Putins Angst vor den Russen

Wie stark sind die Kriegsgegner in seinem Land?

zu den kriegs-kritischen Stellungnahmen aus Russland 6.3.2022

Manche sehen ihn als den stärksten Mann in Europa. In Wirklichkeit hat Putin Angst ausgerechnet vor denen, für die er den heldenhaften Führer spielen will. Das sind zuerst die Ukrainer, die die Unabhängigkeit und Demokratie als Weg gewählt haben. Unter ihnen viele Russisch-Sprachige, die jetzt in Putins Bombenhagel leben. Da ist aber auch zunehmend das russische Volk. Putin schreitet immer weiter von der Demokratur zur Diktatur. Die neue Strafandrohung für eine ungeschminkte Kriegsberichterstattung, die Sperrung von weiteren Medien, das Vorgehen gegen Memorial und andere zeigt die weitere Aushöhlung ziviler Freiheiten. Wovor hat Putin Angst? Es gibt zumindest Haar-Risse in seiner von ihm gelenkten Gesellschaft:

Das sind die tausenden Antikriegs-Demonstranten, nicht mehr nur in den üblichen Putin-kritischen Hochburgen Petersburg und Moskau. Angesichts der Polizeigewalt und Haftdrohung dürften die Zahlen der grundsätzlich Protestbereiten in Wirklichkeit deutlich höher sein.

Seit Kriegsbeginn gibt es zudem zahlreiche Aufrufe, die zeigen, dass es zumindest in den Kreisen der künstlerischen und wissenschaftlichen Eliten einen Dissens zum Vorgehen Putins gibt. Für diesen Krieg gibt es keine vernünftigen Begründungen. […] Es ist vollkommen klar, dass die Ukraine keine Bedrohung für die Sicherheit unseres Landes darstellt. Der Krieg gegen sie ist ungerechtfertigt und offensichtlich sinnlos,“ heißt es in der bedeutsamsten Wissenschaftlererklärung, die inzwischen über 6000 Personen unterzeichnet haben. Die Zahl der Einzelaufrufe ist inzwischen für ein Land mit eingeschränkten Informationen und Kommunikationsmöglichkeiten überraschend groß. Linkliste...

Brisant, dass Priester und Diakone der orthodoxen Kirche einen Appell mit der Aufforderung, dass „der Bruderkrieg in der Ukraine gestoppt wird“ verfasst haben. Der untere, jüngere Klerus dürfte volksnäher und nicht so verbandelt mit dem System Putins sein, wie das orthodoxe Episkopat. Der Oberhirte des Patriarchats, Kyril I., soll angeblich schon der sowjetischen Geheimpolizei KGB zu Diensten gewesen sein. Allerdings war er damals gegen den Afghanistan-Krieg. Unter Putin stellte er sich bislang in den Dienst von dessen Neo-Nationalismus.

Auch aus der in Russland immer noch relevanten kommunistischen Partei soll es Kritik an Putins Krieg geben.

Unklar ist, ob das wirtschaftliche Risiko und die Sanktionen, die der Krieg mit sich bringen, Oligarchen zum Umdenken bringt. Der Konzern Lukoil und einer der reichsten Privatleute, Oleg Deripaska, plädierte kürzlich für sofortigen Frieden, was aber auch eine Kreml-Finte und eine verkappte Kapitulationsaufforderung an die Ukrainische Regierung sein könnte. Ebenso uneindeutig das Verhaltens von Roman Abramowitsch. Dessen Geste, Gelder aus dem Verkauf seiner britischen Fußballanteile zugunsten von Opfern in der Ukraine zu spenden, mag ein kritischer Fingerzeig oder bloß der Versuch sein, sein Image aufzubessern, um Sanktionen zu entgehen.

Elektrisierend waren Meldungen, wonach der Ukrainische Präsident Selenskyi vor Attentaten von Killerkommandos bewahrt werden konnte, weil es Warnungen aus kremlkritischen Geheimdienstkreisen in Moskau gegeben habe. Verifizierbar sind derartige Meldungen nicht, sie können auch Teil einer psychologischen Kriegsführung sein. Bislang gelten Militär und Geheimdienste als Putins wichtigste Stützen.

Vergessen werden drürfen auch nicht die 100.000e Russen im Ausland, die die Möglichkeiten haben, sich breit gefächerter zu informieren und mit Verwandten und Bekannten in Russland kommunizieren. 

Dass es einen Dissens in der russischen Gesellschaft gibt, ist offenkundig, wie tief er wirklich ist, ist schwer zu ermessen. Eine kriegskritische online-Petition, die sich angeblich nur aus russischen Bürgern speist, soll schon 1,3 Millionen Unterstützer haben, das wären fast 1%, die ein mehr oder minder offenes Bekenntnis abgelegt hätten. Eine Umfrage des als relativ unabhängig geltenden russischen Levada-Umfrageinstitutes, ermittelte zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns, dass rund 30% der Bevölkerung Putins Kurs gegenüber skeptisch sind. Angesichts der massiven Mediensteuerung durch die Regierung schon damals, wäre es eine ernst zu nehmende Größe.

Das heißt nicht, dass das System Putin wankt. Aber Putin, der der Anführer aller Russen sein will, hat durchaus Grund Angst zu haben.

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