und Atomwaffen einsetzenkönnte. Deshalb scheint es, als sollten die Verantwortlichen in Russland – auch mittels Sanktionen – zu der Einsicht gebracht werden, dass der Krieg für Russland nicht gewinnbar sei und die Kämpfe daher eingestellt werden sollten, weil sie letztlich allen schaden.

Aus diesen Überlegungen kann eine andere Dringlichkeit abgeleitet werden, nämlich, was man eigentlich erreichen will und was man zu tun gedenkt, wenn das gesetzte Ziel nicht erreichbar ist, beziehungsweise, was man zu tun gedenkt, wenn es erreicht würde. Nehmen wiran, dass die Ukraine den Krieg gewinnen soll, muss man einerseits definieren, was „gewinnen“ bedeutet und entsprechende Maßnahmen ergreifen. Und wenn dieses Ziel nicht erreicht wird, könnte das zur Folge haben, dass auf dem Rücken der Ukraine weitere Versuche gestartet werden, dass dieses Ziel trotzdem irgendwie erreicht wird.Die Alternative wäre, von einem ukrainischen Siegmit allen damit verbundenen unabsehbaren Konsequenzen abzulassen.Doch was muss getan werden, wenn die Ukraine tatsächlich „gewinnt“? Denn hieraus ergeben sich weitreichende Fragestellungen zur Sicherheitsarchitektur in Europa und auf der Welt.Es steht ebenfalls im Raum, wie sich eine mögliche EU-Mitgliedschaft der Ukraine ausgestalten lässt und was das für die weitere Zukunft auf dem europäischen Kontinent bedeutet. Vor allem spielt hier die Frage eine Rolle, was dann eigentlich aus dem „Verlierer“ Russlandwird.

Fassen wir die Überlegungen zusammen, ergibt sich aus den Dringlichkeiten in der Ukraine eine Zukunftsfrage, die die Perspektiven von Millionen Menschen auf europäischem Boden beeinflusst. Demgegenüber wirdzu wenigkommuniziert, was ein Verlust der Ukraine bedeuten würde, außer dass Russlands territorialer Hunger möglicherweise nicht gestillt und mit weiteren Aggressionen, zu rechnen wäre. Noch weniger Antworten erhält man, wenn gefragt wird, wie es auswirken würden, wenn die Ukraine gewinnt, vor allem in Bezug auf die Zukunft Russlands. Der Kampf der Ukraine ist nicht nur die Abwehr eines Angreifers, sondern auch die Verteidigung von Werten und ein Kampf um eine nachhaltige Neugestaltung der internationalen Ordnung. Diese zu entwerfen und zu kommunizieren, scheint das Dringlichste, nicht nur für die Ukraine. Daraus ergeben sich Dringlichkeiten, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Andernfalls werden die Machthaber in Russland in der Überzeugung bestärkt, den Krieg langfristig doch noch gewinnen zu können und damit die internationale Ordnung selbst neu gestalten zu können.

 

 


[1]Büroleiter des Deutsch-Ukrainischen Forums, Kyjiw im Dezember 2023