„Der Druck auf uns ist sehr groß; der Druck zu funktionieren, Arbeit zu finden, weiterzuleben. Zuzusehen, wie das eigene Haus zerstört wird. Sich täglich Sorgen um Angehörige zu machen. Alles passiert gleichzeitig.“
Sie haben in Berlin Seminare für geflüchtete Aktivistinnen und Aktivisten aus der Ukraine organisiert. Was war die Idee dahinter?
Der russische Krieg dauert bereits seit 2014. Aber vor allem seit der umfassenden russischen Invasion im Februar 2022 sind sehr viele Menschen aus der Ukraine nach Deutschland geflohen. Vor diesem Hintergrund gab es mehrere Gründe, warum ich diese Seminare entwickelt habe.
Der erste Grund ist: Es kommen Menschen zu uns, die einen Halt suchen. Das, was ihnen im Integrationskurs über Deutschland vermittelt wird, reicht nicht aus, um sich hier in diesem System zurechtzufinden und sich für die eigenen Rechte einzusetzen. Es geht hier vor allem um direkte Hilfe für Menschenrechtler und Aktivisten, gerade aus vulnerablen Gruppen und Minderheiten – ich meine natürlich alle Geschlechter – die aus der Ukraine geflohen sind.
Der zweite Grund: Als ich 2005 nach Deutschland kam, gab es hier in Berlin nur eine kleine ukrainische Community. Die größere ukrainische Gemeinschaft, die es in den 1920er und -30er Jahren hier gab, ist 1945 nach der Besetzung Berlins durch die Alliierten – unter anderem auch die Sowjetunion –fast ausnahmslos aus Berlin weggegangen. Die westlichen Alliierten hatten mit Stalin einen Vertrag geschlossen, Menschen aus der Ukraine in die Sowjetunion zurückzuschicken. Die Ukrainer wollten aber nicht in die Sowjetunion. Manche haben sich aus Protest sogar umgebracht. Die Mehrheit ist weggegangen – in die Bundesrepublik, vor allem aber in die USA, nach Kanada und Australien. Wir haben also die Situation, dass jetzt viele Ukrainer hergekommen sind, aber kaum Institutionen existieren, die ihre Interessen vertreten können. Deshalb habe ich diese Seminare begonnen. Es geht darum, den neu Angekommenen zu helfen, ihre eigenen Interessenvertretungen zu gründen. Wir haben eine kleine Ausschreibung gemacht und darauf geachtet, vor allem Menschen aus besonders vulnerablen Gruppen in die Seminare aufzunehmen. Also Menschen aus der LGBTQ+-Community, Menschen mit Behinderungen oder Personen, die mit Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten arbeiten. Das Ziel war also, Institutionen aufzubauen und Menschen zu ermächtigen, damit nicht wir für sie sprechen, sondern sie selbst für sich sprechen können.
Was ist Neues aus den Seminaren entstanden?
Ich habe gesehen, dass ein großer Bedarf an Fortbildungen besteht. Es geht um politische Partizipation. Aus den Seminargruppen sind sechs neue Vereine hervorgegangen. Ein Verein von LGBTQ+-Menschen hat sich im letzten Jahr gegründet und heißt Kwitne Queer. Ein weiterer Verein entstand in Eberswalde. Die Gründer hatten Veranstaltungen organisiert und wollten sich professionalisieren. Sie heißen Opora (dt. Unterstützung). Ein Verein setzt sich gegen Gewalt an Frauen ein: „Ich kann das e.V.“. Darüber hinaus wurde hier eine Vertretung der SD-Plattform gegründet, einer sozialdemokratischen Plattform für Jugendliche, die in der Ukraine schon lange aktiv ist. In Steglitz-Zehlendorf gründen junge Leute, die sich mit Kultur beschäftigen wollen, gerade den Verein Dach e.V.. Ein weiterer Verein ist in Cottbus im Entstehen. Außerdem konnten wir einem Verein, in dem sich HIV-positive Menschen organisiert hatten, bei seiner Weiterentwicklung helfen: PlusUkrDe e.V. – Positive Ukrainer in Deutschland.
Gab es Überraschungen in den Seminaren?
Wir hatten für eine Seminargruppe sogenannter aus der Ukraine geflohener Drittstaatler, also Personen, die in der Ukraine wohnten, aber dort keine ukrainische Staatsbürgerschaft hatten, die Initiative BIPoC Ukraine & Friends in Germany als Partner gewonnen. Drittstaatler haben in der Bundesrepublik keinen gesicherten Aufenthaltsstatus, falls sie nicht in der Ukraine Asyl hatten oder aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea stammen. Im Unterschied zu Menschen mit ukrainischer Staatsangehörigkeit haben sie keine Aufenthaltserlaubnis nach § 24 Aufenthaltsgesetzt (AufenthG) in Deutschland. Sie müssen einen Aufenthaltstitel oder Asyl beantragen. Diese Gruppe wollte, um sich sicher fühlen zu können, nur mit Trainern von People of Colour arbeiten. Eine Vereinsgründung war für sie kein Thema – nicht, weil sie sich nicht engagieren wollen, sondern weil für sie aufgrund von strukturellem Rassismus einfach zu viele Hürden bestehen. Weil sie nicht wissen, ob sie morgen noch hier sein werden. Wie sollen sie da über eine Vereinsgründung nachdenken? Es ging dann im Seminar eher um das politische System in Deutschland und um Öffentlichkeitsarbeit.
Im Grunde sind die, die Unterstützung, Advocacy, am meisten brauchen, am schwächsten?
Genau. Beispielsweise hatte eine Teilnehmerin, eine queere Person aus Kasachstan, die hier kein Bleiberecht hat, keinen Ort zum Wohnen. Sie wohnte manchmal in Parks und hat trotzdem die Kraft gefunden, zu den Seminaren zu kommen. Ich finde das bewundernswert. Dann hatte sie einen Raum, aber wurde krank. Von welcher politischen Teilhabe können wir reden, wenn die physischen Bedürfnisse nicht gedeckt sind? Für mich war das ein Lernprozess, dass es auch des Dialogs zwischen den verschiedenen Migrantengruppen bedarf, weil wir wenig voneinander wissen.
Wie können sie Unterstützung leisten?
Ich helfe mit politischen Kontakten zu den Integrationsbeiräten und zu Abgeordneten, wenn wichtige Probleme zu lösen sind. Und wir helfen mit Räumen. Beispielsweise wurden LGBTQ+-Menschen aus der Ukraine von den Jobcentern zu Quarteera geschickt, zu einem Verein, der von russischen Menschen gegründet worden ist. Dieser Verein ist fantastisch und macht eine sehr wichtige Arbeit. Aber Quarteera ist für ukrainische Menschen kein sicherer Ort. Mit ihrem neu gegründeten eigenen Verein Kwitne Queer nutzen sie unsere Räumlichkeiten intensiv. Das war ein großer Schritt, weil es in der ukrainischen Diaspora auch Homophobie gibt.
Warum war Quarteera kein sicherer Ort für die ukrainischen Geflüchteten?
Für Menschen aus der Ukraine kann es retraumatisierend sein, wenn sie mit Menschen aus Russland in Kontakt treten. Das gilt ehrlich gesagt für uns alle. Wenn zum Beispiel eine lesbische Frau, die aus Cherson geflohen ist und von der wir nicht wissen, was ihr passiert ist, welche Gewalt ihr von russischen Soldaten in der Ukraine angetan wurde, bei Quarteera einen russischen Mann trifft – auch wenn dieser Mann ein homosexueller Mann ist – kann sie retraumatisiert werden. Selbst wenn das russische Gegenüber völlig verständnisvoll ist, kann eine Retraumatisierung passieren.
Wie stehen sie zu Gesprächen mit Russen, die hier leben?
Wir werden oft mit Anfragen konfrontiert, mit Russen in einen Dialog zu treten. Es ist schwer zu erklären, warum wir das nicht können. Die meisten sagen, dass sie sich aus Gründen der Retraumatisierung oder aus ethischen Gründen zur Zeit nicht in einem Raum mit Russen befinden können.
Es gibt einen Aufruf von Mediatoren aus der Ukraine, die deutlich sagen: Gespräche mit Menschen aus Russland können jetzt für Menschen aus der Ukraine Retraumatisierung bedeuten. Und deswegen wollen wir das zur Zeit nicht.
Die ethischen Gründe bedeuten, dass beispielsweise Künstler aus Russland ihre Werke ausstellen können, während Kolleginnen aus der Ukraine, die gerade gegen die russische Armee kämpfen oder die gestorben sind, ihre Werke nicht ausstellen können. Das ist ein Ungleichgewicht. Ich weiß, dass es in Deutschland vielleicht schräg klingt, aber es ist wichtig, den Menschen aus der Ukraine mal zuzuhören. Es geht nur darum, dass wir bitten, nicht zwangsweise in einem Raum mit Russen sein zu müssen. Ich spreche ja mit Russen, aber ich möchte es auswählen können. Viele Russen reflektieren ihre lange imperiale Vergangenheit nicht. Manchmal sind es Vereinfachungen, die Unterschiedlichkeit wird nicht bedacht, und oft sind es kleinere Sachen, die nicht stimmen, die der westliche Zuhörer nicht bemerkt.
So eine Art russische Vereinnahmung?
Das Problem liegt darin, dass russische Stimmen einfach sehr viel Gehör haben, dass russischen Stimmen vertraut wird wegen dieser vermeintlichen Großartigen russischen Kultur, the Great Russian Culture, dass sie sowieso mehr Raum haben. Gleichzeitig haben wir uns nicht damit beschäftigt, was eigentlich Puschkin oder Tschechow oder Dostojewski sagen, wie imperial ihre Werke sind. Selbst bei Brodskij findet man das, in der Art und Weise, wie er sich über die unabhängige Ukraine äußert. Puschkin, der die russischen Kriege im Kaukasus verherrlicht und schreibt, dass alle slawischen Flüsse in das russische Meer fließen, war ein Unterstützer des Imperiums.
Was kann bei solchen Kontakten mit Russen stören?
Es kann stören, dass Menschen nicht genug über ihr imperiales Verhalten reflektiert haben. Es kann stören, dass sich Menschen einfach weiterhin erlauben, russisch-belarusisch-ukrainische Projekte zu beantragen und durchzuführen, obwohl die Kontexte sehr unterschiedlich sind. Warum kümmert sich ein Verein, der von Russen gegründet wurde, um Menschen aus der Ukraine oder aus Belarus? Welchen Zweck verfolgt er dabei? Russische Sprache und Kultur sind für Putin Instrumente in diesem genozidalen Krieg. Vereine, die von russischen Menschen gegründet wurden, die russische Sprache und Kultur proklamieren, haben in ihren Satzungen selten den Satz stehen „Wir sind ein russischer Verein.“ Es heißt dagegen fast immer: „Wir kümmern uns um russischsprachige Menschen.“ Ich frage mich, wollen sie damit die imperiale Politik fortsetzen? Warum kümmern sich diese Vereine um Menschen, die zwar russischsprachig, aber in einem ganz anderen Kontext aufgewachsen sind? Das ist für mich eine unreflektierte Fortsetzung des imperialen Gedankens. Da braucht nicht unbedingt etwas getriggert werden. Ich schätze durchausdie Bemühungen von Menschen, die etwas machen wollen. Aber es wäre gut, wenn Menschen aus Russland sich nicht mit uns beschäftigen, sondern mit sich selber. Das wäre eigentlich das, was sie jetzt machen könnten. Ich denke, Menschen aus der Ukraine entscheiden, ob und wann es einen Dialog geben kann.
Ich höre daraus die Erwartung an das deutsche Publikum: Unterscheiden, zuhören und Ukrainer für sich sprechen lassen - nicht Russen nach den Ukrainern fragen.
Ja, so ist es.
Wie erleben die aktivistischen Geflüchteten unterschiedliche deutsche Gesprächspartner?
Sie sind schon sehr positiv überrascht darüber gewesen, wie sie hier aufgenommen wurden; freundlich, entgegenkommend, hilfsbereit. Das war für alle ein sehr wichtiges und prägendes Erlebnis, dass Menschen einfach geholfen haben.
Schwierig war, dass wir nicht genug Übersetzer hatten. Wenn dann im Jobcenter ein Mensch aus Russland übersetzt, dann wird die ukrainische Person manchmal schon anders behandelt. Es kam vor, dass ein Dolmetscher einfach gesagt hat: „Verzichte auf deine Rechte!“
Gibt es Kommunikationserschwernisse? Was wird nicht gehört, was falsch verstanden, wenn Ukrainerinnen zu Deutschen sprechen?
Es mangelt an Wissen über die Geschichte: Warum gab es die Hungersnot Anfang der 1930er Jahre, warum stellte und stellt die Unabhängigkeit der Ukraine für Stalin und für Putin eine existentielle Bedrohung dar und warum versucht Putin noch einmal, uns zu vernichten, weil wir Ukrainer sind? Ich denke, wenn man darüber Bescheid wüsste, würde man keine Dialoge vorschlagen, sondern die Entwicklung der ukrainischen Zivilgesellschaft unterstützen. Was auch teilweise geschieht; die Integrationsbeauftragte Berlins ist da sehr empathisch und versteht, worum es geht. Wir haben eine unterschiedliche Geschichte, und deshalb wird vielleicht nicht immer verstanden, warum Ukrainer so sehr darauf beharren, ihre Sprache zu sprechen oder ihre Fahne dabei zu haben. Die Ukraine hat im 20. Jahrhundert vier Mal ihre Unabhängigkeit proklamiert, 1991 war also das vierte Mal. Sie wurde zweimal von Deutschen besetzt. Es besteht eine Ungleichheit, wie wir auf die Ukraine schauen und wie wir mit der eigenen Geschichte umgehen, wie wir mit der Aufarbeitung des Nationalsozialismus umgehen, wen wir als Russen sehen, wen wir als Befreier 1945 sehen und wen als Kollaborateure.
Was treibt die geflüchteten Ukrainer um, mit welchen Schwierigkeiten haben sie zu tun?
Generell sagen mir ganz viele: „Der Druck auf uns ist sehr groß; der Druck zu funktionieren, Arbeit zu finden, weiterzuleben. Zuzusehen, wie das eigene Haus zerstört wird. Sich täglich Sorgen um Angehörige zu machen. Alles passiert gleichzeitig.“ Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass wir es mit einer sehr heterogenen Gruppe zu tun haben. Manche haben eine doppelte Flucht erfahren und wurden bereits 2014 von der russischen Armee aus der Ostukraine in die Westukraine vertrieben. Andere haben jemanden an der Front, leiden unter Posttraumatischer Belastungsstörung. Wir hatten einen konkreten Fall in Potsdam: Eine Mutter aus Charkiw, die sich schnell integrierte, Deutsch lernte, rasch eine Arbeit aufnahm, damit das Jobcenter sie in Ruhe lässt, hatte ihren Bruder an der Front. Die Belastung wurde irgendwann zu groß. Sie hat sich das Leben genommen.
Bei bestimmten Gruppen gibt es spezifische Schwierigkeiten. Queere Ukrainer haben mir erzählt, dass es für sie verstörend ist, wenn man sie in eine Gemeinschaftsunterkunft mit Menschen aus Russland steckt. Es gibt wohl nicht so viele Unterkünfte für geflüchtete LGBTQ+-Menschen.
HIV-positive Menschen sagten, dass es lange gedauert hat, bis sie die Versichertenkarte von der Krankenkasse erhielten und dass sie bis dahin keine Therapie bekommen konnten. Für die Betroffenen ist es aber gefährlich, wenn die Therapie unterbrochen wird. 2023 waren wir mehrmals gemeinsam im Abgeordnetenhaus und haben uns dafür eingesetzt, dass die vorläufige Bescheinigung auch gilt. Jetzt wollen sie sich deutschlandweit dafür einsetzen, weil es in Thüringen und in Baden-Württemberg diese Probleme immer noch gibt.
Auch für Pflegebedürftige oder für Menschen mit Behinderungen gibt es keine gebündelten Informationen. Wo können sie Hilfe bekommen? Wir hatten einen blinden Aktivisten und der hat mir erzählt, dass es in Berlin insgesamt nur fünf Plätze für alle blinden Geflüchteten gibt, die Deutsch lernen wollen. Er ist mit großer Mühe als sechste Person da reingekommen. Doch er braucht eine Betreuung, denn er kann sich nicht alleine im Ausland blind durch die Stadt bewegen.
Und das mit dem Jobturbo beschäftigt jetzt alle. Jobcenter versuchen, Frauen aus der Ukraine in niedrig qualifizierte Jobs zu pushen. Nach eineinhalb Jahren sind die meisten mehr oder weniger situiert, haben – nicht alle, aber die meisten – eine Wohnung, soziale Kontakte, sind etwas ruhiger, so dass die traumatischen Erlebnisse hochkommen. Das bedeutet, dass jeder Sachbearbeiter im Jobcenter differenziert schauen muss, mit welchem Menschen er es zu tun hat: Welche Traumata hat dieser Mensch, kann er überhaupt schon arbeiten gehen? Manche sind krank, können nicht arbeiten. Manche bekommen alle fünf Tage Anrufe vom Jobcenter, ob sie jetzt einen Job gefunden haben. Manche haben den Sprachkurs B1 absolviert und ihnen wird verwehrt, die B2 zu machen. Manchen wird eine niedrig qualifizierte Arbeit angeboten; einer promovierten Chemikerin beispielsweise wurde empfohlen, Platten zu schweißen. Das ist ein bisschen schade, denn drei Viertel der Geflüchteten aus der Ukraine haben eine Hochschulausbildung.
Was denken sie über den Vorwurf, dass Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland zu wenig nach Arbeit suchen?
Arbeit ist für die Würde eines Menschen enorm wichtig, weil er sich dann gebraucht fühlt. Viele sagen, dass es für sie wie ein Loch, ein Identitätsloch ist, dass sie hier plötzlich niemand sind. Wenn man migriert, ist man niemand mehr. Man war jemand, man war eine Verlagsleiterin, man war ein Wissenschaftler, aber hier ist man plötzlich sprachlos. Durch die Situation wird man der eigenen Kontakte beraubt. Plötzlich ist man nur noch Mutter. Ich glaube, sie würden sehr gerne arbeiten und sich wieder als Mensch fühlen. Nur schieben wir sie in die niedrig bezahlten Jobs. Das ist eine Wiederholung der ungleichen Situation. Bei den Ukrainern gäbe es die Chance, das nicht zu tun. Manche arbeiten ja auch schon. Ich kenne eine Person, die in der Ukraine große Buchfestivals organisiert hat und hier leitet sie schon einen Treffpunkt. Andere arbeiten im Frauenzentrum oder anderswo. Es ist halt schwierig und unser System ist darauf nicht vorbereitet. Wir haben nicht genug Kindergärten. Das ist auch ein Grund: Die Frauen müssen ja ihre Kinder versorgen.
Wie sehen sie die Situation der ukrainischen Kinder, die hier in Deutschland sind?
Viele der ukrainischen Kinder, die flüchten mussten, sind natürlich traumatisiert. Die Schulen sind damit oft überfordert und agieren nicht empathisch genug. Die meisten Menschen sind ja froh, irgendwo zu leben, wo keine Raketen fallen. Sie sind Deutschland sehr dankbar. Unsere Aufgabe als Zivilgesellschaft ist es, ein Korrektiv zu sein. Dass ukrainische Kinder hier sind und überhaupt zur Schule gehen können, ist sehr wichtig. In Berlin sind, soweit ich weiß, insgesamt 1000 geflüchtete Kinder ohne Schulplatz (darunter sehr viele Kinder aus der Ukraine), dazu kommen noch einmal 790 ukrainische Kinder, die unbeschult im Aufnahmezentrum Tegel leben. Manchmal ist es auch schwierig, weil die Kinder ihre traumatischen Erlebnisse in den Schulen verarbeiten und nicht alle Lehrer damit zurecht kommen. Es bräuchte mehr Sozialarbeiter, die mit Traumata umgehen bzw. sich überhaupt auf die ukrainischen Kinder einstellen können. Beispielsweise malte ein Kind im Schulunterricht seinen Vater in Militäruniform. Der Lehrer verbot ihm das. Ein anderes Kind wurde von seinem Lehrer, der aus Russland stammt, angegangen. Die Mutter des Kindes ist taub und kann das Kind nicht verteidigen. In solchen Fällen ist Unterstützung nötig, aber wir haben nicht genug Beratungsstellen.
Und die Lehrer müssten entsprechend weitergebildet werden.
Wir bräuchten Weiterbildung für die Lehrer, wir bräuchten mehr Sozialpädagoginnen, wir bräuchten aber auch mehr Unterstützung für die Zivilgesellschaft statt Kürzungen. Gestern erhielt ich die Nachricht, dass eine Frau aus einem vormals besetzten Gebiet in der Südukraine, der dort ihr Kind geraubt worden ist, nach Berlin gekommen ist – weil sie die Information hat, dass ihr Kind über Russland nach Berlin gekommen sei. Sie sucht ihr Kind und fragt mich, an wen sie sich hier wenden kann. Es gibt hier sehr wenige Menschenrechtsorganisationen, die sich damit befassen. Und es gibt so viele Einzelfälle.
Ein großes Problem stellen Kindesentziehungen durch Jugendämter dar. Deutschlandweit sind das jetzt 240 Fälle. Die Jugendämter sagen, die Mütter könnten sich nicht um ihre Kinder kümmern, weil sie traumatisiert seien. Oder sie bekommen einen Brief auf Deutsch, den sie noch nicht lesen und beantworten können. Das ist so furchtbar. In einem Fall traf es eine Aktivistin, die zweimal geflohen war – erst aus Luhansk und dann aus Charkiw. Sie hat es zum Glück geschafft, einen Rechtsanwalt zu finden, um das Recht auf ihr Kind vor Gericht zu verteidigen, so dass es ihr nicht weggenommen wird. Ich habe mit den Vertretern des Jugendamtes gesprochen und sie gefragt: „Was brauchen sie?“ Sie haben gesagt: „Wir wussten nicht, an wen wir uns wenden können. Wir hatten Probleme mit dieser Mama, wir wussten nicht…“ Es fehlt an Beratungsstellen, an Mediation, und dann kommt es zu Überreaktionen von Jugendämtern und Gerichten.
Welche Erlebnisse bringen die geflüchteten Aktivisten in ihrem Rucksack, in ihrem Gepäck mit? Welche Traumata gibt es, und wie gehen sie damit um?
Mehrere Personen in den Seminargruppen waren zweimal geflohen; einmal 2014, als der russische Krieg in der Ukraine angefangen hat, aus der Ostukraine nach Kyjiw oder Lwiw, und jetzt wieder. Das sind extreme Erlebnisse von Verlust – Verlust der Heimat und von Hab und Gut. Eine Frau, die aus Irpin kommt, hatte dort eine neue Wohnung gekauft. Von ihrem Balkon ist der Park zu sehen, in dem ihre Klassenkameraden begraben sind, die von der russischen Armee umgebracht wurden. Ihre Tochter ist fünf. Sie hat zu mir gesagt, sie gehe nicht zurück bis sie fühle, dass für ihre Tochter Sicherheit herrscht.
Es sind Erfahrungen der existenziellen Bedrohung des Lebens. Es ist die Erfahrung, bedroht zu sein, die eigene Identität zu verlieren - verfolgt zu werden, weil man homosexuell ist.Es ist die Erfahrung des gewaltsamen Todes der nächsten Familienmitglieder oder Freunde, die Erfahrung, dass man unter Beschuss flieht und getötet werden kann. Ich kenne jemanden, der in Tschernihiv im Keller saß, während Tschernihiv russisch okkupiert wurde. Man kann beim Anblick einer Person nicht sehen, was sie erlebt hat.
Was prägt den Alltag der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland?
Das ist unterschiedlich. Ihr Alltag ist ziemlich von der Bürokratie geprägt. Manche sind überrascht, wie viel Papierkram hier herrscht, also was für Briefe von den Behörden so kommen. Sie sind in der Ukraine ein digitales System gewohnt. Es ist ja so: Man kann Deutsch noch nicht so gut, dann kommen Briefe, die man nicht lesen kann, und dann fühlt man sich in den Zustand einer hilflosen Person versetzt.
Ihr Alltag ist aber auch davon geprägt, dass ihnen geholfen wird. Dabei muss man bedenken, dass erwachsene Menschen zu uns kommen. Wir helfen ihnen, was super ist, aber kann man sich dabei noch selbstständig fühlen? Es ist eine ambivalente Erfahrung: einerseits brauchen sie ja Unterstützung, andererseits fühlen sie sich damit natürlich als jemand, der auf dem Nacken eines anderen sitzt, wie jemand sagte.
Ihr Alltag ist auch vom Deutschkurs geprägt. Sie lernen Deutsch, sie versuchen, sich irgendwo zu engagieren, gehen ihren Weg, manche schneller, manche nicht, manche gehen an die Uni, manche gehen zurück.
Wie können sie die Geflüchteten ermutigen?
2021 hatte ich anlässlich des dreißigsten Jahrestages der ukrainischen Unabhängigkeit eine Ausstellung mit Porträts von 30 Ukrainern in Deutschland gemacht. Die habe ich den Seminarteilnehmern gezeigt. Protagonisten sind beispielsweise ein Geschichtsprofessor, ein Techno-DJ, eine Fotografin, eine Abgeordnete, ein Rechtsanwalt, eine Menschenrechtlerin, eine Malerin. Sie verstanden: „Hier gab es Ukrainer vor uns. Diesen Weg sind schon manche vor uns gegangen, und zwar erfolgreich. Wir müssen uns nicht verstecken.“ Am Ende ist wichtig, dass jeder er selbst sein kann.
Was tragen die Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich hier engagieren, zu unserem Gemeinwesen bei?
Wir versuchen gerade mit organisierten Strukturen, zum Gemeinwesen beizutragen. Die Ukrainer bringen Erfahrungen aus einem sehr diversen Land mit – das ist eine Stärke der Ukraine. Sie bringen die Flexibilität mit, in Krisensituationen schnell zu handeln. Und sie bringen eine Erfahrung mit, die hier vielleicht fehlt, nämlich immer wieder die Freiheit verteidigen zu müssen. Das ist eine existenzielle Erfahrung. Und sie stellen Fragen zum Demokratieverständnis in Deutschland.
Wie bewerten sie die deutsche Unterstützung für die Ukraine?
Mein Vater hat mir mal gesagt: „Ich bin sehr stolz auf Deutschland, dass Deutschland uns so viel hilft.“ Er lebt in einem Dorf in der Ukraine. Ich kann diesen Dank hier weiterleiten. Deutschland hilft enorm. Zur Zeit geht es um die Lieferung von Taurus, diesen Marschflugkörper. Wir befinden uns in einer Situation, in der es äußerst wichtig wäre, schnell zu handeln, um den Krieg zu beenden. Wir haben lange gebraucht, bis wir hier in Deutschland so weit waren, dass wir Waffen liefern. Wir kennen alle die Vorgeschichte. Deutschland fehlt diese Erfahrung, das eigene Land gegen eine koloniale Macht verteidigen zu müssen. Das bremst das Ganze. Man hat das Gefühl, man muss darum betteln. Der ukrainische Botschafter wurde sogar einmal als Waffenhändler beschimpft! Einerseits hilft Deutschland so enorm, andererseits hätte man nicht in den ersten Tagen warten sollen, ob die Ukraine fällt oder nicht. Jetzt wird dieser Krieg lange dauern. Wir brauchen mehr Waffen, um uns zu verteidigen. Leider gibt es manche Positionen in Deutschland, die diese Hilfe, die schnell nötig wäre, bremsen. Kinder in Charkiw und Cherson können nicht zur Schule gehen, weil sie ständig beschossen werden. Auch deshalb werden die Langstreckenraketen gebraucht.
Wenn sie drei Wünsche frei hätten, einen für sich, einen für Deutschland und einen für die Ukraine, was wären die Wünsche?
Ich wünsche mir, einen guten Freund wieder zu sehen, den Menschenrechtler Maksym Butkevych, der sich seit Juni 2022 in russischer Kriegsgefangenschaft befindet. Er muss freikommen.
Von Deutschland wünsche ich mir, zu verstehen, wie bereichernd Menschen mit Migrationsgeschichte für dieses Land sind. Ein Drittel der Menschen in Deutschland hat eine Migrationsgeschichte. Deutschland ist mittlerweile unser Zuhause. Wir gehören dazu.
Für die Ukraine wünsche ich mir, dass der Krieg dort aufhört. Und dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt. Dass Menschen in der Ukraine unter einem friedlichen Himmel in Freiheit leben können.
Anmerkungen
[1]Oleksandra Bienert ist in Chernivtsi (Ukraine) geboren und aufgewachsen. Seit 2005 lebt die Forscherin, Fotografin und Menschenrechtsaktivistin in Berlin. Zurzeit schreibt sie ihre Doktorarbeit über weibliche Intellektuelle aus der Ukraine im Berlin der 1920er Jahre, engagiert sich ehrenamtlich als Vorstandsvorsitzende der Allianz Ukrainischer Organisationen e.V. und stärkt hauptamtlich als Trainerin für politische Bildung Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte. Oleksandra Bienert wurde 2022 für ihr langjähriges Engagement im Bereich der deutsch-ukrainischen Beziehungen als erste Ukrainerin mit dem Verdienstorden des Landes Berlin ausgezeichnet.
[2]Uta Gerlant ist freie Osteuropahistorikerin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. sowjetische Dissidenz, NS-Zwangsarbeit und Erinnerungskultur. 2016 bis 2020 war sie Leiterin der Stiftung Gedenkstätte Lindenstraße in Potsdam. Davor arbeitete sie 15 Jahre in der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft. 1993 war sie Mitbegründerin von Memorial Deutschland.