Russische Aggression gegen die Ukraine in Aktion: Legitimation der Besatzung und

Mechanismen der schleichenden Abhängigkeit

von Oksana Mikheieva[1]

 

Die russische Aggression, die mit der Besetzung ukrainischer Gebiete einhergeht, begann vor 10 Jahren, im Jahr 2014. Das Ergebnis der aggressiven Handlungen der Russischen Föderation war die Annexion der Halbinsel Krim und die Besetzung von Teilen der Regionen Donezk und Luhansk. Das Besondere an dieser Besetzung war die Anwendung der simulierten Demokratie als Instrument für die Inbesitznahme von Gebieten: Auf der Krim und in Teilen der ukrainischen Regionen Donezk und Luhansk wurden sogenannte Referenden abgehalten, die der Welt demonstrieren sollten, dass es der Wunsch der Bevölkerung selbst war, das Staatsgebiet der Ukraine  zu verlassen.  Diese Mechanismen der Inbesitznahme von Territorien im Detail zu verstehen, ist nicht nur wichtig, um die Unzulässigkeit solcher Aktionen im Allgemeinen zu erkennen, sondern auch, um die Fallstricke der Demokratie und vor allem einige Formen der Ausübung der Volkssouveränität, wie Referenden oder Wahlen, kritisch einzuschätzen.

Pseudo-Plebiszid und  Demokratie

Simulierte Referenden sind für Russland zu einem universellen Instrument geworden, mit dem sowohl die eroberten Gebiete in den politischen Körper der Russischen Föderation integriert (wie im Fall der Halbinsel Krim im Jahr 2014) als auch der Konflikt eingefroren werden konnte, indem die Pseudo-Unabhängigkeit der besetzten Gebiete erklärt wurde (wie im Fall der besetzten Teile der Oblaste Donezk und Luhansk im selben Jahr). Während auf der Krim die Frage nach der "Wiedervereinigung" der Krim mit Russland als Subjekt der Russischen Föderation auf dem Stimmzettel stand, enthielt das Referendum in den teilweise besetzten Gebieten der Oblaste Donezk und Luhansk die Frage nach der "staatlichen Eigenständigkeit" der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Schon der Wortlaut dieser Fragen auf dem Stimmzettel ist hier bemerkenswert. Es ging nicht um die Unabhängigkeit, sondern um die "staatliche Eigenständigkeit", was die Situation unscharf macht und die Voraussetzung dafür schafft, die Ergebnisse des Referendums je nach Kontext zu verwenden.

Mit dem Beginn der umfassenden Invasion der Ukraine durch die Russische Föderation am 24. Februar 2022 hat sich die Größe der von der Russischen Föderation besetzten Gebiete in der Ukraine im Vergleich zu 2014 vergrößert. Um die Inbesitznahme von Gebieten zu legitimieren, nutzte die Russische Föderation erneut Pseudoreferenden und Wahlen als wichtige Instrumente zur Rechtfertigung der illegalen Inbesitznahme und Besetzung von Gebieten.

Mit Zahlen untermauerte Informationen haben im Massenbewusstsein große Überzeugungskraft.  Dementsprechend wird die Verwendung von numerischen Indikatoren oft zu einem Instrument der Bewusstseinsmanipulation. So erklärten die lokalen Wahlkommissionen nach dem Ergebnis des Referendums auf der Krim eine Wahlbeteiligung von 83,1 %; und 96,77 % derjenigen, die an der Abstimmung teilnahmen, befürworteten angeblich die Idee der "Wiedervereinigung" mit der Russischen Föderation als föderales Subjekt. Die gleichen "überzeugenden" Zahlen zur Unterstützung der "Eigenständigkeit" finden sich 2014 in den von den Organisatoren der Referenden in den besetzten Gebieten von Donezk (Wahlbeteiligung - über 70 %, Unterstützung unter den Referendumsteilnehmern - 89 %) und Luhansk (Wahlbeteiligung 65 %, Unterstützung - 94 %) vorgelegten Daten.

Bereits 2014 wurde deutlich, wie schwierig es war, solchen manipulativen Praktiken nicht auf den Leim zu gehen. Die Daten aus den Referenden standen in krassem Gegensatz sowohl zu den damals üblichen politischen Aktivitäten der Bevölkerung in der Ukraine als auch zu den Daten aus soziologischen Erhebungen zu den Fragen möglicher künftiger Beziehungen zur Russischen Föderation. Die Referenden wurden unter Bedingungen abgehalten, nachdem die ukrainische Regierung die Kontrolle über diese Gebiete entweder vollständig (wie auf der Krim) oder weitgehend verloren hatte. Sie wurden unter völliger Missachtung der ukrainischen Gesetzgebung abgehalten (ein Referendum über die Änderung der territorialen Struktur in der Ukraine ist zwar möglich, aber es darf  nur ein gesamtukrainisches Referendum sein, das vom ukrainischen Parlament akzeptiert ist). Auch der Zugang ausländischer Beobachter zum Abstimmungsprozess wurde erheblich eingeschränkt; tatsächlich wurde nur einer Reihe von internationalen Beobachtern, die der Russischen Föderation treu ergeben waren, demonstrativ Zugang gewährt, was auch als zusätzliches manipulatives Instrument zur Legitimierung der Inbesitznahme von Gebieten genutzt wurde.

Eine Reihe von Journalisten und lokalen pro-ukrainischen Aktivisten, die versuchten, Verstöße zu dokumentieren, berichteten, dass Gewalt gegen sie ausgeübt wurden und sprachen über eine Reihe von Verstößen: Alle Personen wurden registriert, die  nur mit ihrem Pass wählen wollten, ohne ihre persönlichen Daten in den Wahllisten aufführen zu lassen. ; fehlende Möglichkeit, die Stimmenauszählung zu beobachten; Situationen, in denen Beobachter aggressiv aus den Wahllokalen gedrängt wurden, usw.. Die tatsächliche Wahlbeteiligung wurde in Frage gestellt. Unabhängige Journalisten führten eigene Kontrollen durch und stellten fest, dass es zu einer "zirkulären" Stimmabgabe kommen  konnte, wenn ein und dieselbe Person in verschiedenen Wahllokalen wählte;  und es wurden bereits ausgefüllte Stimmzettel in den Wahllokalen gefunden. Die Besetzung von Gebieten sowie das aktive Eindringen der Russischen Föderation in den Informationsbereich ermöglichten es jedoch, das demokratische Verfahren des Referendums zu simulieren und es mit einem "zweifellos" hohen Ergebnis zu untermauern, was in Verbindung mit der mangelnden Transparenz der Abstimmung und dem fehlenden Zugang zu den Kontrollverfahren zu einer verschwommenen Wahrnehmung des Geschehens führte. In dieser Situation wurden beide Behauptungen - sowohl über die Unterstützung der lokalen Bevölkerung für die Politik der Russischen Föderation in den eroberten Gebieten als auch über den gefälschten und nachgeahmten Charakter dieser Volksabstimmungen - möglich und gleichermaßen unbegründet. Diese künstlich geschaffene Zweideutigkeit wurde zu einem wirksamen Besatzungsmechanismus und einem Versuch, die Inbesitznahme international zu legitimieren und die öffentliche Reaktion der westlichen Länder auf die Aggression zu  beschwichtigen. All dies ging mit der Erzeugung von einem Informationsrauschen einher, dessen Hauptaufgabe darin bestand, die Aufmerksamkeit von der Unrechtmäßigkeit solcher Aktionen im Allgemeinen auf die Diskussion über die Ergebnisse der Pseudo-Referenden zu lenken und ein Gefühl der Unklarheit über das Geschehen zu erzeugen.

Die Russische Föderation nutzte ein ähnliches Schema, um die neuen Gebietseroberungen im Rahmen der einer groß angelegten Invasion im Jahr 2022 zu legitimieren. Am 23. September 2022 fanden zeitgleiche Referenden über die Eingliederung der sogenannten DNR, LNR und der besetzten Teile der Regionen Cherson und Saporischschja in die Russische Föderation statt. Die von der Russischen Föderation im Namen der lokalen Wahlkommissionen vorgelegten Daten zur Wahlbeteiligung zeigten, wie schon 2014, eine für die ukrainische Gesellschaft ungewöhnlich hohe Beteiligung am Plebiszit: 97,51 % in der DNR, 92,6 % in der LNR, 76,86 % in der Region Cherson und 85,4 % in der Region Saporischschja. Die physische Kontrolle über Teile der ukrainischen Gebiete ermöglichte es der Russischen Föderation, dort vom 30. August bis 10. September 2023 Kommunalwahlen abzuhalten, an denen sowohl lokale als auch russische Parteien teilnahmen.

Die Reihe von Studien die unter Anleitung der Autorin durchgeführt wurden[2] ermöglicht es uns, die Umsetzung solcher pseudodemokratischen Mechanismen aus der Sicht der einfachen Bewohner der Ukraine zu betrachten, die sich in den besetzten Gebieten befanden.

Alle  Teilnehmer der Befragung hatten eine lange Erfahrung mit der Besatzung (im Durchschnitt etwas mehr als ein Jahr) und befanden sich zum Zeitpunkt der Untersuchung entweder in den befreiten Gebieten oder hatten die besetzten Gebiete in Richtung eines von der ukrainischen Regierung kontrollierten Teil des Landes verlassen. Die gesammelten Informationen spiegeln die individuellen Erfahrungen mit dem Leben unter der Besatzung wider und weisen daher aber auch eine Reihe von Einschränkungen auf. Allerdings ermöglichen die Daten ein kritisches Überdenken der öffentlich zugänglichen Informationen über die Geschehnisse in den besetzten Gebieten.

Anhand der persönlichen Geschichten unserer Teilnehmer können wir den Prozess der Vorbereitung und Durchführung von Kommunalwahlen in den besetzten Gebieten im September 2023 rekonstruieren. In diesem Fall handelt es sich um die von der Russischen Föderation besetzten ukrainischen Gebiete, die auf der Grundlage illegaler Volksabstimmungen in das politische System der Russischen Föderation eingegliedert wurden.

Unsere Befragungsteilnehmer stellten fest, dass vor den Wahlen der Prozess der Zwangspassportierung der Bevölkerung deutlich zunahm, d.h. die Ukrainer wurden unter Druck gesetzt, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Gleichzeitig waren die Bewohner der besetzten Gebiete nicht verpflichtet, ihre ukrainischen Pässe abzugeben. Die Schaffung von Unsicherheiten in Bezug auf die Pässe und damit auch auf die Staatsbürgerschaft kann als eine zusätzliche manipulative Technik angesehen werden, die es ermöglicht, je die Bewohner der besetzten Gebiete je nach Kontext und der für die Besatzer günstigen Rhetorik mal als Russen mal als Ukrainer darstellen zu können.

Fast alle Teilnehmer sind der Meinung, dass solche Plebiszite nichts mit demokratischen Verfahren in normalen Gesellschaften zu tun haben und nicht von der Beteiligung und Meinung der Menschen abhängen:

"Selbst wenn die Meinung der [besetzten] Bevölkerung eine andere ist, wird das nichts ändern. Es gibt nur diese Wahlen, es gibt all diese Protokolle, sie werden geschrieben, bevor die Wahlen stattfinden - da bin ich mir 100%ig sicher. Denn all das ist es, was bei dem so genannten Referendum passiert ist."

"So haben sie [das Referendum] abgehalten. Was die Stimmzettel angeht... Ich glaube, sie haben einfach die benötigte Anzahl gezogen, und das war's."

„Leute sagten uns, wir sollten wählen. Jemand wurde mit etwas bedroht. Alles in allem war es ein Zirkus. Es wäre ein Zirkus, wenn die Leute nicht so viel Angst vor all dem hätten.

 

"Denn, sagen wir mal, wir haben dieses verrückte Referendum überlebt. Und jeder denkt jetzt wahrscheinlich, dass es dafür ein Wort gibt:  "durchschlüpfen".  Wenn man sich nicht schmutzig macht, aber auf der anderen Seite, sagen wir mal, sich auch nicht in Schwierigkeiten bringen will. Ich glaube, es ist etwas in der Art. Aber auf jeden Fall ist das nicht wie bei Wahlen, wie sie in normalen Zeiten stattfinden. Das hat mit dem nichts gemein. Das heißt, hier gibt es kein Wahlverfahren, und ich weiß nicht, ob man es überhaupt so nennen kann.“

 

Jedenfalls sieht es nicht so aus, als ob die Einstellung zu Wahlen, wie sie in normalen Zeiten vorkommt, mit all dem nichts zu tun hat. Ich meine, es gibt dort keinen Wahlprozess, ich weiß nicht, ob man das überhaupt so nennen kann."

Wir haben unsere Teilnehmer auch gebeten, den Anteil der lokalen Bevölkerung, der als aktiver Unterstützer der Russischen Föderation bezeichnet werden kann, in Prozenten zu schätzen. Nach ungefähren und subjektiven Schätzungen unserer Befragungsteilnehmer machen diese Personen nicht mehr als 15-20 % der lokalen Bevölkerung aus (unsere Teilnehmer stammen aus ländlichen Gebieten, in denen sich die Menschen gut kennen - daher sind ihre Schätzungen trotz ihrer Subjektivität nicht abstrakt, losgelöst von der Realität). Trotz ihrer Subjektivität solcher Schätzungen unterscheiden sich diese Informationen völlig von den Daten über die Beteiligung der lokalen Bevölkerung an Referenden und Wahlen, wie sie  von der Russischen Föderation bekannt gegeben wurden.

Um ihr Ziel, die eigene Legitimität in den besetzten Gebieten zu demonstrieren, zu erreichen, greifen die russischen Besatzungsbehörden auch auf andere manipulative Techniken zurück: zum Beispiel die Durchführung von Wahlen nicht an einem Tag, sondern innerhalb von 10-11 Tagen (in den besetzten Gebieten im Süden der Ukraine - vom 30. August bis zum 10. September). Eine solche Verlängerung der Wahlzeit in Verbindung mit der Stimmabgabe zu Hause ermöglicht es nicht, die tatsächliche Wahlbeteiligung der Bevölkerung zu ermitteln und zu kontrollieren. Ein zusätzlicher Raum für Manipulationen wurde durch Wahllokale auf dem Gebiet der Russischen Föderation geschaffen, die für Bewohner der besetzten Gebiete, die aus der Ferne wählen wollen, eingerichtet wurden.

Gleichzeitig kann ein solches Votum aber auch spiegelverkehrt interpretiert werden, was Gefühle von Unschärfe, Unsicherheit und Zweifel hervorruft. So wird die Stimmabgabe zu Hause von der russischen Propaganda als ein Anliegen der Menschen in abgelegenen Gebieten dargestellt, und bewaffnete Männer, die Vertreter der Wahlkommissionen begleiten, als Garantie für die Sicherheit der Stimmabgabe. Gleichzeitig sprechen die Einheimischen selbst von den Wahlen "mit vorgehaltener Waffe".

Mechanismen der langsamen Abhängigkeit

Der Versuch die Menschen in den besetzten Gebieten in Abhängigkeit zu bringen, die Abhängigkeitsbildung, war und ist immer noch dem gleichen Ziel untergeordnet - den Anschein der Freiwilligkeit der Eingliederung der eroberten Gebiete in den politischen Körper der Russischen Föderation zu erwecken. Unsere Forschung hat es uns ermöglicht, einige dieser Instrumente der Abhängigkeitsbildung zu rekonstruieren, die die Menschen langsam, Schritt für Schritt, in eine ausweglose Situation bringen. Die langsame, schrittweise Entstehung von Abhängigkeit ist gefährlich, weil die Menschen einzelne Maßnahmen der Besatzungsbehörden zunächst nicht als ernsthafte Bedrohung wahrnehmen und sich ihrer Abhängigkeit erst bewusst werden, wenn sie praktisch keine andere Wahl mehr haben.

Verschiedene Maßnahmen der Russischen Föderation im Zusammenhang mit der humanitären Hilfe für die örtliche Bevölkerung in den besetzten Gebieten (verschiedene Zahlungen, Ausgabe von Lebensmitteln oder Gegenständen) wurden von der obligatorischen Erfassung der Empfängerdaten  begleitet, wodurch bestätigte Kontakte mit den Besatzern dokumentiert werden, die zur Einschüchterung der örtlichen Bevölkerung genutzt werden können, da ihnen möglicherweise  Repressalien seitens der ukrainischen Behörden und Anschuldigungen der Kollaboration drohen.

Der Mechanismus der Abhängigkeitsbildung ist am Arbeitsplatz noch deutlicher zu erkennen. In der Anfangsphase waren die Menschen durch hohe Gehälter an der Funktion  wichtiger Strukturen und Systeme beteiligt. Zunächst wurde ihnen das Geld in bar und nach Listen ausgezahlt. Dann begann man, das Geld auf eine Bankkarte zu überweisen, und zwar nur in Rubel, wofür man eine SNILS (russischer Identifikationscode - "Versicherungsnummer des individuellen Personenkontos") brauchte. Zunächst konnte die SNILS mit einem ukrainischen Reisepass ausgestellt werden. Nach sechs Monaten wurden die Arbeitnehmer jedoch darüber informiert, dass diejenigen, die mit einem ukrainischen Pass leben und arbeiten, als Nichtresidenten des Landes höhere Steuern zahlen müssen und dementsprechend weniger Lohn erhalten würden. Dies wurde zu einem der Instrumente, mit denen die Arbeitnehmer herausgefiltert und damit registriert wurden, was einige dazu veranlasste, sich anzupassen und einen russischen Pass zu beantragen, und andere, zu kündigen. Diejenigen, die unter Beibehaltung ihrer ukrainischen Staatsbürgerschaft weiterarbeiteten, wurden immer weniger und fielen folglich auf. Ein zusätzliches Druckmittel waren "freundliche" Gespräche mit Vertretern des "FSB" (Föderaler Sicherheitsdienst der Russischen Föderation), die davor warnten, dass solche Personen als illoyal und potenzielle Agenten der ukrainischen Sicherheitsdienste betrachtet würden. In dieser Phase befanden sich die Menschen schon in einer Art Geiselhaft - es war bereits gefährlich, einen Rückzieher zu machen, da  ein Rücktritt von der russischen Staatsbürgerschaft als Beweis für die Zusammenarbeit mit den ukrainischen Sicherheitsdiensten angesehen werden konnte. Daher war der Erwerb der russischen Staatsbürgerschaft der einzig mögliche Ausweg aus dieser Situation.

Ein weiterer schockierender, schrittweiser Handlungsalgorithmus war die Politik der Besetzer gegenüber Familien mit Kindern. Unter den Bedingungen der Militäroperationen und der Zerstörung von Wohnraum benötigten die Menschen dringend humanitäre Hilfe. Anfangs wurde die Hilfe allen Bedürftigen gewährt, doch später mussten bestimmte Bedingungen erfüllt werden, um humanitäre Hilfe zu erhalten - zum Beispiel musste man seine Kinder  in einer russischen Schule anmelden. Nach dem Ende des Schuljahres, im Frühjahr/Sommer 2023, begann man, Kinder aktiv zur Erholung auf die Krim zu bringen. Dies betraf vor allem Waisenkinder sowie Kinder, die in den neuen russischen Schulen unterrichtet wurden. Den Eltern, die sich weigerten, ihre Kinder zur Erholung dorthin zu bringen, wurden humanitäre Unterstützungsleistungen und finanzielle Zahlungen vorenthalten. Diejenigen Eltern, die zustimmten, mussten den Schulen eine schriftliche Genehmigung vorlegen, damit ihr Kind zu Erholungszwecken auf die Krim reisen konnte. Infolge  kehrten einige der Kinder nicht nach Hause zurück, und ihre Eltern mussten in der Russischen Föderation aus nach ihren Kindern und Möglichkeiten für deren Rückkehr suchen. Die menschenfeindliche Komponente dieser Maßnahmen besteht nicht nur in der Abschiebung der ukrainischen Kinder, sondern auch in der Schaffung einer Situation, in der die Eltern erkennen, dass sie selbst mit ihrer Unterschrift faktisch ihre Zustimmung zu dieser Abschiebung gegeben hatten. Hier wie auch bei Wahlen und Volksabstimmungen zeigt sich, dass die Besatzungsbehörden versuchen, die Besatzung um jeden Preis zu legitimieren und die zu beweisen dass die lokale Bevölkerung angeblich freiwillig mit den neuen Autoritäten zusammenarbeitet.

Hinter der erzwungenen Passportisierung, auf deutsch „Passisierung“, also  der Annahme russischer Ausweisdokumente und der russischen Staatsbürgerschaft standen die Drohung des schrittweisen Ausschlusses von der medizinischen Versorgung, des Verlustes der Möglichkeit einer offiziellen Beschäftigung oder einer unternehmerischen Tätigkeit, der Unmöglichkeit, Sozialhilfe und Renten zu erhalten. Zudem versperrte die Beschaffung eines russischen Passes  diesen Menschen den Zugang zur Ukraine (nach russischem Recht kann man die Grenze nur mit einem internationalen Pass überqueren; ein interner Pass eines russischen Staatsbürgers ist für diesen Zweck nicht geeignet). Die Beschaffung eines internationalen Passes ist kostspielig und bürokratisch, so dass ein Großteil der Menschen in den besetzten Gebieten an einen Ort gebunden wurde und das Recht auf Mobilität verlor.

Dies sind nur einige Aspekte der Entstehung von Abhängigkeiten, über die unsere Teilnehmer an der Studie sprachen. Der Mechanismus der Abhängigkeitsbildung selbst ist jedoch in allen Fällen praktisch identisch. Seine Besonderheit liegt darin, dass er schrittweise erfolgt, so dass die Menschen nicht sofort merken, was mit ihnen geschieht. Zunächst werden den Menschen verschiedene Vorteile und Entschädigungen gewährt, und schließlich werden sie vor die Notwendigkeit gestellt, eine ganz legale russische Vorschrift oder ein Gesetz zu erfüllen, wodurch die Menschen ihre Freiheit und das Recht verlieren, über sich selbst zu bestimmen,  einschließlich über ihr  Leben und das Leben ihrer Kinder. Zudem  wird die Zusammenarbeit der Menschen mit den Besatzungsbehörden zu einem Teil ihrer aufgezeichneten, registrierten Biografie und dementsprechend zu einem Instrument, um Ängste vor einer möglichen Bestrafung zu schüren, falls die ukrainische Kontrolle über ihre eigenen Territorien wiederhergestellt wird.

Nachwort

Praktiken der simulierten Demokratie sind äußerst gefährlich, weil sie das Vertrauen in die Demokratie insgesamt untergraben. Wie die Erfahrungen der Menschen, die unter der Besatzung gelebt haben, zeigen, tun die Besatzungsbehörden (die sich auf Kollaborateure stützen) alles, um den Eindruck zu erwecken, dass alles durch den Willen des Volkes geschieht, und legitimieren so Aggression und Gebietseroberungen. Der Mechanismus der "Demokratie ohne Volk" erweist sich als sehr wirksam und schafft nicht nur die Illusion einer Willensbekundung, sondern blockiert auch jegliche Manifestation von Protest und Widerstand. Es ist unmöglich, Wahlen zu stören, die ohne wirklichen Einfluss und Beteiligung des Volkes abgehalten werden. Jegliche Manifestationen des Widerstands gegen die Wahlen (Ignorieren von Wahlen, Verstecken vor mobilen Wahlkommissionen) können unter den Bedingungen der Kontrolle über das Informationsfeld leicht ignoriert oder als Randerscheinungen dargestellt werden, und Wahlbetrug in Verbindung mit inszenierten Videos wird genutzt, um Botschaften über die angebliche Unterstützung der Bevölkerung für die Maßnahmen Russlands in den besetzten Gebieten zu verbreiten.

Die Verwendung demokratischer Rhetorik und von Instrumenten der Volkssouveränität zur Beschlagnahmung von Territorium ist eine ernsthafte Herausforderung für die moderne Demokratie. Und diese Herausforderung geht weit über den Russisch-Ukrainischen Krieg hinaus. Der instrumentelle Erfolg der manipulativen Fassadendemokratie untergräbt die Glaubwürdigkeit der Demokratie als Organisationsform des Lebens in den meisten westlichen Ländern insgesamt und zeigt ihre Schwachstellen und Fallstricke auf. In diesem Fall ist es wichtiger denn je, das Geschehen beim Namen zu nennen und sich nicht mit der bequemen Kompromissformel "nicht alles ist so eindeutig" zufrieden zu geben, denn es ist diese Verwischung der Grenzen der Realitätswahrnehmung, die die Wirksamkeit der Demokratie in Frage stellt und zu einer Erosion des Vertrauens in ihre Fähigkeit führt, stabil genug zu sein, um sich zu verteidigen.

Anmerkungen


[1] Oksana Mikheieva is historian and sociologist, UNET Fellow at the Centre for East European and international Studies (ZOiS, Berlin), professor at the Department of Sociology, Ukrainian Catholic University (Lviv, Ukraine).

Oksana Mikheieva ist Historikerin und Soziologin, UNET-Fellow am Zentrum für osteuropäische und internationale Studien (ZOiS, Berlin), Professorin am Fachbereich Soziologie der Ukrainischen Katholischen Universität (Lviv, Ukraine).

[2] "Leben unter Besatzung: soziale Folgen der russischen Invasion in den vorübergehend besetzten Gebieten" (März-April 2023, 2 FGDs, 18 Teilnehmer, die das Gebiet Cherson repräsentieren), "Abhängigkeit und Dissonanz: ein Blick auf die Prozesse und Realitäten des russischen Drucks in den besetzten Gebieten der Ukraine in den Einschätzungen der lokalen Bewohner" (August-September 2023, 14 ausführliche Interviews mit Bewohnern der besetzten Teile der Gebiete Cherson und Saporischschja). Datenerhebung durch die Autorin (Oksana Mikheieva, Sergiy Danylov, Igor Semyvolos)